- Sie befinden sich:
- Fachbücher
- »
- Politik & Gesellschaft - Unsere Neuheiten
- »
- Soziologie
- »
- Neurodidaktik und Waldorfpädagogik: Gemeinsamkeiten und Differenzen am Beispiel der Freien Waldorfschule Kreuzberg
Soziologie
» Blick ins Buch
» weitere Bücher zum Thema
» Buch empfehlen
» Buch bewerten Produktart: Buch
Verlag:
Diplomica Verlag
Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH
Hermannstal 119 k, D-22119 Hamburg
E-Mail: info@diplomica.de
Erscheinungsdatum: 06.2013
AuflagenNr.: 1
Seiten: 92
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback
Unter dem Stichwort ‘Neurodidaktik’ gibt es eine spannende Rezeption neurowissenschaftlicher Erkenntnisse zum Lehren und Lernen in der akademischen Erziehungswissenschaft. Das Wissen darüber, wie Lernen im Gehirn funktioniert, ermöglicht Lehrern laut dem Pädagogikprofessor Heinz Schirp ‘Lernprozesse so zu gestalten, dass sie einigermaßen ‘gehirnfreundlich’ sind’. Ausgehend von dieser Prämisse unterzieht Klaus Peter Schmidt die Praxis an Waldorfschulen einer neurodidaktischen Prüfung. Da die Waldorfpädagogik ihre didaktischen Prinzipien aus der unwissenschaftlichen, esoterischen Anthroposophie Rudolf Steiners ableitet, wird sie in der Öffentlichkeit häufig belächelt und in der akademischen Erziehungswissenschaft tendenziell geringschätzig behandelt. Am Beispiel der Freien Waldorfschule Kreuzberg zeigt Schmidt in seiner Untersuchung auf, dass die Praxis an Waldorfschulen trotz ihrer kruden theoretischen Basis zahlreiche Parallelen und Affinitäten zu neurodidaktischen Ansätzen aufweist. Obwohl sie auch wesentliche Merkmale beinhaltet, die eindeutig nicht im Sinne einer ‘gehirnfreundlichen’ Pädagogik sind, könnte das öffentliche Schulsystem Einiges von den Waldorfschulen lernen. Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit dieser Thematik.
Kapitel 4.1, Gehirnfreundliches Lernen an der Freien Waldorfschule Kreuzberg?: 4.1.1, Gehirngerechter Unterricht nach ‘Entwicklungsstufen’?: Wie an jeder Waldorfschule ergeben sich die Unterrichtsprinzipien, -methoden und -inhalte auch an der FWSK ‘aus der inneren Entwicklung des Menschen’ (Barth 2008, S.23). So steht im offiziellen Schulflyer der FWSK in der stichpunktartigen Beschreibung der Pädagogik an oberster Stelle, dass sich der Waldorflehrplan ‘ an den Entwicklungsstufen der Kinder orientiert’ (Anlage 2, S.94). Die hier formulierte und in der Reformpädagogik weit verbreitete Konzeption einer ‘Pädagogik vom Kinde aus’ ist geradezu der Grundgedanke der Neurodidaktik, die im Prinzip eine ‘Pädagogik vom Gehirn des Kindes aus’ postuliert. Jeglicher gehirngerechter Unterricht muss den Entwicklungsstand der Schüler berücksichtigen, da Wissen nicht einfach transferiert werden kann, sondern individuell konstruiert werden muss. Dies geht aber nur wenn das Wissen anschlussfähig ist. Wie in Kapitel 2.1.1. beschrieben, kann Lernen nur funktionieren, wenn an Vorwissen angeknüpft werden kann. Insofern müssen die Schüler immer in ihrer Lebenswelt abgeholt werden. Ein weiteres neurodidaktisches Argument für einen Unterricht, der sich an der Entwicklung des Kindes orientiert, lässt sich aus der Periodizitätsforschung ableiten (vgl. Kapitel 2.1.2.). Demnach gibt es lernsensible Phasen in der Entwicklung wie z.B. beim Spracherwerb. Wenn in einer bestimmten Altersphase bestimmte sprachliche Muster nicht etabliert sind, wird es schwierig, solche Gehirnstrukturen aufzubauen. Somit muss eine gehirngerechte Pädagogik solche Zeitfenster berücksichtigen und dafür sorgen, dass das Rechte zur rechten Zeit angeboten wird. ‘Es ist nutzlos oder womöglich kontraproduktiv, Inhalte anzubieten, die nicht adäquat verarbeitet werden können, weil die entsprechenden Entwicklungsfenster nicht offen sind’ (Singer 2001, S.10). Die an Waldorfschulen praktizierte entwicklungsgemäße Pädagogik scheint auf den ersten Blick also im Sinne neurodidaktischer Überlegungen zu sein. Betrachtet man aber genauer, was die Waldorfpädagogik mit ‘Entwicklungsstufen’ meint, so erweist sich diese Schlussfolgerung als Trugschluss. Die ‘Entwicklungsstufen’ basieren nämlich weder auf neurobiologischen Erkenntnissen über die Gehirnentwicklung, noch auf gängigen psychologischen