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- Kriminologische Lebenslaufanalyse und Biografieforschung: Das bio-psycho-soziale Entwicklungsmodell nach Friedrich Lösel
Soziologie
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Verlag:
Diplomica Verlag
Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH
Hermannstal 119 k, D-22119 Hamburg
E-Mail: info@diplomica.de
Erscheinungsdatum: 06.2015
AuflagenNr.: 1
Seiten: 132
Abb.: 15
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback
Seit Menschengedenken spielt die Existenz von Gut und Böse im Menschen eine herausragende Rolle. Auch im religiösen Kontext des Abendlandes ist mit dem theologischen Sachverhalt der Erbsünde und der Zäsur, die diese hervorgebracht hat, das Bewusstsein für die Unterscheidung zwischen diesen beiden Grundelementen entstanden. Ebenso basiert die Dramaturgie eines jeden Märchen auf dieser grundlegenden Unterscheidung und der Erkenntnis, dass mit der Existenz menschlicher Sozialnormen in jedem Bezugssystem die Existenz einer Abweichung dieser Normen einhergeht. Die Ursache des Bösen oder – weniger spirituell – devianter, bisweilen krimineller Verhaltensweisen ist in der Kriminologie, die sich nicht auf die Theorie von der Erbsünde als Urzelle der Delinquenz kapriziert, Grundlagenforschung allererster Güte. Deshalb begnügen sich Kriminologen und Soziologen auch nicht damit solche menschlichen Wesensmerkmale als Determinante qua Geburt hinzunehmen, sondern sind vielmehr seit Jahrhunderten auf der Suche nach den Bedingungsfaktoren für Kriminalität im Lebenslauf. Gleichzeitig steckt in der Bemühung zur Identifizierung kriminogener Umstände in der Biografie auch die Bemühung solche Risiken frühzeitig zu erkennen und dem scheinbaren Determinismus menschlicher Lebenswege entgegenzuwirken.
Textprobe: Kapitel 2.6.2, Multiproblem-Milieu und untere soziale Schicht: Unter diese Kategorie fassen Lösel und Bliesener neben binnenfamiliären Faktoren wie alleinerziehende junge Elternteile, geringe Familieneinkommen, langfristige Arbeitslosigkeit, schlechte Wohnverhältnisse und Alkoholismus beziehungsweise Kriminalität der Eltern auch äußere Kontextfaktoren wie sozial desintegrierte verwahrloste Nachbarschaften und schließlich die Zugehörigkeit zur unteren sozialen Schicht. Hier lassen sich sowohl Wechselwirkungen als auch unabhängige Effekte als Wirkmechanismen belegen. Auch hier bestätigte sich gleichermaßen, dass der positive Befund eines einzelnen Faktors grundsätzlich wenig die starke Varianz des Verhaltens klären konnte, während die Kumulation mehrerer dieser Binnenfaktoren zu signifikanten Werten führte. Aufgrund der Relevanz der genannten Rahmenbedingungen für die spätere Delinquenzentwicklung wird die Arbeit im folgenden Abschnitt zusätzlich zur Darstellung der Operationalisierung bei Lösel einige Theorien vorstellen und die Hauptaussagen dieser Theorien in die Lösel´schen Deutungen einbetten. Zur Erläuterung des von Lösel und Bliesener gewählten Oberbegriffs ‚desintegrierte Nachbarschaften’ wird die Arbeit von Shaw und McKay im Unterabschnitt Wohnumfeld eingeführt, die sehr früh schon den Risikofaktor desintegrierte Nachbarschaften untersucht und somit diesen Begriff maßgeblich geprägt hat. Zugunsten der Übersichtlichkeit wird von der Präsentationsweise Lösels dergestalt abgewichen, dass der zusammengesetzte Risikofaktor in drei Abschnitte, namentlich dem Multiproblemmilieu im engeren Sinne, dem Wohnumfeld und der Zugehörigkeit zur unteren sozialen Schicht aufgegliedert wird. Der Inhalt bleibt davon unberührt. Multiproblem-Milieu im engeren Sinne: Unter dem Multiproblem-Milieu im engeren Sinne fassen Lösel und Bliesener in ihrer Untersuchung familiäre Gegebenheiten wie Scheidung, alleinerziehende Eltern, Alkoholismus oder Kriminalität der Eltern. Schon die Gluecks weisen auf die Eltern als elementaren Entwicklungskontext in frühen Jahren hin. Das Elternhaus ist der Mikrokosmos, in dem Werte und der Umgang miteinander erlernt werden und spielt eine zentrale Rolle in der Vermittlung eines positiven