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Soziologie

Maria Kolberg

Polyamorie in Wilhelm Genazinos „Die Liebesblödigkeit“

ISBN: 978-3-95934-750-1

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Produktart: Buch
Verlag:
Diplomica Verlag
Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH
Hermannstal 119 k, D-22119 Hamburg
E-Mail: info@diplomica.de
Erscheinungsdatum: 08.2015
AuflagenNr.: 1
Seiten: 72
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback

Inhalt

Wilhelm Genazinos 52-jähriger Protagonist in seinem 2005 erschienenen Roman Die Liebesblödigkeit lebt mit Sandra und Judith in einer polyamorösen Beziehung. Seine mononormativ geprägten Moralvorstellungen lassen ihn jedoch nach dem Idealbild einer monogamen Zweierbeziehung streben. Die Frage, für welche der beiden Frauen er sich entscheiden soll, stürzt den Helden in ein heilloses Durcheinander der Liebesblödigkeit. Er droht an den Qualen fast zu zerbrechen, bis er schließlich erkennt, dass er keine der beiden Frauen verlassen muss, um glücklich zu sein. Diese Studie untersucht, wie das Liebeskonzept der Polyamorie in Genazinos Werk beschrieben wird. Dafür werden die gesellschaftlichen Veränderungen von Monogamie hin zu Polyamorie nachvollzogen und mithin ein Überblick über die Entwicklung der Mononormativität in vormoderner Zeit, das Ideal der romantischen Liebe sowie die Herausbildung des autonomen Individuums gegeben. Darüber hinaus werden das polyamoröse Beziehungskonzept, die Werte und Beziehungsformen vorgestellt. Es wird zudem besprochen, inwiefern sich traditionelle Liebesentwürfe noch mit den Bedürfnissen des modernen ausdifferenzierten Individuums vereinen lassen.

