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- Hilfe, ich brenne! Psychosomatische Belastungen aufgrund von Migration am Beispiel der Spätaussiedler
Soziologie
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Verlag:
Diplomica Verlag
Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH
Hermannstal 119 k, D-22119 Hamburg
E-Mail: info@diplomica.de
Erscheinungsdatum: 11.2020
AuflagenNr.: 1
Seiten: 68
Abb.: 6
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback
Migration ist eine der charakteristischen und bedeutenden Erscheinungen des öffentlichen Lebens des 20. Jahrhunderts, die verschiedene Erfahrungen, Schicksale und psychische Belastbarkeiten zur Folge hat. Mit steigender globaler Tendenz waren im Jahr 2005 weltweit ca. 200 Millionen Menschen umgesiedelt. Im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts erlebte auch die Bundesrepublik Deutschland einen stetig steigenden Zuwachs an Aussiedlern aus den Ostblockstaaten. Dieses Werk beschäftigt sich mit psychologischen Folgen einer Migration am Beispiel der Spätaussiedler aus den GUS-Staaten. Genauer handelt es sich um deutsche Volkszugehörige, die vorwiegend aus den GUS-Staaten, sowie aus Polen und Rumänien ausgesiedelt sind. Die Belastungen der Migration sind durchaus vergleichbar mit jenen von Menschen anderer Volksgruppen, die nach Deutschland ausgewandert sind, weswegen auch diese Vergleichspunkte thematisiert werden. Die einzelnen Aspekte, die in jeder Volksgruppe unterschiedlich sind, wie zum Beispiel Mentalität, werden jedoch differenziert betrachtet und bei Bedarf ausgearbeitet. Das Werk spiegelt die Erfahrungen einiger Augenzeugen wider, trägt damit also auch eine emotionale Komponente, und soll zum Nachdenken anregen.
Textprobe: Kapitel 2.2 Systemische Familienberatung mit Spätaussiedlern: Um Aussiedlerfamilien vernünftig beraten zu können, müssen Psychotherapeuten, Therapeuten und Ärzte in erster Linie Kenntnis über Hintergründe ihres Verhaltens haben sowie ihre Probleme im Zusammenhang mit ihrer sozialkulturellen Herkunft sehen. In der psychischen Struktur eines Aussiedlers, der von dem totalitären Sowjetregime bzw. von der Zeit der Perestroika geprägt ist, stößt man in erster Linie auf einen Reichtum an Gefühle und Affekte, vielfältigen Impulse und willensstarke Ansätze, die das Verhalten dominieren. Übermäßige Gefühls- und Emotionsintensität, sowie plötzlicher häufiger Wechsel von widersprüchlichen Stimmungslagen, sind für das psychisch-emotionale Bild eines Aussiedlers beinahe charakteristisch. Man beobachtet oft für europäische Verhältnisse zunächst völlig unverständliche Grobheit im Umgang mit Menschen und gleichzeitig zärtlichste Anteilnahme, man erlebt den tiefen Glauben und zugleich das trockene Materialismus, helle Eingebung und Apathie, Tapferkeit und Verrat, starke Willensabsicht und plötzliche Rückzüge. Diese Gegensätze sind in der russischen Seele veranlagt, sie sind sowohl als seine Schwäche, aber als Stärke zu verstehen. Ein solches Verhalten ist einer Person aus dem russischsprachigen Raum oft bewusst, sie hat jedoch oft nicht die Kraft oder auch keine Lust, Widersprüche zu vermeiden oder sie aufzuräumen. Dieses Verhalten spiegelt den Prototyp eines deutlich artikulierten Gegenimpulses, wenn nach einem Ja ein entschiedenes Aber kommt. Die Breite und die Grenzenlosigkeit der Natur und des Territoriums der ehemaligen Heimat haben den Charakter des Spätaussiedlers geprägt. Hieraus resultiert seine grundsätzlich chaotische Unbändigkeit. Anderseits ist ihm schweigende und geduldige Ehrfurcht vor Naturkräften, Armut, Epidemien und Machtinhabern eigen weil Schicksal eines einzelnen Individuums immer zweitrangig war, es ging immer vorrangig um das Wohl einer Gruppe. Das Verständnis eines Spätaussiedlers für Gewalt unterscheidet sich wesentlich von dem westeuropäischen Verständnis. Als Wahrheitssuchender sollte Spätaussiedler hinsichtlich Gewaltanwendung ehe eine ablehnende Haltung zeigen, wegen seiner gegensätzlichen Natur ist er jedoch oft aus emotionaler Regung Gewaltakten zugeneigt. Diese widersprüchliche Bewältigung von Macht und Gewalt hat offensichtlich einen tiefen kulturellen bzw. kulturhistorischen Hintergrund. Materielles Eigentum ist für einen Spätaussiedler kein Selbstzweck, es dient ihm als Mittel zur Erreichen seines Ziels. Trotzdem ist er dem Eigentum grundsätzlich nicht abgeneigt. (vgl. Schtrik/Schtrikfeldt, URL: http://www.germany.ru/geschichte). Nach diesem kurzen Einblick in die charakteristischen Eigenschaften der Psyche von Spätaussiedlern möchte ich mich auf einige grundsätzliche Themen konzentrieren, die für ein Beratungsgespräch zur Förderung der Familienintegration