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- Bindungstraumata bei fremdplatzierten Kindern in stationären Wohngruppen. Möglichkeiten und Herausforderungen für pädagogische Fachkräfte
Soziologie
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Verlag:
Diplomica Verlag
Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH
Hermannstal 119 k, D-22119 Hamburg
E-Mail: info@diplomica.de
Erscheinungsdatum: 11.2022
AuflagenNr.: 1
Seiten: 88
Abb.: 12
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback
Wenn Kinder in frühester Kindheit im engsten familiären Rahmen Opfer traumatisierender Erlebnisse werden, sind sie dauerhaft von den Folgen betroffen. Sie haben spezifische Überlebensstrategien entwickelt, um erlebtes Grauen überstehen zu können - Verhaltensweisen, welche für andere oft auch verstörend und belastend sind. Gemäß entsprechender Studien haben rund 75% der Kinder in Wohngruppen der Erziehungshilfe traumatische Erfahrungen, sogenannte Bindungstraumata. Die stationäre Jugendhilfe ist für betroffene Kinder der aus traumapädagogischer Sicht Sichere Ort auf physischer, emotionaler und psychosozialer Ebene. Mit der hier vorliegenden Studie soll geprüft werden, ob der Rahmen solcher stationären Wohngruppen ein förderliches pädagogisches Umfeld für Kinder mit hochbelastender Biografie bietet, in welchem solche bindungstraumatischen Erfahrungen aufgearbeitet werden können. Die Untersuchung fokussiert dabei die Altersgruppe der Kinder von sechs bis zehn Jahren (Grundschulalter). Neben den pädagogischen Möglichkeiten soll die Studie auch besondere Herausforderungen und Schwierigkeiten für die pädagogischen Fachkräfte in diesem anspruchsvollen Tätigkeitsfeld aufzeigen. Diese methodische Recherchearbeit im Rahmen einer Literaturstudie gibt den aktuellen Stand wieder und liefert kritische Hinweise für wünschenswerte Veränderungen sowie Empfehlungen für deren Umsetzung.
Textprobe: Kapitel 2.2.4: Transmission von Beziehungs- und Bindungserfahrungen: Bereits Bowlby postulierte, dass Kinder neben ihren primären Fürsorgepersonen Bindungen zu alternativen Bezugspersonen entwickeln können (Julius et. al., 2020, S. 127). Bisherige Forschungen zu Kontinuität und Diskontinuität von Bindungsmustern zeigen auf, dass Bindungsmuster grundsätzlich veränderbar sind, d. h. trotz einer Aufrechterhaltungstendenz eine gewisse Plastizität zur Modifikation in alle Richtungen ermöglichen (Julius et. al., 2009, S. 225). Bowlby selbst nahm dazu zwei Möglichkeiten der positiven Beeinflussung an: Reflexion und neue positive Bindungserfahrungen. Da die Reflexion aufgrund mangelnder kognitiver Reife im Alter von sechs bis zehn Jahren nicht möglich ist, bieten sich für Kinder in diesem Alter erfahrungsbasierte, bindungsgeleitete Interventionen an. Bei bindungstraumatisierten Kindern besteht in der Herkunftsfamilie oft keine Behandlungsmotivation, auch sind diese Kinder häufig fremdplatziert, daher gibt es hier bindungsgeleitete Interventionsansätze mit korrigierenden Beziehungserfahrungen zu Erzieher:innen in den stationären Einrichtungen (op. cit., S. 226). Pädagogische Fachkräfte, insbesondere in der Heimerziehung, bieten beständige vorhersehbare Präsenz sowie emotionale und physische Fürsorge für die dort wohnenden Kinder. Da diese Fürsorge von den Kindern in der Regel auch angenommen und erwartet wird, kann hier von einer Übernahme der Fürsorgefunktion ausgegangen werden. Eine solche Transmission von Bindung für von traumatischen Bindungserfahrungen betroffene Kinder in Wohngruppen kann sehr förderlich sein, wenn die pädagogischen Fachkräfte reflektiert mit der Thematik umgehen. Es besteht hier sonst die Gefahr, dass die entsprechenden Kinder im Sinne des Konzepts der Assimilation ihr inneres Schema von Bindung auf die neuen Bindungspersonen übertragen bzw. ihr Verhalten der eigenen Verhaltenserwartung anpassen. Wenn die Kinder sich dementsprechend