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- "Schulautonomie" als Perspektive? - Zu den gesellschaftlichen Voraussetzungen und zu den Konzepten der gegenwärtigen Diskussion über die Reorganisation der Schulen und ihre Auswirkung auf den Beruf des Lehrers
Soziologie
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Verlag:
Diplomica Verlag
Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH
Hermannstal 119 k, D-22119 Hamburg
E-Mail: info@diplomica.de
Erscheinungsdatum: 11.2011
AuflagenNr.: 1
Seiten: 136
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback
Das Thema dieses Buches ist von unverkennbar hoher Aktualität und gesellschaftlicher Relevanz: die Frage nach den Konzepten über die Reform der Schule in der gegenwärtigen Diskussion, den Motiven, die sie beeinflussen und den Entwicklungen, die mit ihnen verbunden sein können. Es geht um die Frage nach angemessenen Formen der inneren und äußeren Verfassung der Schulen, um die Herausforderungen zu bewältigen, die sich aus den gesellschaftlichen Veränderungen ergeben. Durch den Druck, der mit den internationalen Vergleichsstudien über die Leistungsfähigkeit von Schulen (TIMSS) auch auf das deutsche Bildungswesen ausgeübt wird, zeichnet sich eine Veränderung in der strategischen Ausrichtung der Schulreform ab: Nicht mehr zentralistische Konzepte, sondern dezentrale Schritte zur Systemsteuerung durch Profilbildung und Wettbewerb erhalten zunehmend Bedeutung. Insofern bekommt vor allem die Frage nach den Konzepten einer stärkeren Dezentralisierung der Schule, ihren Rahmenbedingungen, Chancen, expliziten und impliziten Gefahren eine besondere Relevanz. Konkretisiert werden diese Fragestellungen am Beispiel der niedersächsischen Schulentwicklungskonzepte - insbesondere an den geplanten Schulentwicklungsprogrammen. Nach Begriffsbestimmungen und der Darstellung der historischen Entwicklung der Zentralisierung von Schule und Schulverwaltung wird die seit Beginn der 90er Jahre von Seiten der Schulpolitik geführte Diskussion über Schulautonomie kurz charakterisiert. Dabei kristallisieren sich zwei zentrale Argumentationsstränge heraus, auf die jeweils genauer eingegangen wird: der pädagogische und demokratietheoretische einerseits, der ökonomisch-managementtheoretische andererseits. Aus den neuen Anforderungen an die Schule, die aus der Veränderung von Kindheit, Jugend und Familie sowie denen der Arbeitswelt resultieren, wird das Konzept einer - verlässlichen, ganztägigen - Schule entwickelt, die reflektiert sozialpädagogische Aufgaben übernimmt. Dem gegenüber steht der Strang der aus der Finanzknappheit der öffentlichen Hand resultierenden Konzepte einer veränderten Finanzierung des Schulwesens. Beide Diskussionen werden unter der Frage nach dem Wandel der Organisationsstruktur im Schulwesen zusammengeführt. Dabei wird das Konzept erweiterte Schulautonomie in seinen verschiedenen Dimensionen und Realisierungsschritten genauer untersucht und im Verhältnis zur Administration thematisiert. Begleitend erfolgt auch eine ausführliche Darstellung und Bewertung der Schulprogrammentwicklungskonzepte in Niedersachsen. Außerdem wird der Frage nach den Auswirkungen der neuen Entwicklung auf die Lehrer nachgegangen.
