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- Erziehung im Jugendstrafvollzug: Reichweiten, Grenzen, Alternativen
Soziologie
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Verlag:
Diplomica Verlag
Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH
Hermannstal 119 k, D-22119 Hamburg
E-Mail: info@diplomica.de
Erscheinungsdatum: 06.2015
AuflagenNr.: 1
Seiten: 88
Abb.: 5
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback
Wegsperren und das am besten für immer – Immer wieder wird, allen kriminologischen und erziehungswissenschaftlichen Erkenntnissen zum Trotz, in der Presse, Politik und sogar in der Wissenschaft darüber diskutiert, ob Jugendkriminalität durch eine repressivere Vorgehensweise entgegengewirkt werden könne. Bei einer solchen Diskussion wird oft vergessen, dass solche Forderungen dem gesetzlich verankerten Erziehungsanspruch des Jugendstrafrechts diametral entgegenstehen. Dennoch, ein solches rückständiges Verständnis des Jugendstrafrechts verwundert kaum, denn bei einer näheren Betrachtung des Jugendstrafvollzugs, als härteste Sanktionsform des Jugendstrafrechts, wird deutlich, dass in dieser zur Bestrafung eingerichteten Institution, Erziehungsbemühungen allenfalls eine untergeordnete Rolle spielen.
Textprobe: Kapitel 6.3.2, Subkulturbildung: Ein weiteres Risiko im Jugendstrafvollzug stellt die Bildung von dissozial orientierten Subkulturen dar. In der totalen Institution des Jugendstrafvollzugs, welche auf einem gestaffelten Autoritätssystem fußt, werden die Gefangenen an den untersten Platz in diesem hierarchischen System verwiesen. Die Gefangenen haben kaum Mitsprachrecht, unterliegen verschiedensten Zwängen, werden umfassend bevormundet und vereinnahmt. (vgl. Nickolai 2011, S. 19 ff.) Diese Deprivationserfahrungen führen zur Herausbildung von subkulturellen Gruppierungen. Daher könnte ihr Verhalten als Schutzfunktion beschrieben werden, es gleicht einer Adaptionsstrategie zur Reduzierung von Stressfaktoren und zur Aufrechterhaltung bzw. Wiederherstellung von Selbstachtung und individueller Würde im Strafvollzug (vgl. Laubenthal 2011, S. 129). Im Gegensatz zu diesem Deprivationsmodell gibt es noch einen anderen Erklärungsansatz zur Entstehung von Subkulturen. Die kulturelle Übertragungstheorie geht davon aus, dass die Konzentration von Menschen mit bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen und sozialen Identitäten ursächlich für die Entstehung einer Subkultur sind. Die Gefangenen treten schon mit bestimmten Lebenserfahrungen, Prägungen sowie Wert- und Normvorstellungen die Haft an und nehmen diese auch in den Strafvollzug mit. Die dann im Strafvollzug gezeigten kriminellen Verhaltensweisen, spiegeln nur das auch außerhalb der Anstalt existierende kriminelle Verhalten wider. (vgl. Laubenthal 2011, S. 129) Einen großen Konsens in der Rechtswissenschaft findet auch das Integrationsmodell. Dieses bestimmt Deprivationserfahrungen wie auch eigene Lebensprägungen und soziale Identitäten als Ursache der Subkulturbildung im Strafvollzug. (vgl. Ostendorf 2012, S. 445 ff.) Allein schon die Tatsache, dass das Verhalten der Gefangenen von ihren bisherigen Lebenserfahrungen geprägt ist, trägt dazu bei, dass mobilisierte Gegenkräfte zur Schaffung von Freiräumen oder um den Beschränkungen des Jugendstrafvollzugs zu entgehen, oft Formen illegaler Handlungsweisen annehmen. Diese Handlungen werden dann von den Bediensteten im Jugendstrafvollzug als Störungen oder Regelverstöße wahrgenommen, welche ihrerseits wieder als Anlass zum Einschreiten interpretiert werden und zur Verschärfung von Haftstrafen führen. Es ergeben sich also zwei gegenseitige und wechselseitig verstärkende Systeme: auf der einen Seite das System der Gefangenensubkultur und auf der anderen Seite das System der Bediensteten im Jugendstrafvollzug. (vgl. Ostendorf 2012, S. 447) Damit bedingt schon allein eine repressivere Vollzugsgestaltung illegale Handlungsweisen der Gefangenen und führt zur Stärkung der Subkultur. Aber auch innerhalb der Subkultur gibt es immer auch Werte, Normen und gruppeninterne Regeln, welche