Leseprobe

Textprobe: Kapitel 2.2.3, Das Ideal der romantischen Liebe: Julius liebt Lucinde. Er liebt einzig und allein Lucinde. Genauso liebt Werther nur Lotte. Die beiden Paare verbindet der romantische Liebescode, welcher im 18. Jahrhundert zuerst in die literarische und später auch in die gesellschaftliche Realität Einzug hält. Bevor die romantische Liebe in Deutschland zum kulturellen Ideal wird, prägt längst der bürgerliche Roman in England dieses Liebesmuster, allen voran die Werke von Samuel Richardson. Inspiriert durch Richardsons Arbeiten erfährt die romantische Liebe, als neues Leitbild des menschlichen Miteinanders, zuerst mit Goethes ‘Werther’ und später mit den Freidenkern der deutschen Romantik volle Entfaltung. So entwickeln die Wegbereiter der deutschen Romantik, wie zum Beispiel Friedrich Schlegel, Friedrich von Schleiermacher, Novalis und das Ehepaar von Armin, im ausgehenden 18. Jahrhundert eine neue Vorstellung von Liebe, die über die literarischen Grenzen hinweg die Idee von leidenschaftlicher Liebe bis heute beeinflusst. Es ist der Verlust der traditionellen Werte, wie Familie und soziale Sicherheit, die zuvor durch Heirat erlangt worden sind, die eine Beschäftigung mit den Formen zwischenmenschlicher Beziehungen überhaupt erst zulassen. Die jungen Romantiker sprechen sich gegen die zweckorientierten Werte der bürgerlichen Ehe aus und verbreiten in ihren Romanen erste Vorstellungen gleichberechtigter Liebe zwischen Mann und Frau. Nun wird also, nachdem Jahrhunderte lang andere Faktoren, wie die soziale Absicherung und Erbschaftsangelegenheiten elementare Bestandteile der Ehe waren, die leidenschaftliche Liebe zum auslösenden Moment der Partnerwahl. Erst die romantische Liebe zwängt die leidenschaftliche Liebe, die sogenannte amour passion, in jene konzeptuellen Schranken und macht aus ihr ‘ein besonderes Geflecht von Glaubenssätzen und Idealen im Streben nach Transzendenz.’ Die romantische Liebe löst die institutionell begründete Liebe der Vormoderne ab, die auf Stand, Vertrag und Kirche fußt. Das Ideal der romantischen Liebe wird von der Vorstellung getragen, dass jeder Mensch seine andere Hälfte finden kann. Diese Auffassung, die sich tief in unser kollektives Gedächtnis eingebrannt hat, geht schon auf Platons Vorstellung von den Kugelmenschen zurück. In seinem berühmten Werk ‘Symposion’ berichtet Aristophanes von den ursprünglichen Menschen, die jeweils vier Arme und Beine, aber nur einen Kopf mit zwei Gesichtern hatten. Dem Mythos zufolge sind diese unter göttlicher Strafe entzweit worden, um fortan als zwei Hälften zu leben. Unter dieser Unvollständigkeit leidet der Mensch noch heute und ist stets bemüht, sein komplettierendes Gegenüber zu finden und sich mit diesem vereinen zu können. Das Gefühl der Liebe wird zur größten und wichtigsten menschlichen Empfindung, erhält gar religiöse Züge. Es vereinnahmt die Verliebten gänzlich und ‘entwertet die Umweltbezüge.’ Im romantischen Liebescode vereinen sich zwei einzigartige Individuen, die ihrer gottgegebenen Unvollständigkeit entrinnen können, indem sie den Partner oder die Partnerin in seiner oder ihrer eigenen Individualität wertschätzen. Zudem speist sich die Beziehung aus der Einzigartigkeit ihrer Teilhaber und wird gerade dadurch zu etwas einmalig Ganzem. Eine solche Liebessemantik wird überhaupt erst möglich durch den ‘Individualisierungsschub’, der sich durch die bürgerliche Gesellschaft zieht. Es erfordert ein hohes Maß an Individualität und differenzierter Subjektivität, Liebe als soziales Phänomen so frei von gesellschaftlichen Zwängen und Vorgaben zu denken. ‘Dadurch, dass die romantische Liebe diese Einzigartigkeit allen Mitgliedern der Gesellschaft verspricht, wird sie auch ein Teil der Durchsetzung moderner Individualität.’ Stephanie Bethmann bezeichnet dementsprechend romantische Liebe als ‘eine Liebe zwischen Individuen [...]. [S]ie bietet ihnen eine Arena, Individualität zu entfalten und zu zelebrieren’. Romantische Liebe funktioniert darüber hinaus in Abhängigkeit von projektiver Identifikation. Die Liebenden projizieren das vervollkommnende Element in den jeweiligen Partner beziehungsweise die jeweilige Partnerin und binden sich auf Grundlage dessen für ein Leben lang aneinander. Sie lieben einander genau für das, was sie sind und wie sie sind. Es sind nicht die einzelnen Merkmale, die geschätzt werden, sondern die Geliebte oder der Geliebte als Ganzes. Der Idee der romantischen Liebe zufolge ist der/die PartnerIn die andere Hälfte des/der Liebenden, teilt mit ihm oder ihr alle Eigenschaften und Vorlieben. Zerbricht eine Liebe, so wird die Begründung darin gefunden, dass der oder die Geschiedene nicht das perfekte Gegenüber, den Seelenverwandten darstellt. ‘Der Grund der Liebe kann nur in der Liebe selbst liegen.’ Dies bedeutet auch, dass sich beide Personen für den jeweils anderen nicht verändern müssen, um geliebt zu werden. Die soziologische Wissenschaft versteht unter dem Begriff Liebe jedoch häufig nicht nur, wie das Alltagsverständnis annehmen lässt, das zwischenmenschliche Gefühl beziehungsweise Kulturmuster , sondern vor allem eine Bezeichnung für ‘die Anfänge einer Zweierbeziehung’. Dementsprechend zentralisiert die Liebesauffassung der deutschen Romantik erstmals das dyadische Paar. Jene Liebe bezieht sich eben nur auf einen einzigen Partner sie ist ‘gegenseitig und exklusiv, weltabgewandt und hermetisch.’ Das romantische Liebespaar distanziert sich zudem von der Außenwelt und nur der jeweilige Partner kann dem Individuum dabei helfen, den ‘Weltbezug’ wieder zu erlangen. Hans-Edwin Friedrich bezeichnet ‘Liebe um 1800 ?zusammenfassend als? ein Medium zur Reflexion und Thematisierung der Exklusionsindividualität als Folge der gesellschaftlichen Umstellung von Stratifikation auf Funktion’. Der romantische Liebescode postuliert Dauerhaftigkeit und Aufrichtigkeit als leitende Zielvorstellungen. Die Liebenden gehen das Versprechen ein, dem Partner oder der Partnerin ewig treu zu sein. Ein weiteres Merkmal der Liebe um 1900 stellt die Gegenseitigkeit der Liebe dar. Erst, wenn der oder die Geliebte die Zuneigung erwidert, wird aus der Liebe die eigentliche, vollkommene Liebe. Demzufolge werden PartnerInnen nicht mehr nur einseitig verehrt, wie zum Beispiel das höfische Liebesideal im Mittelalter vorsieht, Liebende finden in der Liebe nun ihr beiderseitiges Glück. Während die vorangegangenen Liebeskonzepte Geschlechtsverkehr vor allem außerhalb der Ehe und der Liebe verorten und dieser hauptsächlich der Triebbefriedigung gedient hat, verbindet die romantische Liebe erstmalig Sexualität und Zuneigung. Ein Liebesleben ohne Zärtlichkeiten wäre aus unserem heutigen kulturellen Verständnis von Liebe kaum vorstellbar. Neben dem Einbezug der Sexualität in die Liebessemantik, kommt es mit der romantischen Liebe erstmalig auch zur Einheit zwischen Liebe und Ehe. Doch auch dieses semantische Wortpaar gehört, genauso wie Sexualität und Liebe, erst seit der ‘Erfindung’ der romantischen Liebe zusammen. So bestimmt Schlegel in einem Fragment zur ‘Lucinde’: ‘Liebe und Ehe sind verschieden, aber vollendete Liebe geht in Ehe über, und so umgekehrt.’ Er postuliert damit die Einheit von Liebe und Ehe und, dass sich Liebe erst in der Ehe vollständig erschöpft. Verliebtheit soll sich in ruhige, gleichmäßige Neigung wandeln, die ein Leben lang hält wie das Band der Ehe. Deswegen muss, bei aller Verliebtheit, die Wahl der Gattin bedachtsam erfolgen. Luhmann versteht den Übergang von Liebe zur Ehe als ‘das institutionalisierte Verständnis für schwärmerische Leidenschaft.’ Die Vorstellung von der erfüllenden Liebesheirat kulminiert darüber hinaus in Elternschaft als idealisiertes Eheglück. Die Beziehung zwischen Eltern und Kind wird erstmalig emotional aufgewertet und erhält eine gefühlsintensive Bedeutung in der Gesellschaft. Dennoch ist, auch wenn die romantische Liebe erstmalig Gleichheit zwischen den Beziehungspartnern fordert, die Machtverteilung asymmetrisch. Die romantische Liebe hat aufgrund dessen, dass eine solche Beziehung aus Liebe hervorgeht und nicht von äußeren Einflüssen geschlossen wird, noch lange Zeit den Anschein erweckt, symmetrisch zu sein. Dass sie jedoch eine zusätzliche Kluft zwischen den Beziehungspartnern schafft, zeigt die häusliche Unterwerfung der Frau, die mit dem Wunsch nach romantischer Liebe einhergeht. Giddens betont hingegen, dass aufgrund dessen, dass Gefühle im weiblichen Verantwortungsbereich gesehen werden, die Liebe generell feminisiert wird. Frauen würden, so Giddens, davon zudem profitieren. Die ‘feminisierte Liebe’ verschafft, laut Giddens, den Frauen zu dieser Zeit, obwohl sie ebenso Ausdruck der unterdrückten Weiblichkeit ist, einen Autonomiefortschritt. Sie hätten schneller als ihr männliches Pendant die Herstellung von Intimität erworben. Dies ermögliche ihnen einen Modernisierungsvorsprung im Wandel der Intimität.

Über den Autor

Maria Kolberg, 1987 in Berlin geboren, studierte an der Universität Mannheim, der Humboldt-Universität zu Berlin sowie der University of Nottingham in Großbritannien Deutsch und Englisch und schloss ihr Studium 2014 erfolgreich mit dem Master of Education ab. Vielfältig literarisch interessiert, konzentrierte sie sich während ihres Studiums vor allem auf die Literatur der Gegenwart. Inspiriert durch einen Salonabend der Universität der Künste in Berlin zum Thema Postmoderne Liebe erkennt die Autorin die Relevanz der Polyamorie-Diskussion und widmet sich in diesem Buch der Thematik in der Literatur. Zur Zeit absolviert sie in Berlin ihr Referendariat.

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