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- Sexuelle Bedürfnisse von Altenheimbewohnern: Empirische Studie zu einem Tabuthema
Psychologie
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Verlag:
Diplomica Verlag
Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH
Hermannstal 119 k, D-22119 Hamburg
E-Mail: info@diplomica.de
Erscheinungsdatum: 11.2012
AuflagenNr.: 1
Seiten: 76
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback
Bisher existieren nur wenige Forschungsbeiträge über die sexuellen Bedürfnisse und deren Umsetzungsmöglichkeiten in Altenheimen. Die Thematik der Sexualität im Alter wird entweder tabuisiert oder ignoriert. Aus diesem Grund entstand das Interesse, eine Studie durchzuführen. Im Rahmen dieser Studie wurde mit 20 Fachkräften ein narratives Interview zu den sexuellen Bedürfnissen der Altenheimbewohner durchgeführt. Das am häufigsten genannte Bedürfnis der Bewohner besteht im Austausch von Zärtlichkeiten. Dieses nonverbale Verhalten stellt besonders für Demenzkranke die höchste Priorität dar. Das Interesse am Geschlechtsverkehr bleibt unabhängig von Alter und Multimorbidität bestehen, rückt aber mehr und mehr in den Hintergrund. Als ein weiteres großes Bedürfnis hat sich der sexuelle Kontakt zu weiblichen Pflegekräften herausgestellt. Insbesondere Demenzkranke zeigen sich diesbezüglich enthemmt. Die Ausgangsfrage, ob sexuelle Bedürfnisse im Alter bzw. im Altenheim existieren, wird in diesem Buch nicht nur durch die Ausführungen der Probanden, sondern auch durch die Ergebnisse der Literaturrecherche gegeben.
Textprobe: Kapitel 2.5, Sexualität im Altenheim: 2.5.1, Tabuisierung: Die Sexualität im Alter und im Altenheim wird nicht nur gesellschaftlich als Tabuthema angesehen und stigmatisiert (vgl. von Sydow (1992)). Die Generation selbst stützt dieses Tabu, weil sie aufgrund ihrer psychosexuellen Biographie ihre Sexualität nicht thematisieren will (vgl. Denninger (2008)). Kommt das Thema dennoch zur Sprache, so steht die Sexualität im Alter häufig in Verbindung mit einer Verhaltensstörung und wird hauptsächlich auf den Bereich der Genitalität reduziert (vgl. Gatterer (2008)). Aufgrund der kontinuierlichen Verschlechterung körperlicher und intellektueller Funktionen - gemessen am Maßstab des jungen, gesunden Organismus - können älter werdende Menschen diesen Vorstellungen zufolge nur ein inaktives Sexualverhalten aufweisen (vgl. Mehrbach et al. (2004)). Diese Tatsache konnte in den letzten 50 Jahren, seit sich die Wissenschaft sporadisch mit der Alterssexualität beschäftigt, widerlegt werden (vgl. von Scheidt/ Eikelbeck (1995)). Das Thema Sexualität behält bis ins hohe Lebensalter einen bedeutenden Stellenwert. Auch der Untertitel der Literatur von Kleinevers ‘Sexualität und Pflege - Bewusstmachung einer verdeckten Realität’ (2004) oder von Grond ‘Sexualität im Alter- ‘(K)ein Tabu in der Pflege’ zeigen, dass es sich bei der Sexualität im Pflegeheim um ein Tabuthema handelt. Hofmann (1999) formuliert dazu treffend die folgende Aussage: ‘Sexualität ist immer noch ein tabuisiertes Thema, Sexualität im Alter ist gesteigert tabuisiert, Sexualität im Altenheim ist extrem tabuisiert’ (S. 164). Die Gründe dafür sind vielschichtig. Zum einen ist der Umgang mit der Sexualität abhängig von den gesellschaftlichen Normen und der Sozialisation. Gerade von der Generation der Altenheimbewohner erwartet man christlich-moralische Wertvorstellungen. Zu den Grundaussagen gehört es, den sexuellen Interessen zu entsagen, um das wahre Lebensziel der Entsagung der unreinen Fleischeslust zu erreichen. Sexuelles Interesse wird als Sünde bestraft und erzeugt deshalb Schuldgefühle. Anderseits dominiert in der Gesellschaft der Irrtum, dass mit der Rückbildung aller biologischen Funktionen auch eine Rückbildung der sexuellen Bedürfnisse einhergehen muss. Noch Extremer wird die Sichtweise, wenn es um pflegebedürftige Menschen geht (vgl. Hofmann (1999)). Grond (2001) stellt heraus, dass die Strukturen in Altenheimen dazu beitragen, die Tabuisierung aufrecht zu erhalten. In einigen Heimverträgen - nicht nur kirchlich geführter Einrichtungen - werden sexuelle Beziehungen als unerwünscht bezeichnet. Einige Heime verbieten den Bewohnern den Besuch von gegengeschlechtlichen Partnern innerhalb des Hauses und das Streicheln in der hausinternen Öffentlichkeit. Ein Erklärungsansatz dafür kann die Angst vor einem Imageverlust sein, insbesondere bei konservativen kirchlichen Einrichtungen. 