oft mit den Regeln und Normen im Jugendstrafvollzug kollidieren. Auch werden illegale Handlungsweisen eingefordert, um in der Statushierarchie der Subkultur zu steigen. Diese Handlungen können z. B. Drogendelikte, Gewaltdelikte oder Sexualdelikte darstellen. Werden diese Werte und Normvorstellungen zu denen des Gefangenen, wird von einem Prisonisierungsprozess gesprochen. Damit ist die Akkulturation der Gefangenen an die devianten Normen einer Subkultur gemeint. Je nachdem, welche Rolle der Gefangene in der Subkultur eingenommen hat, ist der Prisonisierungsprozess individuell unterschiedlich ausgeprägt. (vgl. Laubenthal 2011, S. 127) Bei der Bildung von Subkulturen kommt es zur Herausbildung verschiedener Insassenrollen, welche auf dem informellen Status der einzelnen Gefangenen beruhen. Der Status in der Hierarchie einer Subkultur im Strafvollzug kann von verschiedenen Faktoren abhängig sein, wie z. B. der Deliktart, deretwegen ein Insasse inhaftiert wurde, Zugangsmöglichkeiten zu illegalen Gütern, einflussreiche Kontakte zu anderen Mitinhaftierten, aber auch der Besitz sozialer und interkultureller Kompetenz sowie fundierte Rechtskenntnisse erhöhen die Chance auf einen Aufstieg in der Statushierarchie der Gefangenensubkultur. (vgl. Laubenthal 2011, S. 117 f.) Im Strafvollzug können hingegen bestimmte Eigenschaften, Einstellungen oder sonstige intrapersonale Auffälligkeiten einen niedrigen Rang in der Statushierarchie bedeuten und das Viktimisierungsrisiko erhöhen. Das Risiko, Opfer von physischen und psychischen Gewalthandlungen im Strafvollzug zu werden, ist nämlich für Neuankömmlinge, transsexuelle Menschen, Sexualstraftäter, körperlich schwache Personen und Personen, die nicht bereit sind, ihre Interessen mit Gewalt durchzusetzen oder Gewalt anzudrohen, besonders hoch. (vgl. Laubenthal 2011, S. 118) Um in der Statushierarchie der Subkultur aufsteigen zu können bzw. allein auch schon um das Viktimisierungsrisiko als Inhaftierter zu mindern, fordert die Subkultur des Jugendstrafvollzugs verschiedene Handlungsweisen ein, welche nicht nur den Regeln des Jugendstrafvollzugs, sondern auch dem Ziel der künftigen Legalbewährung diametral entgegenstehen. Das wohl gebräuchlichste Mittel im Strafvollzug zur Statusbestimmung in der Hierarchie der Subkultur stellt die Anwendung von vor allem physischer Gewalt dar. Schon ein Neuankömmling sieht sich schnell auf interpersonaler Ebene damit konfrontiert, dass er sich im Strafvollzug behaupten und in seinem eigenen Interesse in dieser Rangordnung einen möglichst hohen Platz einnehmen muss. Hierfür ist physische Überlegenheit oder Stärke unabdingbar. Diese Hackordnung zieht sich über die gesamte Haftdauer, somit stellt die Statushierarchie eine dynamische Rangordnung dar, welche sich jederzeit ändern kann. Es ist also nicht damit getan, als Neuankömmling einmal Überlegenheit zu beweisen, sondern die gesamte Haftdauer ist von Anerkennungsritualen und Positionskämpfen geprägt. Dies bedingt unter den Gefangenen während der gesamten Haftzeit ein hohes Angstniveau. Neben der Gewalt zur Statusbestimmung findet noch eine andere Form der Gewalt im Strafvollzug statt: die Ausgrenzungsgewalt. Hierbei geht es nicht um die Positionsbestimmung innerhalb der Statushierarchie, sondern um reine Erniedrigung und die Befriedigung sadistischer Veranlagungen. Diese Gewalt richtet sich hauptsächlich gegen transsexuelle Menschen und Sexualstraftäter, insbesondere diejenigen, welche wegen Kindesmissbrauch verurteilt wurden. (vgl. Laubenthal 2011, S. 118 ff.) Eine besonders im Jugendstrafvollzug weitverbreitete Gewaltform, die dazu dient, in der Statushierarchie der Subkultur zu steigen, stellt das sog. Bullying dar. Hierbei wird eine Person von einer Person oder mehreren Personen über einen längeren Zeitraum hinweg systematisch schikaniert. Die geschieht in Form von Gewalthandlungen oder anderweitigem aggressivem und herabsetzendem Verhalten über einen längeren Zeitraum hinweg. (vgl. Laubenthal 2011, S. 119) Oft sind es genau diese Fälle von Gewalttaten, die das mediale Interesse wecken und an die