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- Crowd Management: Verhinderung von Massenphänomenen bei Großveranstaltungen
Soziologie
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Verlag:
Diplomica Verlag
Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH
Hermannstal 119 k, D-22119 Hamburg
E-Mail: info@diplomica.de
Erscheinungsdatum: 04.2014
AuflagenNr.: 1
Seiten: 84
Abb.: 15
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback
Massenveranstaltungen wie nationale und internationale Fußballspiele, Public-Viewing-Veranstaltungen, aber auch Open-Air-Konzerte erfreuen sich immer größerer Beliebtheit. Die Entwicklung der gesellschaftlichen Bedürfnisse und Wünsche hat in den letzten Jahren zu einem drastischen Anstieg an Massenveranstaltungsstätten geführt. Auf immer enger werdenden Räumen werden immer mehr Menschen zusammengeführt. Diese Mengenprobleme bei Großveranstaltungen stellen eine zunehmende Herausforderung insbesondere an die polizeiliche Planung und Vorbereitung eines solchen Events dar. Sie erfordern das Wissen über Massenphänomene und die Möglichkeit durch taktisches Vorgehen bzw. zeitnahe Interventionen solche Menschenmassen zu beeinflussen. Panikverhütung und -bekämpfung setzt eine Analyse des panischen Reagierens Einzelner in einer Menschenmasse voraus, zu deren Verständnis psychiatrische und psychologische Grundkenntnisse mit Angst, Schreck, Erregung und Kollektivreaktionen erforderlich sind. Die Studie setzt sich zunächst mit der Frage auseinander, wie eine Massenpanik entsteht, wie sich eine große Menschenmasse in einer Paniksituation verhält und welche Präventions- und Interventionsmaßnahmen aus polizeilicher Sicht möglich sind.
Textprobe: Kapitel 7, Computergestützte Simulationen: Eine für das Crowd Management immer bedeutender werdende Methode ist die Fußgänger-Simulation. Vor jeder Großveranstaltung stellt sich die Frage, wie viel Zeit eine im Schadensfall durchzuführende Entfluchtung, also eine Evakuierung, in Anspruch nehmen würde. Ebenso ist es von großer Bedeutung, im Vorfeld zu wissen, an welchen Stellen der Versammlungsstätte bei einer Evakuierung oder im Panikfall sozialpsychologische oder physikalische Phänomene wie beispielsweise eine Flaschenhals-Situation oder andere ‘soziale Kräfte’ auftreten können, welche eine Evakuierung erschweren. Auch stellt sich die Frage, wie viele Besucher für eine bestimmte Großveranstaltung zugelassen werden können, denn die invariante Bestimmung der MVStättV ‘zwei Personen pro Quadratmeter’ oder die Direktive, bei einer bestimmen Anzahl an geplanten Besuchern eine fest definierte Anzahl an Notausgängen und Rettungswegen mit vorgegebenen Breiten vorzuhalten, ist zwar ein Anhaltspunkt, aber sie berücksichtigt nicht die verschiedenen Parameter, welche während einer Veranstaltung auftreten können. Ganz deutlich wird dies im Interview mit Frau Dr. Köster. Sie erläutert, dass es viel zu kurz greift, die Sicherheit von Versammlungsstätten lediglich nach festen Parametern wie beispielsweise Türbreiten zu definieren. Solche Bestimmungen seien zwar sehr wichtig und man sollte solche Vorschriften keinesfalls schlechtreden, jedoch muss ein Veranstaltungsgelände als Ganzes betrachtet werden. Es muss genauestens überprüft werden, ob die vorhandenen Türbreiten auch zu den dahinterliegenden Wegen, Treppen und Abgängen passen und wie sich an dieser Stelle eine Menschenmenge in einer Paniksituation verhält. Einer der Grundsteine für die