Entwicklungsmodellen, wie sie beispielsweise von Piaget oder Wygotski entwickelt wurden. Die Waldorfpädagogik orientiert sich stattdessen ausschließlich an Rudolf Steiners Annahmen zur Entwicklung des Menschen (vgl. Kapitel 3.1.1.). Diese hat er aber nicht auf wissenschaftlichem Weg erlangt, sondern durch einen Erkenntnisweg in ‘höhere Welten’, wie z.B. einer nur geistig wahrnehmbaren Schrift namens Akasha-Chronik. Abgesehen davon, dass die Existenz einer ‘höheren Welt übersinnlich-geistiger Tatsachen’ (Ullrich 2012b, S.187) wissenschaftlich nicht belegbar ist, steht die von Steiner behauptete Möglichkeit eines Einblicks in eine übersinnliche Welt durch ‘die Schulung seiner geistigen Erkenntnisorgane’ (ebd.) in fundamentalem Gegensatz zu den Erkenntnissen der Neurowissenschaften. Demnach haben wir keinen anderen Zugang zur Welt als durch unsere neuronalen Strukturen und können diese daher nur so wahrnehmen, wie unsere Sinne es uns ermöglichen. Daher folgert beispielsweise der Hirnforscher Gerhard Roth, dass eine bewusstseinsunabhängige Welt nicht erfahrbar ist (vgl. Roth 2011, S.268). Da Steiner schon mit dem Hinweis auf seine Wissensquellen den Verzicht auf Wissenschaftlichkeit und Vernunft offenbart, wundert es nicht, dass seine Menschenkunde arational ist. Die Behauptung, der Mensch bestehe aus vier verschiedenen Leibern, die in Siebenjahresrhythmen geboren werden, entbehrt jeglicher Vernunft und kann aus wissenschaftlicher Perspektive nur als absurd bezeichnet werden. Dies gilt gleichermaßen für die Eigenschaften und Fähigkeiten, die den Leibern zugeschrieben werden. Insofern ist es höchst problematisch, dass Steiners Vorstellungen von der Waldorfpädagogik als ‘Gesetzmäßigkeiten’ angesehen werden und die Basis der erzieherischen Praxis bilden. Welche Folgen das zum Teil hat, zeigt sich bereits bei der Einschulung. So wird die Schulreife an vielen Waldorfschulen nicht selten an den Zähnen festgemacht (vgl. Zander, S.1401). Dahinter steckt die auf Steiner zurückgehende Vorstellung, dass der Zahnwechsel die Geburt des Ätherleibs anzeigt, der durch die Entwicklung von ‘Gewohnheiten und Charakter, Gewissen und Gedächtnis’ (Steiner 1987b, S.319) die Kinder schulreif macht. Da dies laut Steiner um das 7. Lebensjahr herum geschieht, werden Kinder an Waldorfschulen auch selten früher als mit 6 ½ Jahren eingeschult. Abgesehen von der Nicht-Existenz eines Ätherleibs, ist die Gleichsetzung körperlicher und seelisch-geistiger Entwicklung, wie sie bei den Zähnen vorgenommen wird, mit neurowissenschaftlichen Erkenntnissen nicht kompatibel. Das Gehirn entwickelt sich gebrauchsabhängig und ist ‘Protokoll seiner Benutzung’ (Spitzer 2006, S.5). Zwar beeinflussen motorische Fähigkeiten auch andere kognitive Leistungen das Wachstum einzelner Körperteile gibt aber keine Auskunft über den geistigen Entwicklungsstand. Auch an der FWSK wird der ‘körperliche und seelische Entwicklungsstand des Kindes’ (Knoch 2006, o.S.) zur Bestimmung der Schulreife in einer Einschulungsuntersuchung beim Schularzt festgestellt. Durch die Beobachtung des Kindes und ein zusätzliches Elterngespräch versucht sich die Schule ein umfassendes Bild vom zukünftigen Schüler zu machen. Jedoch ist mir auch an der FWSK ein Fall bekannt, bei dem die Einschulung eines 6-jährigen Kindes mit der Begründung, dass alle seine Milchzähne noch fest säßen, um ein Jahr nach hinten verschoben wurde.
Klaus Peter Schmidt, M.Ed.,( *1986 in Osnabrück) hat Geschichte, Mathematik, Erziehungswissenschaft und Soziologie an der WWU Münster studiert und mit dem Master of Education für Sek. II in Geschichte und Mathematik abgeschlossen. Ausgehend von einem Interesse an reformpädagogischen Konzepten hat er Praktika an der Max-Brauer-Gesamtschule in Hamburg und der Freien Waldorfschule Kreuzberg in Berlin absolviert. Neben bildungsphilosophischen und -soziologischen Fragestellungen hat sich Schmidt, angeregt durch Vorlesungen bei Heinz Schirp, intensiv mit den neurobiologischen Grundlagen von Lehren und Lernen beschäftigt. In seiner Masterarbeit untersucht er, inwieweit es Parallelen und Affinitäten zwischen neurodidaktischen Ansätzen und der Praxis an Waldorfschulen gibt. Derzeit studiert Schmidt Philosophie an der HU Berlin.