Öffentlichkeit gelangen, so auch der Fall, der sich in der Justizvollzugsanstalt Siegburg im Jahr 2006 ereignete. Hier wurde ein Gefangener von drei Mitgefangenen über Stunden hinweg misshandelt und sexuell missbraucht, bevor sie ihn dann mit einem aus Bettlaken gedrehten Strick erhängten. Die ausgeprägte mediale Berichtserstattung über diesen Fall führte nicht nur bei einer breiten Öffentlichkeit für eine erstmalige Wahrnehmung der im deutschen Strafvollzug herrschenden Gewalt, sondern auch die Fachwelt widmete sich fortan dem Problem des im Strafvollzug herrschenden Gewaltniveaus als Produkt der Gefangenensubkultur (vgl. Ostendorf 2012, S. 449). Dieser Fall stellt zwar einen extremen Einzelfall dar, jedoch ist besonders im Jugendstrafvollzug diese Art von Gewalt weitverbreitet. Zu diesem Ergebnis kam auch die im Jahre 2012 durchgeführte Studie am Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen (vgl. Bieneck, Pfeiffer 2012). Diese untersuchte neben dem Gewalthandeln im Strafvollzug vor allem auch Opfererfahrungen von Gefangenen. Hierzu wurde eine Fragebogenerhebung durchgeführt, welche ausgehend von der Definition des Bullying indirektes und direktes aggressives Verhalten und Opfererfahrungen zu erfassen versuchte. Die Ergebnisse der Untersuchung stützten sich auf Angaben von 6384 Befragten, darunter 4985 Männer, 461 Frauen und 938 Jugendliche aus Straf- und Jugendstrafvollzugsanstalten. In der Auswertung berücksichtigt wurden nur diejenigen Erfahrungen und Handlungen, welche bis zu vier Wochen vor dem Befragungszeitpunkt gemacht wurden. Auffällig bei der Studie war, dass Jugendliche im Gegensatz zu erwachsenen männlichen und weiblichen Gefangenen viel öfter über Opfererfahrungen, aber auch Gewalthandlungen, die sie selbst begingen, berichteten. So hatten 49 % der befragten jugendlichen Gefangenen nach dieser Studie Erfahrungen mit physischer Viktimisierung in den letzten vier Wochen vor dem Befragungszeitpunkt gemacht. 42 % der befragten Jugendlichen gaben an, aggressive physische Gewalt gegen einen Mitgefangenen in diesem Zeitraum ausgeübt zu haben. Im Vergleich hierzu wurden nur 25,7 % der männlichen Gefangenen im erwachsenen Strafvollzug Opfer von physischer Gewalt durch Mitgefangene und lediglich 17,3 % gaben an, aggressiv gewalttätig gegen einen Mitgefangenen vorgegangen zu sein. Aber nicht nur im Bereich der physischen Viktimisierung, sondern auch in den Bereichen sexuelle Viktimisierung, verbale Viktimisierung oder auch im Bereich der psychischen Viktimisierung lagen die jugendlichen Gefangenen prozentual weit über den Gefangenen im Erwachsenenstrafvollzug. (vgl. Bieneck, Pfeiffer 2012, S. 8) In Bezug auf die Situation im Jugendstrafvollzug kann man nach Auswertung der Ergebnisse dieser Studie zu der Schlussfolgerung kommen, dass Gewalthandlungen im Strafvollzug als Ausdrucksform von Gefangenensubkulturen besonders im Jugendstrafvollzug weitverbreitetet sind und diese Problematik hier weitaus öfter zu beobachten ist als im Erwachsenenstrafvollzug. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Bildung von Subkulturen als Ergebnis der Einschränkung der Freiheit und diverser anderer Beschränkungen, wie diese im Jugendstrafvollzug zahlreich gegeben sind, gesehen werden kann. Eine repressive Vollzugsgestaltung wirkt sich also nicht positiv auf die Schwächung von Subkulturen aus, sondern trägt eher gegenteilig ihrer Stärkung bei. Gefangenensubkulturen stellen deshalb eine so große Gefahr für den Jugendstrafvollzug dar, weil ihre Werte, Normen und Handlungsweisen oft mit den Regeln im Strafvollzug kollidieren. Gewalttaten wie das Bullying, Drogendelikte oder Sexualstraftaten stellen Ausdrucksformen der Gefangenensubkultur dar. Wird die Subkultur dann zum prägenden Sozialisationsrahmen der Gefangenen, steht sie dem Ziel einer künftigen Legalbewährung diametral entgegen. Denn besonders im Jugendstrafvollzug scheint die Anzahl derjenigen, welche sich nicht an dem Erziehungsprogramm der Jugendstrafvollzuganstalt, sondern an den Werten und Normen der Gefangenensubkultur orientieren, besonders hoch zu sein.