Entwicklung eines Simulationsmodells wurde im Jahre 1999 gelegt, als das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderte Forschungsvorhaben BYPASS (Bewertung und Analyse von Evakuierungsvorgängen auf Passagierschiffen mit Hilfe mikroskopischer Simulationstechnik) an der Universität Duisburg ins Leben gerufen wurde. Aktuell gibt es neben anderen Forschungsvorhaben auf diesem Gebiet ein durch das BMBF gefördertes Forschungsprojekt, welches sich mit innovativen Konzepten zur regionalen Evakuierung unter Einbeziehung mobiler Informationssysteme beschäftigt. Ziel dieses Projektes REPKA (Regionale Evakuierung – Planung, Kontrolle und Anpassung) ist es, regionale Evakuierungen durch den Einsatz von neu zu entwickelnden Modellen der mathematischen Simulation und Optimierung besser planen, kontrollieren und an geänderte Gegebenheiten anpassen zu können. Zur Überprüfung der Modelle wird das individuelle Evakuierungsverhalten erfasst und mit den modelltheoretischen Vorhersagen verglichen. Das Projekt, an dessen Besprechung bei einem zweitägigem Kick-off-Treffen ich in Kaiserslautern teilnehmen durfte, wird durch die Technische Universität Kaiserslautern koordinieret. Weitere Projektpartner sind u.a. das Lehrgebiet Stadtsoziologie der TU Kaiserslautern, der Arbeitskreis Notfallmanagement und Katastrophenschutz mit dessen Leiter, meinem Interviewexperten Polizeidirektor Brühl, darüber hinaus die Firma Siemens AG, u.a. mit Frau Dr. Köster als weiterer Interview-Expertin, sowie dem Frauenhofer-Institut München. Ein Simulationsmodell entspricht dem mikroskopischen Ansatz, da es die Bewegung jeder einzelnen Person simuliert. Schwierig ist es hier, die psychologischen Parameter wie z.B. die bereits beschriebenen ‘sozialen Kräfte’ in mathematische Logarithmen bzw. physikalische Formeln zu bringen, da jedes Individuum in einer Menschenmenge eine andere Motivation hat, das jeweils gewünschte Ziel zu erreichen (siehe Kapitel 4.3.4.). Frau Dr. Köster erklärt bei der Expertendiskussion das Simulationsmodell der Siemens AG. Dieses Modell beschäftigt sich damit, wie sich eine große Menschenmenge verhält, also nicht nur Einzelne bzw. kleine Personengruppen. Das Modell basiert auf Kenntnissen aus der Physik und modelliert die Kräfte zwischen den einzelnen Objekten. Diese Objekte können z.B. Moleküle, aber auch Personen sein. Es wird also nach der Vorgabe simuliert, als ob die Elektronen Personen wären, welche sich gegenseitig abstoßen und somit nicht ineinander laufen. Ebenso abstoßen können sie sich von Hindernissen oder Wänden. Sie können aber ebenso von ‘positiv geladenen’ Zielen, also z.B. von einer Konzertbühne, angezogen werden. Hierbei spricht man von ‘sozialen Kräften’. Darüber hinaus muss aber auch beachtet werden, dass Elektronen im Gegensatz zum Menschen kein Gesichtsfeld haben, also keine Einschränkung des Raumes, der mit dem Auge überblickt werden kann. Oder etwa, dass Menschen mit verschiedenen Geschwindigkeiten gehen und dass diese Geschwindigkeit auch davon beeinflusst wird, wie dicht die Menschenmasse ist. Diese Parameter müssen in ein Simulationsmodell, das ständig verfeinert wird, aufgenommen werden. Ein Simulationsprogramm kann somit helfen, die in Kapitel 4.3. beschriebenen Massenphänomene und kollektiven Verhaltensweisen anhand des jeweiligen Veranstaltungsgeländes in Verbindung mit der erwarteten Besucherzahl in der Einsatzplanung zu simulieren, um so das Crowd Management im Planungs- und