Textprobe: Kapitel 4.4.3., Ganzheitliche Erziehung und Unterricht in der Schule: Nicht nur durch den sogenannten Funktionsverlust der Familie scheint sich in der Vergangenheit ein gesellschaftliches Erziehungsdefizit ergeben zu haben, sondern auch durch die übermäßige kognitive Orientierung der Schule. So hat ‘die allgemeine Wissenschaftsorientierung des Unterrichts die Entwurzelung aus traditionellen Milieus und die Pluralisierung von Wertüberzeugungen’ mit bewirkt. Nach wie vor beruht das schulische Curriculum auf dem Prinzip der Kanonisierung des Wissen, d. h. auf der Vorstellung, daß es eine begrenzbare Menge von Informationen gibt, deren Vermittlung und Sicherung für die Bewältigung der Lebensaufgaben erforderlich und ausreichend ist. Dieser Ansatz der Kanonisierung des Wissens tritt aber immer mehr in den Hintergrund, weil die Schule den Kampf mit der Expansion des Wissens bereits verloren hat. ‘Wir wissen von immer mehr immer weniger’, lautet ein bekannter Slogan. Die Technologisierung des Wissens durch die Informationstechnologie eröffnet nun die Chance, die Wissensvermittlung zugunsten der Fähigkeitsentwicklung zurückzudrängen. Die Fähigkeitsentwicklung ist nicht auf die Produktion bestimmter benennbarer Qualifikationen gerichtet, sondern nimmt den ganzen Menschen wieder in den Blick – mit seiner Herkunft, Biographie, seinen Zielen und Gefühlen, seinen Stärken und Schwächen. Aus dieser Perspektive besinnt sich die Schule wieder auf ihre Erziehungsaufgabe und reagiert damit auf den Wandel von Lebens- und Lernverhältnissen: ‘Wenn der Abstand zwischen Schule und außerschulischer Kultur zu groß wird, kann die Schule nicht mehr einfach eine vertiefende Fortsetzung der außerschulischen Bildungswelt sein, weil sich der Fundus des Selbstverständlichen, das in der Schule erweitert, vertieft, bewußter werden soll, immer mehr auflöst. Die Schule wird dann mehr und mehr als eine ausgegrenzte, lebensferne, unzeitgemässe Eigenwelt, als ein System erlebt, das mit den Herkunftswelten ihrer Schüler und Lehrer immer weniger zu tun hat und von dieser Herkunftswelt immer weniger erwarten darf ‘. Die Unterschiede zwischen Schule und Gesellschaft werden insbesondere durch die außerschulischen ‘Freizeitmächte’ offenkundig, die für die Lebensverhältnisse der Kinder und Jugendlichen sehr bestimmend sind. Charakteristisch für die außerschulische Zeit der Heranwachsenden ist die Zersplitterung der ‘Freizeit’ in Familie und Freundschaft, Konsum- und Medienwelt und Beziehungsmarkt. Um eine entsprechende Nähe zwischen Schule und außerschulischem Freizeitbereich wiederherzustellen, wäre ein Erziehungsideal vonnöten, daß die ganzheitliche Erziehung der SchülerInnen - wie im oben angesprochenen Sinne - in Betracht zieht. In dieses Bild der Wiederkehr reformerischer Pädagogik paßt auch das Interesse, das aus dem Beschäftigungssystem heraus formuliert wird. Die Personalchefs der Unternehmen fragen zunehmend, wie es bereits in der Analyse der arbeitsweltlichen Strukturen zum Ausdruck kommt , nach Motivation, Kooperation und Persönlichkeitsbildung und nicht mehr nur nach Qualifikationen, wie es früher üblich war. Auch wenn die Erziehungsfunktion künftig bedeutsamer wird, so bleibt die Schule aus meiner Sicht dennoch für den Unterricht erhalten. Vermutlich eignet sich die Sozialform des Unterrichts auch am besten für die Vermittlungsfunktion, z. B. in den Sprach- und Sachfächern, obwohl auch hier andere Spezialformen erprobt und genutzt werden, z. B. Labor und Konversation, Experiment und Entdeckung. Die Schule der Zukunft wird die