2.5.2, Sexualität und Partnerschaft: Das Ausleben der sexuellen Bedürfnisse benötigt eine Intimität, die im Altenheim weder gegeben ist, noch Berücksichtigung findet. Das tägliche Leben im Heim ist gekennzeichnet durch feste Pflege-, Versorgungs- und Organisationsstrukturen, die eine individuelle Lebensführung erschweren. Partnerschaft und Sexualität wird in den Pflegealltag nicht miteinbezogen. Die räumlichen Gegebenheiten in einem Altenheim lassen eine Privatsphäre eines Paares meist nicht zu. Die Möglichkeit, im Heim einen neuen Lebenspartner zu finden, wird nicht nur durch die räumlichen und organisatorischen Umstände stark eingeschränkt. Aus den oben genannten demographischen Gründen herrscht in Altersheimen ein extremer Frauenüberschuss. Findet sich dennoch ein Paar zusammen, so wird diesem von Mitbewohnern ihr Glück häufig geneidet. Hier spielt das gesellschaftliche Altersbild eine große Rolle, in dem alten Menschen enge Beziehungen ausschließlich zum langjährigen Ehepartner zugestanden werden. Neue Verbindungen werden als moralisch verwerflich angesehen. Rückzugsmöglichkeiten für Paare, die sich innerhalb des Heimes gefunden haben, sind nicht vorhanden. Sie sind daher in ihrer Privatsphäre schlechter gestellt, als verheiratete Paare, die eventuell über ein Doppelzimmer verfügen. In den 1980ern kam zwar die Idee der ‘Liebeszimmer’ in Altenheimen auf, allerdings wurde diese als reine Provokation betrachtet, die auf Missstände hinweisen sollte. Die Idee konnte sich nicht etablieren (vgl. Jasper (2002)). 2.5.3, Privat- und Intimsphäre: Gröning (1999) spricht in ihrer Publikation das Problem der nicht vorhandenen Privat- und Intimsphäre an, und macht deutlich, dass Sexualität im Heim in öffentlicher Struktur geschieht. Hofmann (1999) beschreibt die Lebensverhältnisse von Heimbewohnern, die keine oder nur eine eingeschränkte Privat- und Intimsphäre erlauben: der Großteil der Bewohner lebt in Doppelzimmern, die nicht abschließbar sind. Das hat zur Folge, dass die Pflegekräfte häufig vorschnell und ohne eine Aufforderung der Bewohner abzuwarten, das Zimmer betreten. Den Fachkräften ist es zum Teil nicht bewusst, dass sie dadurch den Bewohnern keine Möglichkeit geben, ihr Eintreten zu verhindern oder zu verzögern. Ein Paar muss somit immer damit rechnen, gestört zu werden. Es kann zwar abschätzen, zu welchen regelmäßigen Zeiten das Personal eintritt, aber dennoch stellt dies eine Einschränkung dar. Eine Alternative für die fehlende Ungestörtheit im eigenen Appartement kann die Einrichtung von Räumen, die die Bewohner stundenweise reservieren können, sein (vgl. von Sydow (1992)). Diese Form der Privatsphäre ruft Kritikpunkte hervor. Das Paar, welches einen solchen Raum reservieren möchte, steht stets im Mittelpunkt der anderen Heimbewohner und Fachkräfte und benötigt ein enormes Selbstvertrauen, um sich dadurch nicht gehindert oder diskriminiert zu fühlen (vgl. Grond (2001)). Pro Familia (2004) thematisiert ebenfalls die Problematik und liefert einen Lösungsansatz. Sie empfiehlt den Bewohnern, gemeinschaftlich die notwendigen Veränderungen in der Heimordnung einzufordern. Beispielsweise könnte ein Türknauf statt einer Klinke an der Zimmertür angebracht werden. Die Körperpflege von Heimbewohnern bedeutet nicht nur für die Bewohner einen tiefen Eingriff in die Intimsphäre, auch die des Pflegers kann verletzt werden. Der Prozess der Pflege steht in engem Zusammenhang mit der Sexualität. Besonders die gegengeschlechtliche Pflege kann zu einem Stressfaktor im Pflegealltag werden. Solche Situationen erfordern ein hohes Maß an gegenseitiger Akzeptanz. Jede Pflegekraft hat das Recht, die eigene Intimsphäre geschützt zu wissen. Auftretende Konflikte mit den Bewohnern müssen aktiv und bewusst bewältigt werden. Gespräche mit dem Bewohner und den Kollegen zu führen, die künftige Pflege mit der Unterstützung einer weiteren Pflegekraft vorzunehmen oder einen (vorübergehenden) Wechsel der Aufgabenverteilung zu organisieren kann dabei als Lösungsansatz dienen. Mit zunehmender Berufserfahrung können die Probleme zufrieden stellender bewältigt werden (vgl. Jasper (2002)). 