Entscheidungsprozess zu optimieren. Zu beachten ist, dass es weltweit bereits verschiedenste Simulationsprogramme auf dem Markt gibt. Für den Nutzer dieser Simulationsmodelle, wie beispielsweise Polizei, andere BOS-Einrichtungen wie Katastrophenschutz, Feuerwehren, Sanitäts-/Rettungsdienste, aber auch für die Veranstalter von Großveranstaltungen ist es kaum möglich zu beurteilen, wie die Qualität und die Anwenderfreundlichkeit der einzelnen Programme und damit das Ergebnis der Simulation tatsächlich ist. Häufig müssen die Parameter erst an Situationen und Szenarien angepasst werden. Die jeweilige Behörde oder Prüfsachverständigenbüros eines Planungsbüros, welche die Simulations-programme nutzen wollten, mussten sich bislang auf das Renommee des jeweiligen Softwareherstellers und auf die Glaubwürdigkeit des Anwenders verlassen. Um hier Abhilfe zu schaffen und auch die Verbindung zur MVStättV herzustellen, ist die Initiative ‘RiMEA’ (Richtlinie für Mikroskopische Entfluchtungs-Analysen) ins Leben gerufen worden. Ziel der Initiative war es zunächst, für die Fußballstadien in Deutschland (WM 2006), Österreich und der Schweiz (EM 2008) einheitliche Standards für Simulationsuntersuchungen zu diskutieren und einzusetzen. Es zeigte sich aber schnell, dass eine breitere Diskussionsplattform notwendig ist, um gemeinsame Standards festzulegen. Bei den Experteninterviews der drei Polizeibeamten in leitenden Funktionen und mit langjähriger Erfahrung in der polizeilichen Leitung von Großveranstaltungen wurde deutlich, dass alle drei die Einführung von Simulationsprogrammen für den polizeilichen Planungs- und Entscheidungsprozess begrüßen würden. So sagt Leitender Polizeidirektor Köber, dass ein Simulationsprogramm ein wesentlicher Baustein wäre, um sich qualitativ zu verbessern. Bislang gab es solche Programme nicht, aber zur Erstellung von Planentscheidungen wären sie durchaus von Vorteil. Zusätzlich kann ein solches Programm, losgelöst von einem konkreten Einsatz, für Übungen verwendet werden. Auch hier wäre eine Simulation wünschenswert. Ebenso bezeichnet Herr Himmelhan den Einsatz solcher Modelle als sinnvoll. Man sollte mit dem Veranstalter und den BOS ein solches Programm gemeinsam nutzen, da es beim Public Viewing oder bei Fußballeinsätzen durchaus im Cateringbereich zu einem Schadensereignis kommen kann. Nicht zuletzt befürwortet auch Polizeidirektor Brühl den Einsatz eines Simulationsprogramms. Herr Brühl ist der Auffassung, dass sich die Polizei bei der Beurteilung der Lage weiterentwickeln muss. Hierzu gehört, dass solche Programme verwendet werden. Ein solches Programm führt zwar nicht zu einer Kräftebemessungstabelle, aber die Beurteilung der Lage muss künftig noch präziser erfolgen, und hierzu benötigt die Polizei solche Simulationsprogramme, um insgesamt im Grenzbereich und auch für Planentscheidungen besser zu werden.
Christian Zacherle wurde 1969 in Amberg/Bayern geboren. Seit 1987 ist er Polizeibeamter in Baden-Württemberg. Nach dem Diplom-Studium zum gehobenen Dienst an der Fachhochschule für Polizei Villingen-Schwenningen im Jahr 1999 und der Verwendung im mittleren Führungsmanagement der Polizei, absolvierte er 2009 an der Deutschen Hochschule der Polizei in Münster-Hiltrup ein Master-Studium mit dem Abschluss Master of public administration and police management . Seitdem leitet er im höheren Dienst das Polizeirevier Heidelberg-Mitte und führt in dieser Funktion auch polizeiliche Großeinsätze.