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Soziologie

Ravin Asaf

Flucht und Sprache

ISBN: 978-3-96146-836-2

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Produktart: Buch
Verlag:
Diplomica Verlag
Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH
Hermannstal 119 k, D-22119 Hamburg
E-Mail: info@diplomica.de
Erscheinungsdatum: 07.2021
AuflagenNr.: 1
Seiten: 104
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback

Inhalt

Geflüchtete wissen nicht, was auf sie zukommt. Die Rettungsfantasien stoßen mit der Realität des Ungewolltseins zusammen. Einige Aspekte des neuen Lebens zerreißen den alten Heimatstolz. Das Erbe der Heimat fängt erst damit an und raubt zuletzt noch die gebliebenen zerbrechlichen Kräfte. Dieser Prozess erzeugt eine eigene Sprache: Das ist nicht meine Welt. Im Ausdruck der Flüchtlinge zeigt sich oft, was sie am Spracherwerb hindert sie weisen bestimmte Symptome auf. Sie fallen im Nachhinein in eine Isolation. Doch Deutschlernen ist das Heilmittel gegen den Abbauprozess – aufbauen, statt abbauen. Biografische Anekdoten des aus Kurdistan geflüchteten Autors erzählen, wie die Menschen dort abgeholt werden müssen, wo sie gerade angekommen sind, und wie Spracherwerb sich angenehmer und effektiver erzielen lässt.