relevant sind. Wie gestaltet sich die Paarbeziehung in einer russischsprachigen Familie? Die Paarbeziehung war schon immer eine Interessengemeinschaft und keine auf dem Dialog basierte Partnerschaft. Das Kommunikationsbedürfnis wurde in der Männer- bzw. Frauengemeinschaft befriedigt. Nach einer Migration/Aussiedlung sind Eheprobleme auf Grund von Überlastung, Vereinsamung und Enttäuschung nicht selten. Worauf basiert die Elternrolle? Im Herkunftsland hatte die Berufstätigkeit der Frau einen hohen gesellschaftlichen Stellenwert. Die Konsequenz war immer schlechtes Gewissen als Mutter, für die Kinder nicht genügend getan zu haben, denn traditionell war die Erziehungsaufgabe der Frau zugeteilt. Dieser Gewissenskonflikt verstärkt sich in Deutschland deutlich durch finanzielle Belastungen und die Notwendigkeit, den Kindern bei ihrem Neustart zu helfen. Die Eltern sind stolz auf ihre Kinder, erwarten allerdings auch starke Anpassung und Unterordnung. Gemeinschaftliche Interessen gehen immer vor Autonomiebestrebungen. Aussiedlerkinder müssen sehr früh lernen auf elterlichen Schutz zu verzichten, da Eltern mit der Bewältigung von Problemen der neuen bedrohlichen Umgebung beschäftigt sind. Existieren weiterhin hierarchische Strukturen? Die Familienorganisation richtet sich meist nach dem Alter und Geschlecht, sie ist patriarchalisch geordnet. Es liegt eine komplementäre Beziehung vor, wobei Männer das Sagen nach außen haben und Frauen innerhalb der Familie entscheiden. Im Zuge der Aussiedlung kann diese Machtstruktur durch Sprachschwierigkeiten oder Arbeitslosigkeit des Mannes erheblich beeinträchtigt werden. Somit finden Kinder keine Identifikationsfiguren mehr. Der Familienverband der Ursprungsfamilie spielt immer noch eine wichtige Rolle, aber wenn Großeltern weit entfernt wohnen, kann ihrerseits weder die Kontrollfunktion noch die Unterstützung erfolgen. Peter Kaiser (2000) formuliert diese These wie folgt: Die Herkunftsfamilie ist für die Gesundheit und Entwicklung der hier lebenden Erwachsenen und Kinder, folglich auch für deren späteres Partnerverhalten bedeutsam: Die elementaren Aktivitäten des täglichen Lebens finden zumeist im Rahmen des Familienalltags statt und werden in ihrer Ausformung dort an die Kinder weitervermittelt. (S. 134) Welche Feindbilder können entstehen? Die Anpassungsanstrengungen, d.h. Wohnungs- -und Arbeitssuche sowie alltägliche Lebensaufgaben in der neuen Heimat, beanspruchen einen Aussiedler in hohem Maße. Als Folge treten depressives Verhalten und Antriebsschwäche sowie Wut auf. Man greift auf das bekannte Diskriminierungsmuster zurück: in Russland waren sie die bösen Deutschen , hier in Deutschland sind sie die bösen Russen . Dabei entsteht die Tendenz, Feindbilder gegenüber den Einheimischen zu entwickeln. Wie beginnt ein Sozialpädagoge oder ein Therapeut zu intervenieren? Für eine psychotherapeutische Analyse ist es wichtig, nicht nur Verständnis für Menschen aufzubringen, sondern auch eine Typisierung von npassungsproblematik vornehmen zu können. Fatih Güc (1991) definiert vier Grundtypen von Immigrantenfamilien mit Anpassungsproblemen in Deutschland und benennt ihre Charakteristika: a) Die traditionell verstrickte Familie: Klare Rollenverteilung, ähnlich wie in Familien in der Heimat klare Grenzen, starke Dominanz des Ehemannes geschlechtlich getrennte Aufgabenverteilung und rollengebundene Konfliktbewältigung Orientierung an der ethnischen Gruppe Verleugnung der Veränderungen. b) Die überangepasste Familie: Orientierung an neuen Werten scheinbar progressiv, aber der Anpassungsdruck ist erkennbar ständig überfordert meist isoliert in deutscher Umgebung desorientiert Auffälligkeiten wie Sucht sind vorhanden. c) Die gespaltene Familie: Das Trauern um das Verlorene spaltet die Realität, einige Familienmitglieder beziehen sich immer wieder idealisierend auf das Verlassene Depressionen, psychosomatische Beschwerden treten oft auf das aktuell Erlebte wird negativ bewertet (Identitätsproblematik).d) Die vom Zerfall bedrohte Familie: Dauerarbeitslosigkeit Bezug von Sozialleistungen oder Frührente Ungerechtigkeit und Benachteiligung sind oft als Thema in der Familie Gefühl mangelnder Finanzen (vgl. Güc, F., 1991, S.12 ff).
Marina Kavalenka, geb.in Moskau/ Russland, Jahrgang 1981, hat Design in Enschede in den Niederlanden und Sozialpädagogik und Soziale Arbeit in Münster, Westfalen studiert. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Münster und arbeitet gerne mit Kindern. Durch ihren reichen Erfahrungsschatz und weitgehendes Interesse an der menschlichen Psyche, geprägt durch das Elternhaus, möchte sie ihre Erfahrungen mit der Fachwelt teilen.