Aufgabe haben, Kinder und Jugendliche in die Organisation der technischen Kommunikation einzuführen und die entsprechende Infrastruktur zu organisieren. Daneben bleibt der Schule aber die wichtige Aufgabe, ein Ort des Übens und Wiederholens zu sein, der Sicherung und Anwendung des erworbenen Wissens und der erworbenen Fähigkeiten. Die Schule bleibt ein zentraler Lebens- und Erfahrungsraum, in dem soziale Kompetenzen im Umgang von Kindern und Erwachsenen und insbesondere auch unter den Kindern außerhalb der Familie erstmals dauerhaft erfahren und erworben werden können. Die Unterrichtsschule wird also nicht verschwinden, sondern durch informationstechnologische, repetitive und soziale Aufgaben ergänzt. Als entgegengesetzte Entwicklung zur ‘Ganzheitlichkeit’ scheint das ‘Leistungsprinzip’ in den Schulen nach wie vor vorherrschend zu sein. Das ‘Leistungsprinzip’ bestimmt fast unangefochten die durch die Schule vermittelten Verteilungsaufgaben in der Gesellschaft. Der schulische Erfolg entscheidet weitgehend über den Zugang zum und die Verteilung innerhalb des Systems beruflicher Karrieren. Gerade im Zusammenhang mit der Debatte über die TIMS-Studie werden zur Zeit Leistungsstandards mathematischer Art diskutiert. In einigen Bundesländern verlagert sich nun die Aufmerksamkeit auf die Durchführung von landesinternen Mathematik-Leistungstests (z. B. in Bremen), um Vergleiche im nationalen und internationalen Maßstab herstellen zu können. ‘Ganzheitliche Reformüberlegungen’ stehen augenblicklich nicht mehr so sehr im Zentrum des bildungspolitischen Interesses. In diesem Zusammenhang drängt sich der Verdacht auf, daß sich im Zuge einer verstärkten Verantwortungswahrnehmung in der Schule Standardisierungen wie z. B. Leistungstests zunehmend mehr Gewicht erlangen. Diese Erscheinung würde folglich zu einer erhöhten Selektivität im Bildungswesen führen. Auch wenn die ‘ganzheitliche Perspektive’ der Leistungsbewertung augenblicklich durch die Einflüsse einer ‘verengten Leistungsauffassung’ (ergebnisorientiertes Lernen) eingeschränkt wird, wird es in Zukunft wichtig sein, in Hinblick auf einen ‘erweiterten Lernbegriff’ Modelle über veränderte Leistungsmaßstäbe zu entwickeln. Sollen absolute oder relative, generelle oder individuelle Leistungsmaßstäbe gelten? Das zur Zeit allgemein akzeptierte Leistungsprinzip wird umso fragwürdiger, je mehr ‘ganzheitliche Lerninhalte’ vermittelt werden. 4.4.4, Schulöffnung und die autonome Konzeption der Einzelschulen : Die Wahrnehmung einer ‘ganzheitlichen Erziehung’ läßt sich aus meiner Sicht am ehesten in einer Schule verwirklichen, die sich als gemeinwesenorientierte bzw. Nachbarschaftsschule versteht. Die gemeinwesenorientierte Schule ist mit anderen pädagogischen Institutionen (Volkshochschulen, Jugendzentren etc.) vernetzt und eröffnet als Kristallisationspunkt soziokultureller Arbeit im Stadtteil oder in der Gemeinde Chancen für generationsübergreifendes, multikulturelles und ökologisches Lernen. Eine Öffnung der Schule zur näheren Umgebung setzt demnach voraus, daß die Schule ihre traditionelle Konzentration auf einem bestimmten Raum und bestimmte Zeiten, auf bestimmte Personen und bestimmte kanonische Inhalte aufgibt und eine organisatorische Veränderung im Sinne einer autonomeren Einzelschule verfolgt. Die selbständigere Einzelschule könnte dann zu einer Verbesserung der Partizipationsmöglichkeiten von LehrerInnen, Eltern und SchülerInnen beitragen, wie sie vom Deutschen Bildungsrat (1973) bereits Anfang der 70er Jahre formuliert wurden. 