Selbstbildes überdies auch in der Vermittlung von Einstellungen und Vorurteilen. Die frühe Trennung oder eine Suchterkrankung der Eltern sind daher starke Indizien für die Entstehung von Problemverhalten des Kindes. Diese Diagnose impliziert keinesfalls, dass alleinerziehende oder alkoholkranke Elternteile per se die schlechteren Eltern seien. Allerdings wird durch den Partnerverlust oder durch die Alkoholkrankheit des erziehenden Elternteils der Fokus sehr stark auf die eigenen Probleme gelenkt, so dass dem Kind gerade in der wichtigen Orientierungsphase allenfalls geteilte Aufmerksamkeit zukommt. Den Zusammenhang zwischen alleinerziehenden Eltern und Delinquenz des Kindes deuten auch Sampson und Laub (s. Abb. 5) an, indem sie aufzeigen, dass eine derartige strukturelle Familienvariable über die Merkmale fehlende Überwachung des Kindes durch die Eltern und fehlende emotionale Bindung bzw. Zurückweisung der Eltern vermittelt wird und so moderierend auf die Delinquenzentwicklung wirken. Zudem hat jede dieser Variablen für sich in der Regel eine messbare Auswirkung auf die finanzielle Lage des Elternhauses. Geringe finanzielle Mittel wirken sich zwar ebenfalls nicht direkt auf die negative Entwicklung eines Jugendlichen aus, stellen jedoch insofern eine risikoerhöhende Variable dar, als sie das Familienklima negativ beeinflussen können (s. Abb. 7). Eine weitere Variable im Gesamtkonzept des Multiproblem-Milieus nach Lösel ist das Wohnumfeld: So wie die Innenansicht einer Wohnung in der Regel sehr viel über die Seele, oder – will man es weniger exaltiert – zumindest über private Vorlieben der Bewohner verrät, so sagt das Viertel, in dem eine Person lebt, sehr viel über ihre Position ( standing ) in der Gesellschaft und ihr sozioökonomisches Umfeld aus. Denn die Hauptdeterminante (neben anderen entscheidungsrelevanten Variablen) bei dem Entschluss für oder gegen eine Wohngegend ist zumeist finanzieller Natur. Nicht umsonst haben Banken komplexe Programme mit noch komplexeren Algorithmen, die für Kreditanfragen auch in Betracht ziehen aus welchem Ortsteil der Kunde kommt und diese Information dann maßgeblich zur Berechnungsgrundlage machen. Und nicht umsonst interessiert sich die Kriminalitätsforschung schon seit Jahrzehnten für die Wechselbeziehung zwischen Kriminalität und der unmittelbaren physisch-räumlichen Umwelt einer Person oder Personengruppe. Ihre Anfänge hat dieses Betätigungsfeld in den Untersuchungen der Chicago-Schule. Heute kann man auf eine umfangreiche neighborhood-effect-Literatur zurückgreifen. Die Theorie der sozialen Desorganisation: Die Soziologen der Chicagoer Schule Shaw und McKay haben in den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts als eine der ersten verschiedene Faktoren untersucht, die die unmittelbare Wohnumgebung zu einem Risikofaktor für die Delinquenzgenese ihrer Bewohner hochstilisieren. Bedingt durch die Erkenntnis, dass ein niedriger sozioökonomischer Status und eine marode und heruntergekommene Bausubstanz eine starke Auswirkung auf das Leben in einem solchen Viertel haben, wird die Benachteiligung von Wohngebieten im Kontext der Delinquenzforschung als ein multidimensionales Konzept verstanden, das auf verschiedenen Ebenen auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen einwirkt. Insbesondere Aspekte wie wenig institutionelle beziehungsweise informelle Kontrolle und soziale Unterstützung und mehr Kriminalität im Umfeld, in dem sich schnell Lernmodelle für deviantes Verhalten finden, interagieren hier mit schwierigen Konstellationen im Elternhaus und psychologischen oder kognitiven Störungen. Hinzu komme häufig, dass gerade in Wohnquartieren in schlechter Lage auf engstem Raum viele Familien aus sozial schwachen und problematischen Verhältnissen zusammenleben. Diese zunehmende Segregation vor allem in Großstädten führe ferner dazu, dass gerade in sogenannten Problemvierteln eine Konzentration von Menschen gefördert wird, die in ihrem sozialen Außenseiterstatus homogen vereint sind. Elliott et al. sehen daher in Nachbarschaften