zurückweisend, klammernd oder kontrollierend zeigen, könnten Erzieher:innen sich komplementär verhalten und somit die negative Bindungserfahrung unbewusst wiederholen (Julius et. al., 2020., S.129-131). Dieser Effekt auf ist auf Seite der pädagogischen Fachkräfte auf das Fürsorge-Verhaltenssystem zurückzuführen, welches sich unbewusst bzw. intuitiv an die Anforderung in bindungsrelevanten Situationen anpasst. Ein mögliches Verhalten der Kinder ist hier als Anpassungsleistung zu interpretieren, so hat z.B. ein niedriger Oxytocinspiegel im Falle misshandelnder Eltern dazu geführt, dass das Kind den Eltern nicht mehr vertraut und sich emotional verschließt, was in der Folge die Wirkung bestehender Traumata mindert. Die hoch aktivierten Stressachsen sorgen für eine Vorbereitung auf Gefahren und antizipatorische Wahrnehmung von Anzeichen einer erneuten bevorstehenden Misshandlung (op. cit., S.149). Aus der Erkenntnis der Bedeutung von Erzieher:innen als sekundären Fürsorgepersonen und der hemmenden bzw. negative Muster fördernden Wirkung komplementären Verhaltens entstand das CARE?-Programm. Es handelt sich um ein seit 2010 von der Universität Rostock in Kooperation mit anderen internationalen Universitäten entwickeltes Interventionsprogram, welches auf die kurative Wirkung sicherer Bindungsbeziehungen verweist. Ein wichtiger Baustein des Programms ist das Erlernen bindungsmusterspezifischer Feinfühligkeit. Dies bedeutet, durch entsprechende Sensitivität auch intuitiv widersprüchliche oder herausforderndere Verhaltensweisen richtig zu interpretieren und mit Responsivität adäquat zu reagieren. Die pädagogischen Fachkräfte benötigen eine hohe Empathie und eine gut ausgebildete Theory of Mind (ToM) um das kindliche Verhalten nicht zu werten oder sanktionieren, sondern wirklich zu verstehen. Wenn es gelingt, in einem weiteren Schritt dem Kind mittels der Technik des Spiegelns zu zeigen, dass die wirkliche Intention des Verhaltens erkannt wurde, fühlt sich das Kind möglicherweise das erste Mal im Leben verstanden (op. cit. S. 151). Emotionen sollten nur vorsichtig und ggf. indirekt gespiegelt werden, da emotionale Nähe bei desorganisiert gebundenen Kindern auch Stress auslösen kann. Um keinen Widerstand zu aktivieren, sollten Botschaften nicht in der Du-Form, sondern als Ich-Botschaften formuliert werden. Diese gespiegelten Ich-Botschaften sollten die Erwartungen des Kindes verbalisieren, die Verhaltensstrategie spiegeln sowie eine Transformation in einen positiven Ausgang anbieten. Um durch eine positive Beziehungserfahrung eine Veränderung der bisherigen Bindungsrepräsentation zu erreichen, bedarf es auch einer Anpassung an den emotionalen Zustand des Kindes sowie den Entwicklungsstand. Konkret bedeutet dies, dass das richtige Maß emotionaler Nähe mit einer der Entwicklungsalter entsprechenden kindgerechten Sprache verknüpft wird. Wilma Weiß sieht in positiven Beziehungserfahrungen den vielleicht wesentlichsten Beitrag für eine gelingende Traumabearbeitung. Traumatisch belastete Kinder kennen die Erfahrung für jemanden Bedeutung zu haben meist nicht. Daher ist jede Stunde, jeder Moment einer als exklusive Beziehung erlebten Beziehung für diese Kinder von besonderer Bedeutung. Diese Begebenheiten sind für die Kinder oft noch nach Jahren präsent und stellen somit eine alternative Bindungserfahrung dar (Weiß et. al., 2016, S. 27). Ebenso können positive Beziehungen zu Gleichaltrigen im Gruppenkontext oder darüber hinaus eine Bindungssicherheit begünstigen. Im Idealfall stellt die stationäre Wohngruppe eine heilende Gemeinschaft stabiler sozialer Beziehungen dar, in der die Kinder Beziehungsvielfalt leben (op. cit, S. 27). 