4.4.5, Zwischenfazit : Die veränderte Kindheit/Jugend und Arbeitswelt werden aus meiner Sicht künftig eine veränderte Schule bewirken, und zwar in zweierlei Hinsicht: im Ansatz einer ganzheitlichen Erziehung in der Schule und in einem neuen Verständnis von Bildung als sozialer Arbeit. Die gemeinwesenorientierte Öffnung der Schule scheint sich demgegenüber parallel zu vollziehen. Nur eine offene Schule, die Ansätze erfahrungsorientierten Lernens, einer partizipativen Schul- und Unterrichtskultur und sozialpädagogischen Beratungs- und Betreuungsaufgaben verbindet, kann den Herausforderungen, die sich aus der skizzierten Individualisierung der kindlichen und jugendlichen Lebensläufe und der veränderten Arbeitswelt ergeben, gerecht werden. Das Konzept der Öffnung der Schulen und das Modell des erfahrungsorientierten Lernens bergen sicherlich die Gefahr, daß die inner- und außerschulische Lebenswelt noch mehr pädagogisiert wird und die Bearbeitung von Schulproblemen und die Durchführung von Unterricht noch näher an die Subjektivität der SchülerInnen heranrückt. Einen Weg, der die institutionelle Pädagogisierung eingrenzt, sehe ich vor allem darin, die Eltern im Rahmen einer verstärkten Partizipation schulintern oder in außerschulischen Einrichtungen mitwirken zulassen, indem sie beispielsweise wie in Elternselbsthilfegruppen eigenverantwortlich Erziehungshilfen leisten. Um der Vermengung von ‘vorgängigen’ sozialpädagogischen und unterrichtlichen Aufgaben entgegenzuwirken, ist es außerdem notwendig, angesichts der unterschiedlichen Professionalisierungen der Lehrer und Sozialarbeiter entsprechende Kompetenzverteilungen vorzunehmen, allein deswegen, um eine gewisse Berufszufriedenheit bei der Lehrerschaft wieder herzustellen. Für die zukünftige Schulentwicklung im Zeitalter der reflexiven Modernisierung wird es meines Erachtens notwendig sein, daß sich die Schule zur ‘Community’ öffnet und sich durch die Ingangsetzung erfahrungsorientierter Lernprozesse sowie durch die Förderung solidarisch-kooperativen Lernens verbessert. Unterstützend für solche Prozesse ist die vermehrte Autonomie der Schulen. Schulische Autonomie darf aber nicht dazu führen, mittels spezifischer Schulprogramme ‘problematische SchülerInnen’ auszugrenzen oder ‘sozial priviligierte SchülerInnen’ zu bevorzugen. Infolgedessen würde eine ‘Getthoisierung’ in der Schullandschaft einsetzen, die demokratischen und sozial- bzw. bildungspolitischen Zielvorstellungen widerspricht. Fraglich ist es zudem, ob mit der zunehmenden Deregulierung (verstärkten Autonomie der Schule) auch eine Zunahme von standardisierten, landesweiten Leistungstests einhergeht. Wenn dies der Fall sein sollte, würde eine verstärkte Selektivität im Bildungssystem einsetzen und damit die Bildungschancen vieler Jugendlicher beeinträchtigen.
Gerd Reinken, Lehrer und Diplom-Soziologe, wurde 1957 in Oldenburg geboren. Nach seinen anfänglichen beruflichen Tätigkeiten im kommunalen Verwaltungsdienst und im Bereich der Erwachsenenbildung absolvierte er an der Universität Oldenburg zum einen ein Lehramtsstudium für den Grund- und Hauptschulbereich, zum anderen ein sozialwissenschaftliches Studium mit dem Schwerpunkt der Bildungs- und Industriesoziologie. Während seiner langjährigen Unterrichtspraxis in den Bundesländern Rheinland-Pfalz und Niedersachsen entwickelte der Autor - hervorgerufen durch die vielfältigen schulischen Reformvorhaben und ihre Auswirkungen auf den Beruf der Lehrerinnen und Lehrer - ein besonderes Interesse für die innere und äußere Schulverfassung.
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