transactional settings , die das individuelle Verhalten und die Persönlichkeitsentwicklung sowohl direkt als auch indirekt signifikant beeinflussen können. Es gibt kaum eine Arbeit, die so oft rezensiert und reformuliert wurde wie die Shaws und McKays. So sekundieren Fox, Lane und Akers deren Ergebnisse folgendermaßen: This ecologically-based explanation for delinquency (Anm. d. Verf.: from Sampson and Laub) assumes that rapid urbanization leads to a deterioration of community controls, resulting in disorganization and the replacement of traditional values with criminal values. Then, the area, not individuals, breeds crime regardless of who moves in and out of these neighborhoods”. Schneider hat in Deutschland Untersuchungen vorgenommen, um zu eruieren, ob der amerikanische Tatbestand der desorganisierten Nachbarschaft auch hier zu finden ist und beschreibt in diesem Zusammenhang: Soziale Organisation und Desorganisation sind die beiden Endpunkte eines Kontinuums, das sich auf systematische Netzwerke und die Gemeinschaftskontrolle bezieht. Ein soziales System, eine Gemeinschaft (…) bezeichnet man dann als sozial organisiert oder integriert, wenn seine Mitglieder in ihren Normen und Werten übereinstimmen, wenn zwischen ihnen ein enger Zusammenhalt herrscht und wenn sie in geordneter Weise miteinander interagieren. Eine Gemeinschaft ist sozial desorganisiert, wenn ihr sozialer Zusammenhalt zerfällt, wenn ihre soziale Kontrolle zusammenbricht. Je größer die Dichte und Vielfalt der interpersonellen Netze in einer Gemeinschaft, desto größer ist die informelle Kontrolle delinquenten Handelns in diesem Gebiet . Beelmann und Raabe, die in ihrem Buch den Lösel-Ansatz ihrerseits reformulieren, nennen insgesamt vier Mechanismen, die eine benachteiligte Wohngegend identifizieren: Erstens die hohe Verfügbarkeit devianter Rollenmodelle, die in deprivierten Wohnvierteln durch dissoziale Agenten besteht. Dieser Mechanismus wirkt gemäß der Theorie der differentiellen Assoziation nach Sutherland dergestalt, dass angenommen wird, Kriminalität sei die Folge einer speziellen Lernumwelt. Wenn also ein aufgeschlossener, offener, kommunikativer Junge in einer schlechten Umgebung aufwächst, wird er sich aufgrund seines offenen Charakters und seines Kommunikationsbedürfnisses an devianten peers orientieren wächst er hingegen in einer gut bürgerlichen, intellektuellen Umgebung auf, kann er auch Pfadfinder oder Intellektueller werden. Zweitens ergeben sich durch schwache soziale Bindungen und das Fehlen eines öffentlichen Kommunikationsraums nach Beelmann und Raabe Gelegenheiten für kriminelle Machenschaften, die durch die Anonymität und die geringe Interaktion der Bevölkerung noch begünstigt werden. Hier wird erneut der Risikofaktor Bindungsdefizite zur Sprache gebracht, der insbesondere durch seine starke Wechselwirkung mit anderen Kontextfaktoren seine herausragende Stellung im System der Risikofaktoren innehat. Drittens steigt durch die hohe Kriminalitätsbelastung die Wahrscheinlichkeit selbst Opfer zu werden. Dieser Punkt wird meist in der Literatur nur en passant miterklärt. Dabei besitzt er hohe Brisanz: Denn überall dort, wo sowohl formelle als auch informelle Sozialinstanzen weitgehend inexistent sind oder ihren Rückzug angetreten haben und die Gefahr, selbst Opfer zu werden, gegenwärtig ist, ergeben sich für jeden einzelnen hit-and-run-Szenarien. Entweder man lebt in der Erwartung, jederzeit selber Opfer zu werden, oder man organisiert sich ebenfalls, sozusagen als präventiver Erstschlag, in devianten Gruppen. Insbesondere Jugendliche verfügen nicht über die Entscheidungsbefugnis, ob sie eine bestimmte Wohngegend verlassen. Insofern verdichtet sich ihre Entscheidungsgewalt auf die eben angesprochenen Varianten. Und so wie ein Dominostein auf den anderen folgt, folgt im Kettenreaktionstheorem Lösels auf den einen Risikofaktor unter Umständen der nächste. Viertens, so Beelmann und Raabe, mangelt es in solchen Wohngegenden an Bildungseinrichtungen oder einer institutionellen Infrastruktur für Jugendliche.