Leseprobe

Textprobe: Kapitel Bildung... Bildung, natürlich Bildung: Oft höre ich von Bildungsfachleuten als Allheilmittel für die unterentwickelten oder Krisenregionen den Ruf nach Bildung. Der Rat ist sicher gut gemeint. Meines Erachtens geht er an der Realität in diesen Ländern vorbei. Sie unterschätzen die hindernde Wirkung der sozialen und politischen Unruhen. Vor der Bildung brauchen die Menschen Frieden und Sicherheit. Die Bewohner dieser Länder wissen besser als die Außenwelt, wie wichtig Schulbildung für ihre Kinder wäre. Sie versprechen sich davon sozialen und wirtschaftlichen Aufstieg. In allen Sprachen der orientalischen Länder haben die türkischen Begriffe Afandi , gemeint: Herr Lehrer und Sit oder Khaton Frau Lehrerin eine wichtige Bedeutung. Gerade bei den einfachen Menschen ist die Lehrkraft eine angesehene Persönlichkeit. Niemand erringt im sozialen Bereich so viel Respekt wie Lehrer/innen. Unsere Grundschule in den 60er Jahren war im Dorf tief in den Bergen mit 60 Kindern in einer Klasse. Viele von ihnen schafften es auf Universitäten. Man lernte bei flackerndem Licht, der Lehrer hatte nur eine Holzplatte als Tafel. Wir saßen auf den leeren, wackligen Kisten vor dem Lehrer. Oft gingen noch Kühe durch den Unterrichtsplatz. Trotzdem war unsere Dorfschule im Dorf eine anerkannte staatliche Institution. Die Rahmenbedingungen waren nicht so wie hier und heute, aber es gab Sicherheit, staatliche Verpflegung und Schulbücher. Das fehlende schulische System ist ein Hauptgrund, die Kinder allein auf die Flucht nach Europa zu schicken. Schon in den 80er und 90er Jahren sind viele, viele Kinder aus dem ehemals bildungsnahen Iran in das Flugzeug nach Europa gesetzt worden. Viele Familien zwingen inzwischen ihre Kinder dazu. Sie wissen, dass Deutschland kinderarm ist, und sie hoffen auf eine bessere Zukunft für ihre Kinder. Der Prozentsatz von Analphabetismus ist unter den Frauen fast aller arabischen Länder der höchste der Welt. Die UN bezeichnet in diesen Ländern dieses Phänomen als das zentrale Problem für Bildung in der Familie. Besonders im Jemen, Irak, in Libyen und Somalia wird es lange dauern, bis dieser Notstand besiegt wird. Ihre Rolle in der Gesellschaft beschränkt sich in der Regel auf den Haushalt. Mit der Geburt des ersten Kindes zementiert sich die Benachteiligung. Ein weiteres Hindernis für die gesellschaftliche Gleichstellung der Frau in dieser Kultur liegt in der Unterstützung durch seine Angehörigen, die ein Mann erfährt, der eine zweite Frau will. Viele Frauen stimmen der zweiten Heirat ihres Mannes zu, damit er friedlich bleibt. Das Interesse der Ehefrauen beschränkt sich darauf, ihre Mitgift oder Goldstücke für den Notfall zu bewahren und die Wünsche der Verwandten zu erfüllen. Wenn geflüchtete Frauen aus diesen Ländern nach Europa kommen, beschränken sie ihre Freiheit nur auf Fantasien. Die Meinungen, die sie sich zu äußern trauen, sind oft leise. Sie gestikulieren nur wenig und ihre geflüchteten Blicke sind bei Konfrontationen oft haltlos, gerade, wenn sie persönliche oder entscheidende Sätze wiederholen wollen. Sie kennen nur Haushalt, Kinder, Familie und kommen nicht klar mit Jobcenter, Erwerbsarbeit, Behördengängen, Sport. Dabei sind sie zwar die Beschränkung auf das Haus gewohnt, aber nicht die Isolation. Zu Hause gab es ein soziales Umfeld. Hier sind sie ganz allein. Wenn sie sich dazu gezwungen sehen, im öffentlichen Bereich eine erwachsene Rolle zu spielen, Sprache, Ausbildung und Arbeit in Angriff zu nehmen, flüchten sie gern in die Schwangerschaft. Das habe ich in meinem Deutschkurs mehrmals beobachtet. Viele Ausländer bei uns sind isoliert und weil sie den Umgang mit der industriellen Gesellschaft nicht schaffen, rutschen sie in Depressionen. Ich habe immer mal wieder Flüchtlinge, die seit langem in Deutschland leben, gefragt, ob sie eine deutsche Zeitung lesen. Überwiegend fanden sie deutsche Medien überflüssig. Sie informierten sich immer noch über die Satellitenschüssel. Sie leben gedanklich noch in ihrem Herkunftsland. Wie kommt das? Oft frage ich mich, ob Unterrichten nur so geht: Acht Uhr, Pünktlichkeit, Aufgaben machen, Beschreibung rein deutscher Inhalte in den Lehrbüchern, wie Feiern am Wochenende und sonstige westliche Sitten? Viele sagen nicht, dass Ihnen die Buchinhalte nicht gefallen oder ihnen fremd sind. Ausländer kennen kaum europäischen Freizeitstress oder europäische Kultur und können damit nichts anfangen. Das gilt auch für den Besuch eines Elternabends. Wobei die Lehrer froh sind, dass die ausländischen Eltern keine Ansprüche stellen und an ihrer Arbeit herumkritisieren. Eltern mit Migrationshintergrund fragen die Kinder, ob die Lehrer gut sind und bilden sich so ihre Meinung. Ich habe mal versucht, Mutter und Kind zusammen zu unterrichten. Ein Kind lernt einen Tag in der Woche mit der Mutter. Beide haben verschiedene Levels. Beide müssen ihre Sozialkompetenz mit dem Sprachlernen entwickeln. Die Mutter wurde dadurch gefördert. Sie wurde aktiver. Kinder können ein Motor für den Aufbau des elterlichen Spracherwerbs sein.

Über den Autor

Ravin Asaf wurde 1957 im irakischen Kurdistan geboren. Er absolvierte ein Film-Studium in Bagdad. Die Jahre 1981–1984 verbrachte er als Peschmerga in den Bergen. 1986 landete er nach einer Flucht mit vielen Stationen unfreiwillig in Deutschland. Die deutsche Sprache eignete sich der Autor auf der Straße an und machte schließlich ein weiteres Studium an der HfBK in Hamburg. Währenddessen und anschließend war er als Filmautor sowie in der sozialen Arbeit tätig und seit 2015 arbeitet er als DAF-Lehrkraft. Zurzeit schreibt der Autor eine Analyse über Zeit und Ort des Exils.

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