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Sozialwissenschaften
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Verlag:
Bachelor + Master Publishing
Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH
Hermannstal 119 k, D-22119 Hamburg
E-Mail: info@diplomica.de
Erscheinungsdatum: 09.2012
AuflagenNr.: 1
Seiten: 80
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback
Am 1. Juni 1961 führte die Berliner Schering AG die erste Antibabypille für den westdeutschen Markt ein. Vier Jahre später folgte die ehemalige DDR mit einem eigenen Präparat, doch im Gegensatz zur Bundesrepublik wurde sich hier für eine positive Konnotation in der Benennung entschieden, das Produkt wurde unter dem Namen ‚Wunschkindpille’ bekannt. Heute verhüten über die Hälfte aller deutschen Frauen mit der Pille und es ist mittlerweile selbstverständlich den Zeitpunkt für die Geburt eines Kindes frei zu wählen. Doch entgegen aller Erwartungen machen viele Wunschkinder Probleme. Obwohl diese Kinder oft zutiefst gewollt sind und sowohl materiell, als auch pädagogisch besser gefördert werden als jede vorangegangene Generation, häufen sich die Klagen von Erziehern und Lehrern über verhaltensgestörte Kinder und unreife Jugendliche. Viele Eltern reagieren mit Verunsicherung und Hilflosigkeit auf die Schwierigkeiten ihrer Kinder und professionalisieren sich mit der Hilfe von Ratgeberliteratur zunehmend selber. Andere geben die Verantwortung zunehmend an Nachhilfeinstitute, Förderzentren oder Therapeuten ab. Die Ursachen für das unerwünschte Verhalten bleiben dabei oft im Dunkeln. Ist die Entkopplung von Sexualität und Fruchtbarkeit durch die Pille für die Kindheit nicht ohne Konsequenzen geblieben? Ist das Wunschkind letztendlich ein verwünschtes Kind?
Textprobe: Kapitel 3.3, Die Reproduktionsmedizin: Durch Entwicklungen in Medizin, Genetik und Biologie wird immer mehr eine gezielte Konstruktion von Elternschaft möglich. Auf der Suche nach dem ‘Wunschkind’ drängen sich zwangsläufig zahlreiche Angebote auf, die Paaren mit Hilfe der modernen Reproduktionsmedizin helfen wollen, ihren Kinderwunsch zu erfüllen oder auf Selbsthilfegruppen, die diesem Prozess beratend zur Seite stehen. So wirbt das Kinderwunschzentrum Hamburg in seinem Leitbild mit dem Slogan ‘Vom Kinderwunsch zum Wunschkind’. Die In-Vitro-Fertilisation stellt in Deutschland , unter der Voraussetzung, dass beide Elternteile an der Zeugung des Kindes beteiligt sind, die extremste Form der Trennung von Sexualität und Fruchtbarkeit dar. Sie bietet Paaren, die auf natürlichem Weg keine Kinder bekommen können, die Chance mit Hilfe ‘assistierter Fortpflanzung’ Eltern zu werden. Das für diesen Zweck angewendete Verfahren IVF basiert auf der Entnahme von Ei- beziehungsweise Samenzellen bei Frau und Mann. Im Labor werden beide zusammengebracht. Entstehen ein oder mehrere Embryonen, so werden diese in die Gebärmutter der Frau eingesetzt, um eine Schwangerschaft herbeizuführen. Die Aussichten auf eine erfolgreiche Schwangerschaft liegen bei ca. 40%, in Deutschland würde nach Angaben des IVF- Registers jedes 80. Kind per IVF gezeugt. Neben der Hilfe für kinderlose Paare ist die Reproduktionsmedizin mittlerweile ein relevanter Wirtschaftszweig. Nach Schätzungen des Handelsblatts wurden in diesem Bereich im Jahr 2010 sechs Milliarden Euro umgesetzt, 300 Millionen davon entfielen auf Deutschland. 