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- Der kurze Sommer der Anarchie: Der Einfluss der Wende von 1989 auf die Biographien junger Ostdeutscher
Soziologie
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Verlag:
Diplomica Verlag
Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH
Hermannstal 119 k, D-22119 Hamburg
E-Mail: info@diplomica.de
Erscheinungsdatum: 07.2010
AuflagenNr.: 1
Seiten: 96
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback
In vielen seit 1990 entstandenen Jugendstudien wurden abweichende gesellschaftliche wie politische Einstellungen ostdeutscher Befragter gegenüber ihren westdeutschen Altersgenossen beobachtet. Die Begründung, die hierfür häufig angeführt wurde, war die für die Ostdeutschen grundlegend andere Erfahrung eines Lebens in der Diktatur. Zu Beginn der 90er Jahre ging man noch davon aus, dass sich dieses Phänomen im Laufe der nächsten Jahre verflüchtigen würde, doch die Meinungsverschiedenheiten wuchsen stattdessen immer weiter. Nur wenig analytisches Interesse fanden dagegen die Nachwirkungen der Erlebnisse während der Umbruchphase 1989/90 auf die gesellschaftspolitischen Positionen der Befragten und damit auf die Grundlage ihres Handelns im öffentlichen Raum. Dieser Frage nachzugehen ist das Hauptanliegen der vorliegenden Studie. Fundament und Ausgangspunkt sind dabei die persönlichen Erfahrungen und Eindrücke junger Ostdeutscher während der friedlichen Revolution von 1989. Der Autor Michael Kummer fragt die damalig Jugendlichen nach den während des Umbruchs gemachten Erfahrungen und Erlebnissen und wie sich diese auf die späteren Lebensgeschichten und Einstellungen der Befragten auswirkten. Aus den mit Hilfe narrativ-biographischer Interviews gewonnenen Aussagen lässt sich eine Typologie des prägenden Einflusses der spezifischen Situation des Umbruchs von 1989 auf die Biographien erstellen.
Textprobe: Kapitel 4.2.2.3, Das Entfremdungsmotiv: Das für mich interessanteste, weil vielleicht viele der gegenwärtigen Einstellungen und Handlungsweisen der Biographen erklärende, Motiv ist das der Entfremdung durch eine Verlusterfahrung, zumeist das der Euphorie. Es ist eng verbunden mit dem der Erfahrung von Veränderbarkeit und drückt sich in verschiedenen Bildern aus. Für Ulrich sind in erster Linie die Demonstrationen hängen geblieben. In seiner Erinnerung war man für mehr Freiheit, nicht gegen etwas. Es sollte Neues geschaffen werden und genau diesen konstruktiven Hintergrund vermisst er in der heutigen Gesellschaft. Uwe und Gunda wurden durch die Wendereignisse zu weiteren aktivem politischen Handeln inspiriert und beide wurden enttäuscht. Uwe hat sich im Jahr 1990 als Schülersprecher hervorgetan und für sich dann doch festgestellt, dass die Wünsche der Schüler nicht durchzusetzen waren, ja, sie gar nicht beachtet wurden. Bei Gunda ging die Inspiration als auch die Enttäuschung durch die Wendezeit noch tiefer. In den Jahren 1991/92 hielt sie sich viel in Kreisen studentischer Linker auf und genoss das Gefühl wie einst in den Wendetagen, ernst genommen zu werden und ihr Leben selbst gestalten zu können: ‘Erstmal dieses Gefühl ‚Alles ist möglich’, so. Das empfinde ich jetzt nicht mehr so, also ich würde jetzt nicht sagen, dass alles möglich ist, ja, aber in dem Moment weiß ich, dass ich das Gefühl hatte ‚Alles ist möglich’, ‚Alles ist offen’, wo geht es hin, diese Neugier, was passiert jetzt, also das ist schon was und ich denke, auch dieses plötzliche ‚Freiheit haben’ und dieses plötzlich ‚Alles Können’, alles auszuprobieren, dieser Schock der Möglichkeiten, das denke ich ist auch so ein Phänomen.’ Aus heutiger Sicht, zwei Kinder, alleinstehend, arbeits- und mittellos, stellt sie dann ernüchtert fest, dass sie an ihr Leben nach der Wende viel zu euphorisch und idealistisch herangegangen ist. Es fällt ihr schwer sich einzuordnen, sich fremdbestimmen zu lassen, und wenn sie es tut, hat sie oft das Gefühl, sich zu verkaufen. Lieber hält sie an einem Idealismus eines selbstbestimmten Lebens fest, der es ihr oft verbietet, Kompromisse einzugehen. Das ist nachvollziehbar, denn wenn man einmal selbstbestimmt und unabhängig gelebt hat (oder das zumindest so empfunden hat), ist der Versuch, dieses autonome Dasein erneut zu inszenieren, eine der möglichen Reaktionen auf das nach diesem Leben einsetzende Gefühl der Entfremdung. Da das nun nicht mehr im gesamtgesellschaftlichen Rahmen möglich ist, wird man versuchen, auf Mikrokosmen auszuweichen. Möglicherweise kann man es auch als die Suche nach der alten Mächtigkeit bezeichnen. In diese Richtung verweisen auch die Erzählungen Karls. Ihm ist nach der Wende klar geworden, dass Politik nicht ehrlich ist, ja, nicht sein kann. Er ist im Wortsinne desillusioniert worden. Seine Wendeeuphorie ebbte sehr schnell ab und er zog sich in seinen Mikrokosmos zurück, seine nunmehr gegründete Familie. Irgendwann in den 90ern ist Berta klar geworden, dass sie durch ihre Beteiligung an den Wendeereignissen, und sei diese aus ihrer Sicht auch noch so unbedeutend gewesen, an etwas Großen und dabei so Friedlichem teilgenommen hat. Die Idee des gewaltlosen Widerstands gegenüber struktureller Gewalt führte sie auf die Spuren Martin Luther Kings und schließlich wendete sie sich dem Buddhismus zu. Nicht sicher bin ich mir, ob hier nicht auch die Suche nach einem Mikrokosmos gefüllt mit Inhalten aus der verlorenen Zeit deutlich wird, doch deutet einiges darauf hin. Aus diesen Interpretationen heraus drängen sich für die Frage nach der Haltung zur Bundesrepublik Deutschland und zur Demokratie bundesdeutscher Prägung neue Gruppenbildungen auf. Dafür möchte ich die Gruppe der Unbedarften um diejenigen erweitern, die für sich keine Prägungen der Wendezeit feststellen konnten und um diejenigen verkleinern, bei denen der Glaube an die Veränderbarkeit oder Entfremdungstendenzen zu beobachten sind. Zentral sind für mich dabei Äußerungen, die auf Entfremdungen schließen lassen. Ich bin mir darüber bewusst, dass diese Art der Gruppierung grob und unsystematisch erscheinen kann, doch dient sie dem weiteren Verlauf der Analyse und wird am Ende der Arbeit teilweise wieder aufgelöst. Die Gruppe der Veränderbarkeitsgläubigen wird dann die dritte Gruppe sein, die mich in ihren politischen Einstellungen interessiert. Es gibt an dieser Stelle Überschneidungen, doch das Motiv der Entfremdung habe ich als maßgeblich eingeschätzt (und damit die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe).
Michael Kummer wurde 1974 in Erfurt geboren. Der Autor studierte Geschichte und Politikwissenschaft an den Universitäten in Jena, Dresden und Siena (Italien) und schloss im Jahre 2004 mit dem akademischen Grad des Magister Artium ab. Einen ebenso erfolgreichen Abschluss erreichte Michael Kummer mit dem 1. Staatsexamen im Jahre 2007 nach einem Lehramtsstudium (Gymnasium) in den Fächern Geschichte und Sozialkunde an der Universität Rostock. Angeregt durch die Frage, welche Rolle die eigenen Erlebnisse in den Tagen der Wende von 1989 als 15-jähriger Schüler in seinem Leben einnehmen, beschäftigte sich der Autor immer wieder mit dieser Thematik. Beeinflusst und in die Lage versetzt durch Lutz Niethammer, bei dem der Auto studierte, wählte Michael Kummer hierzu schließlich den Zugang durch die Oral History.
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