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- Edgar Hilsenraths „Der Nazi und der Friseur“ im Holocaust-Diskurs der 1960er und 1970er Jahre. Ein Vergleich der amerikanischen und deutschen Literaturkritik
Soziologie
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Verlag:
Diplomica Verlag
Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH
Hermannstal 119 k, D-22119 Hamburg
E-Mail: info@diplomica.de
Erscheinungsdatum: 03.2020
AuflagenNr.: 1
Seiten: 72
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback
Die Rezeption des Holocaust mit literarischen Mitteln impliziert stets die Frage, nach welchen ästhetischen, aber auch nicht-ästhetischen Konventionen entsprechende Werke gestaltet werden sollen. Besonders die Herangehensweise in Form der Groteske in Hilsenraths Der Nazi und der Friseur provozierte erhebliche Diskussionen um eine angemessene Verarbeitung der Shoah. Die vorliegende Studie bietet eine vergleichende Analyse der zeitgenössischen amerikanischen und deutschen Literaturkritik, um die jeweils herangezogenen Bewertungskriterien zu untersuchen. Dabei zeigt sich, dass in der amerikanischen Kritik vorrangig literaturimmanente Kriterien, hingegen in der deutschen Kritik auch nichtliterarische Kriterien zur Einschätzung der Qualität des Romans herangezogen werden. Die Literaturkritik der Zeit bietet insofern auch Einblicke in die moralisch gefärbten Darstellungs-Konventionen, welche den Holocaust-Diskurs der 1960er und 1970er Jahre überformten.
Textprobe: Kapitel 2 Grundprobleme der Literarisierung des Holocaust: Darstellungskonventionen in Deutschland und den USA: Literarische Darstellungen über den Holocaust waren bis Ende der 1960er Jahre selten. Die Ursachen für dieses eher überraschende Fehlen früher literarischer Zeugnisse liegen – wie Dopheide m. E. treffend vermutet – wohl vor allem darin, die für den begrenzten menschlichen Verstand nicht fassbaren Ereignisse überhaupt in eine ästhetische Form zu kleiden bzw. zu literarisieren. Anders als der Historiker oder der Sozialwissenschaftlicher, der zunächst in einem rein empiristischen Zugang nackte Zahlen zusammenstellen und beschreiben kann, stellt sich das Problem der individuellen Verarbeitung und Interpretation des Erlebten z. B. bei den Opfern der Holocaust in weit höherem Maße. Es nimmt daher auch nicht Wunder, wenn viele Überlebende angesichts der Erfahrungen, die sie in ihrer persönlichen Vergangenheit machen mussten, die Inadäquatheit der sprachlichen Repräsentation herausheben. Primo Levi, der als italienischer Jude Auschwitz überlebte, fasst diese Aporie der Unzulänglichkeit der Sprache treffend zusammen: Uns wurde bewusst […], dass unserer Sprache die Worte fehlen, um diese Beleidigung, diese Zerstörung des Menschen zu beschreiben. Die Reihe der Überlebenden, die ähnlich wie Levi eine skeptische Haltung gegenüber der Verbalisierung der Shoah gegenüberstehen, ließe sich leicht verlängern (so z. B. Aaron Tsaytlin oder sogar Elie Wiesel). Andererseits ist zu bemerken, dass trotz dieses elementaren Problems der sprachlichen Erfassung schon während der NSZeit zahlreiche Versuche unternommen worden sind, persönliche Erlebnisse zu verarbeiten, etwa in Form von Interviews, Zeitzeugenberichten, Autobiographien usf. Mit dem sukzessiven Aufkommen der sprachlichen Aufarbeitung ergibt sich im Zusammenhang mit den Grundüberlegungen zur allgemeinen Inadäquatheit sprachlicher Repräsentation die Frage nach den Konventionen, die literarische Arbeiten zum Thema Holocaust erfüllen müssen. Ein erstes Problem wird durch die Frage nach der Authentizität des Dargestellten aufgeworfen, denn die Literarisierung des Holocaust steht immer zwischen der Relevanz historisch gesicherter Tatsachen und den künstlerischen Freiräumen der Fiktionalisierung – es bedarf kaum der Erwähnung, dass die Grenzen dieser beiden Pole keineswegs scharf sind, denn einerseits muss auch der Historiker aufgrund von Plausibilitäten und Interpretationen argumentieren und andererseits rekurriert jedes Produkt der Holocaust-Literatur zwangsläufig auf Ereignisse, die einen historischen Hintergrund haben. Die spezifische Funktion der Literatur als Medium der Erinnerung und Aufarbeitung sollte in diesem Kontext nicht verkannt werden: Grundlegende Probleme bei dem Versuch, die Genese und das Funktionieren des nationalsozialistischen Systems und seiner Vernichtungsmechanismen zu verstehen und zu erklären, können nicht allein durch einen rekapitulierend-historiographischen Zugriff gelöst werden: Die Spannung zwischen den distanzierten – oftmals empiristischen – Beschreibungen des Vernichtungssystems, den Umständen seiner politischen Entstehung und der arbeitsteiligen Organisation und Bürokratisierung des Massenmordes auf der einen Seite sowie der Wirkmächtigkeit und Verantwortung des Einzelnen und der individuellen Folgen für die Opfer auf der anderen Seite vermag die Historiographie kaum allein zu verarbeiten. Besondere Tragweite erlangt eine solche Feststellung, wenn die Beschreibung des Systems auf die Entschuldigung der Täter und damit gleichermaßen auf eine Verhöhnung der Opfer hinausläuft, indem man z. B. auf die Effektivität der bürokratischen Organisation und die Machtlosigkeit des einzelnen als Rechtfertigungsstrategie zurückgreift. Klassisches Beispiel einer solchen Verteidigungsstrategie ist etwa der Prozess gegen Adolf Eichmann, der sich auf seine systemgemäßen Aufgaben und – argumentativ ebenso fehlgeleitet – auf den Kategorischen Imperativ Kants als Maxime seines Handelns berief, so dass er sich schließlich als subalterner Bürokrat, der mit einigen wenigen Ausnahmen keine Initiative entfaltet hatte und dem der diabolische Charakter und der ideologische Fanatismus, den man ihm unterstellt hatte, gänzlich abgingen darstellte.
Christian Igelbrink studierte die Fächer Germanistik, Geschichte, Erziehungswissenschaft und Medienpädagogik an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Nach dem Staatsexamen folgte die Promotion zum Dr. phil. im Fach Alte Geschichte. Gegenwärtig ist er am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Münster tätig.
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