3.3.1, Vom Bastelkind zum Designer-Baby: Claus Buddeberg, Arzt in der Reproduktionsmedizin, schlägt in seinem Beitrag im Sammelband ‘Projekt Wunschkind’ vor, den Begriff ‘Wunschkind’ in diesem Zusammenhang zugunsten der Bezeichnung ‘Bastelkind’ aufzugeben. Er begründet seine Entscheidung mit den veränderten Voraussetzungen, unter denen heute Kinder geboren werden. Der Begriff ‘basteln’ impliziere nicht nur ein aktives Gestalten auf Grundlage eines Plans, sondern auch die Möglichkeit eines letztendlich trotzdem ‘misslungenen Produkts’. Darüber hinaus betont er die Beteiligung von zunehmend mehr Personen am Projekt ‘Wunschkind’. Neben der Mutter und dem Vater seien häufig schon eine Vielzahl von Spezialisten an der Zeugung und Planung eines Kindes beteiligt. Die Ansprüche der Paare an diese ‘Bastelkinder’ scheinen die in anderen Teilen der Arbeit geschilderten Wünsche und Hoffnungen noch zu übertreffen. Einige Ärzte glauben Symptome einer ‘Konsumentenhaltung’ bei potenziellen Eltern zu erkennen. Der populär gewordene Begriff ‘Designer-Baby’ suggeriert, man könne ein Kind von der Haarfarbe bis zur sexuellen Ausrichtung den Plänen der Eltern anpassen. Doch reichten laut der Medizinerin Agnes Flöel weder moderne Technologien noch das heutige Wissen über das menschliche Gnom aus, um dieses zu ermöglichen. Der Stand der Medizin erlaube es vor der Implantation einer befruchteten Eizelle allenfalls, einige Aussagen über grobe genetische Auffälligkeiten zu machen. Dieser Prozess würde laut Flöel im Zuge einer allgemeinen Technikgläubigkeit oft überschätzt und führe zu einer Anspruchshaltung auf ein gesundes Kind. Der Jurist Christoph Thole zieht unter dem Stichwort ‘Kind als Schaden’ in der Zukunft sogar Haftungsklagen enttäuschter Eltern gegen Reproduktionsärzte in Betracht. Auch Elisabeth Beck-Gernsheim sieht in ihrem Aufsatz ‘Vom Kinderwunsch zum Wunschkind’ die Entwicklung gerade auf dem Gebiet der Pränataldiagnostik kritisch. Sie zitiert an dieser Stelle den Arzt Hermann Depp folgendermaßen: ‘Mit diesen medizinischen Fortschritten [der Pränataldiagnostik] werden weitere Begehrlichkeiten geweckt und vertieft. Der zunehmende Anspruch auf ein gesundes Kind mag am Ende soweit gehen, daß sich eine Art ‘Pflicht zum unbehinderten Kind’ entwickeln könnte.’ Beck-Gernsheim deutet solche Ansprüche als Fortsetzung eines Trends, dessen erste Maxime es sei, optimale Startchancen für das Kind zu schaffen. Und das nicht erst nach der Geburt, sondern schon im Stadium davor. Damit bahne sich eine neue Dimension der elterlichen Verantwortung an. Nicht nur, aber gerade bei In-Vitro-Befruchtungen sei der Druck besonders hoch, keine Diagnostik auszulassen, um mögliche Erkrankungen im Vorfeld ausschließen zu können. Wer solche Untersuchungen verweigere, gelte als ignorant, dumm und egoistisch. Beck-Gernsheim bezieht sich an dieser Stelle auf den Philosophen Martin Sass, der ‘risikoreiche Fortpflanzungsentscheidungen’ in einem Interview als unverantwortlich der Gesellschaft gegenüber bezeichnete, die schließlich einen ‘schwerst Benachteiligten’ in ihre Solidargemeinschaft aufnehmen müsse. Da der Begriff der Verantwortung auch immer die Möglichkeit des sich ‘schuldig machen’ durch ihre Unterlassung berge, sieht Berk-Gernsheim für betroffene Frauen das Risiko, sich lebenslang schuldig zu fühlen oder von ihrer Umgebung für schuldig befunden zu werden. Als weitere Folge der angestrebten Optimierungs- und Auswahlverfahren befürchtet Beck-Gernsheim eine geringere Wertschätzung gegenüber Kindern, die den Wunschbildern ihrer Eltern nicht entsprechen sowie einen gesellschaftlichen Rückgang der Solidarität mit kranken und behinderten Menschen. 