2.5.4, Sexuelle Belästigung im Altenheim: Sexuelle Belästigungen kommen nicht nur zwischen Pflegekraft und Pflegebedürftigem vor. Generell können Belästigungen im Heim weiter gefasst werden und zwar zusätzlich: - Von Bewohnern durch Bewohner: Der gegenseitige Besuch und Annäherungen sollten vom Pflegepersonal toleriert werden. Demenzkranken sollte jedoch ein besonderes Augenmerk gelten, um sie vor einer Ausnutzung zu schützen (vgl. Grond (2001)). - Von Bewohnern durch Besucher/Angehörige: Der ungestörte Besuch sollte möglich sein, jedoch muss bedacht werden, dass dieser nicht zum Voyeur wird oder den Heimbewohner in seiner Sexualität und Privatsphäre einschränkt (vgl. Pro Familia (2004)). - Von Bewohnern durch Pflegekräfte: Ein sehr sensibler Punkt ist die sexuelle Belästigung der Bewohner durch den Pfleger. Während er die Körperpflege durchführt, kann ein Gefühl der sexuellen Lust aufsteigen. Aufgrund der Normverletzung kommen Scham- und Schuldgefühle auf, die eine zwanghafte Unterdrückung der Lustgefühle hervorrufen (vgl. Kleinevers (2004)). Pfleger haben intime Körperstellen objektiv und ohne Neugierde anzuschauen. Schuldgefühle werden ausgelöst, weil bewusst oder unbewusst voyeuristische Impulse aufkommen und die Objektivität nicht eingehalten wird. In der Kindheit wurden großenteils derartige Fantasien als schuldhaft erlebt und wurden bestraft. Folgerichtig haben Schuldgefühle eine unbewusste Entsexualisierung zur Folge. Das macht eine Reflexion der Situation schwierig (vgl. v. Klietzing (1997)).Die oben genannten Gefühle, die bei der Pflegekraft auftreten können, erschweren zwar die Pflegetätigkeit, aber sie haben auch einen Nutzen: Die Gefühle sorgen dafür, dass das Verhältnis von Nähe und Distanz gewahrt und reguliert wird (vgl. Kleinevers (2004)). Letztlich kommen diese dem Bewohner zugute. - Von Pflegekräften durch Bewohner: Die Folgen der sexuellen Belästigung der Pflegekräfte durch die Bewohner können die Qualität der Pflege maßgeblich negativ beeinflussen (vgl. Hofmann (1999)). Der Pfleger wird durch die sexuelle Belästigung zum Lustobjekt erniedrigt. Die Pflegekraft empfindet den zu Pflegenden als ekelig und abstoßend und bricht die soziale Beziehung zu ihm ab. Dadurch vereinsamt der Bewohner, fühlt sich zurückgewiesen und entwickelt ein aggressives Verhalten. Der überforderte und hilflose Pflegemitarbeiter behandelt den Pflegebedürftigen infolgedessen grob, um sexuellen Gedanken auf Seiten des Pflegebedürftigen vorzubeugen Das wiederum führt zu der Annahme, dass die sexuellen Bedürfnisse der Bewohner nicht respektvoll behandelt werden und überschreitet die Grenze zu einem würdevollen Umgang. Grond (2001) stellt heraus, dass Pflegekräfte eine individuell verschiedene Grenze zur persönlichen Tabuisierung und zur Grenze der sexuellen Belästigung haben. Über die Hälfte der Pflegekräfte werden laut Grond (2001) nicht auf die sexuellen Bedürfnisse der Heimbewohner vorbereitet. Das hat zur Folge, dass sie schockiert reagieren, wenn ein solcher Fall eintritt. Von Sydow (1992) befragte in einer Studie Altenpflegeschüler nach dem problematischem Zusammenhang zwischen Pflege und Sexualität: 74% der Befragten haben eine solche Situation bereits erlebt. Generell muss reflektiert werden, ob es sich tatsächlich um eine Belästigung handelt. Es ist der individuellen Empfindung einer Pflegekraft überlassen, ob diese nach einer Einreibung oder einfühlsamen Pflege es als Belästigung empfindet, wenn der Bewohner mit einer sexuellen Reaktion Rückwirkung zeigt. Ständig kommt es vor, dass der Pfleger den zu Pflegenden für seine Reaktion bestraft, indem er ihm Schuldgefühle macht, ihn mit herablassenden Blicken straft o. ä. Dadurch übt er eine Macht und Gewalt auf den Pflegebedürftigen aus, die seine Berufung infrage stellt (vgl. Grond (2001)).
Katharina Sieren wurde 1984 in Hannover geboren. Ihr Studium der Gerontologie an der Universität Vechta schloss die Autorin im Jahre 2010 mit einem Diplom ab. Während des Studiums sammelte sie praktische Erfahrungen im Qualitätsmanagement eines Altenheims. In dieser Zeit wurde ein großes Interesse an der psychologischen Forschung im Bereich der Altenpflege geweckt. Aktuell arbeitet die Autorin an einer Dissertation, welche an die Forschungserkenntnisse aus der Diplomarbeit anknüpft.
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