2.2.5, Möglichkeiten pädagogischer Intervention in der Gruppe: Voraussetzung für gelingende heilpädagogische und/oder traumapädagogische Interventionen für bindungstraumatisierte Kinder ist zunächst die Umsetzung des Prinzips des Sicheren Ortes sowie die Annahme einer positiven Beziehungsgestaltung durch pädagogische Fachkräfte der Gruppe. Eine sich dann eröffnende Methode, die eigene Lebensgeschichte zu ordnen, aber auch durch Verbalisierung und ggf. Visualisierung nachzuempfinden bzw. wiederzugeben, bietet dann die Möglichkeit, bisher ausgeblendete Ereignisse in die Biografie zu integrieren (Bärwald, 2018, S. 101). Hierfür bietet sich beispielsweise die Gestaltung eines Lebensbuches an, welches bereits ab ca. fünf Jahren mit dem Kind gemeinsam erstellt werden kann. In der Form des Lebensbuchs besteht immer die Möglichkeit, die dort festgehaltenen Informationen zu einem anderen Zeitpunkt neu zu bewerten und ggf. zu verändern. Da sich durch die Biografiearbeit wahrscheinlich traumabedingt Berührungspunkte auftun, welche hohen Stress für das Kind bedeuten können, ist hier äußerst sensibel vorzugehen. Wichtig ist die richtige begleitende Person und der richtige Zeitpunkt, Vermeidung von Retraumatisierung und eine möglichst gute Fähigkeit der eigenen Stressregulation der Kinder. Bei einer Gefahr der Retraumatisierung muss dieser Bereich zur späteren Bearbeitung, ggf. mit therapeutischer Unterstützung, ausgeklammert werden. Die Biografiearbeit sollte dann im positiven Sinne weitergeführt werden, denn sie bietet eine wertvolle Unterstützung und Strukturierungshilfe für die Kinder. Um eine sichere bindungsartige Beziehung zu pädagogischen Fachkräften in einer Einrichtung aufzubauen, benötigt es in der Regel mindestens ein Jahr. Um diese Zeit zu verkürzen und effektiv zu nutzen, kann eine weitere Ressource gut eingesetzt werden, die spielerische, symbolische Interaktion (Julius et. al., 2020, S. 164). Derartige Techniken können von heilpädagogischen Fachkräften bzw. Erzieher:innen mit entsprechender Qualifikation bzw. Fortbildung im Gruppenrahmen, besonders bei Kindern im Grundschulalter, gut durchgeführt werden. Ein derartiges Konzept stellt die Ebene 2 des CARE?-Programms der Universität Rostock dar. Die Interaktion mit dem Kind findet dann nicht mehr über die reale Interaktionsebene statt, sondern auf einer symbolischen Ebene, vermittelt durch Handfiguren bzw. Handpuppen. Das Verfahren nutzt den Mechanismus der Projektion, wobei Wünsche und Ängste, aber auch Bewältigungsstrategien auf symbolische Figuren übertragen werden. Dabei zeigt sich eine erste Projektion oft in der Wahl der Spielfigur. Aus dem weiteren Spielverhalten lassen sich Rückschlüsse über das Erleben und Verhalten des Kindes ziehen. Die pädagogische Fachkraft wählt hier analog zur Lebenswirklichkeit eine Figur mit einer Fürsorgefunktion. Die übertragene symbolische Funktion macht es für das Kind leichter, veränderte Beziehungserfahrungen auszuprobieren, auch sind stressbesetzte Interaktionen auf der symbolischen Ebene besser auszuhalten. Dabei ist es wichtig, dass die Erzieher:innen auch im Spiel gute Handlungsalternativen den komplementären, d. h. intuitiv auf die im Spiel repräsentierten bindungsrelevanten Verhaltensweisen aufzeigen.
Michael Hubig, Jahrgang 1963, in Minden geboren, ist verheiratet und hat 2 Töchter. Nach langer selbstständiger Tätigkeit studierte der Autor zunächst Soziale Arbeit und direkt im Anschluss Heilpädagogik. Praktische Erfahrungen konnte er vor und während des Studiums durch langjährige Tätigkeit in der rechtlichen Betreuung sowie Praktika im Bereich der Vormundschaft für Minderjährige sammeln. Sehr schnell war für den Autor klar, dass seine Perspektive im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe liegt. Es folgten mehrere Jahre in einer stationären Intensivwohngruppe sowie die Tätigkeit als Therapeut für autistische Kinder. Das besondere Interesse des Autors liegt eindeutig im Bereich der Traumapädagogik und der Psychotraumatologie, daher fokussiert sich seine weitere fachliche Ausrichtung auf diesen Bereich.
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