3.3.2, ‘Kann ein Samen Vater sein?’: Zu den genannten Überlegungen kommen neue hinzu, wenn die Eizelle der Mutter im Rahmen der IVF nicht mit dem Samen des Vaters, sondern mit einer Spende aus einer Samenbank befruchtet wird. Die Gründe hierfür können zum Beispiel die Unfruchtbarkeit des potenziellen sozialen Vaters oder der Wunsch einer alleinstehenden Frau nach einem Kind sein. Beatrice Patsalides widmet sich diesem Komplex mit dem Aufsatz ‘Kann ein Samen Vater sein?’ aus psychoanalytischer Perspektive. Unter Bezug auf Lacan und unter Verwendung dessen Vokabulars formuliert sie folgende Hypothese: Die radikale Trennung von Fortpflanzung und sexueller Begegnung in der Reproduktionsmedizin konstituiere eine Grenzüberschreitung. Kulturelle Tabus, wie die Selektion von Leben nach subjektiver Wertigkeit würden plötzlich möglich. Die Ausklammerung des Vaters als ‘Dritten’ aus dem Zeugungsprozess führe zu einer Konfrontation mit einer neuen symbolischen Ordnung. Damit deutet Patsalides sowohl eine Abschwächung des ‘symbolischen’ Vaters als auch des ‘imaginären’ Vaters an. Der imaginäre Vater sei dabei Träger von Eigenschaften wie Mut, Kraft und Eifersucht, mit ihm könne sich das Kind identifizieren, es könne seine Eigenschaften annehmen oder ablehnen. Seine Schwächung betrifft die Familie also unmittelbar. Der symbolische Vater ist dagegen am ehesten mit einem Gesetz zu vergleichen, dem sich die Individuen unterwerfen müssten. Er bestimme Einschränkungen bezüglich des Sexuellen wie das Inzesttabu. Seine Erschütterung betreffe folglich eine ganze Kultur in Bezug auf ihre moralischen Leitlinien. Insgesamt betrachtet spitzt sich die Wunschkind- Problematik im Rahmen der Pränataldiagnostik und reproduzierenden Medizin weiter zu: ‘Die neue ‘Machbarkeit’ der Nachkommen überträgt die Logiken von Bedürfnis, Produktion und Konsum auf die Kinder, die dann - wie alle Produkte - halten oder nicht halten können, was sie versprechen.’ . Die enormen Anstrengungen, die Paare während einer IVF auf sich nehmen, beinhalten somit auch die Möglichkeit zu großen Enttäuschungen. Auf der einen Seite, weil das Kind nicht so geworden ist, wie sie es sich gewünscht hatten. Auf der anderen Seite kann ein wiederholtes Scheitern der IVF und damit ein Ausbleiben des Wunschkindes zur großen psychischen Belastungen werden. Carola Bindt weist im Rahmen einer Studie über die Auswirkungen reproduktionsmedizinischer Behandlungen auf die betroffenen Kinder darauf hin, dass die Entstehung jener Kinder in kinderpsychiatrischen- psychotherapeutischen Kontexten in jedem Fall berücksichtigt werden sollte. Die akute Erkrankung oder Verhaltensauffälligkeit reaktiviere ‘nicht selten Verlusterlebnisse und Traumatisierungen, die aus einem strapaziösen reproduktionsmedizinischen Behandlungsverlauf, verbunden mit erfolglosen IVF- Versuchen und Spontanaborten’ resultierten. Darüber hinaus werfen die neuen medizinischen Möglichkeiten auch ethische Fragen auf, wie zum Beispiel die, ob es ein Recht auf einen Vater gibt. Oder, ob elterliche Verantwortung bereits bedeutet, der Gesellschaft ein behindertes Kind vorzuenthalten.
Carla Rudat wurde 1984 in Paderborn geboren. Sie schloss im Jahr 2012 ihr Studium der Erziehungswissenschaft an der Universität Hamburg ab. Ihr Interesse an der Kinder- und Jugendpsychologie und ihre Erfahrungen in der Familienhilfe inspirierten sie zu ihrem Buch über Wunschkinder.
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