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Psychologie


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Produktart: Buch
Verlag:
disserta Verlag
Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH
Hermannstal 119 k, D-22119 Hamburg
E-Mail: info@diplomica.de
Erscheinungsdatum: 01.2015
AuflagenNr.: 1
Seiten: 128
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback

Inhalt

Das Tourette-Syndrom ist für die Betroffenen mehr als eine Herausforderung. Gleiches gilt für das Umfeld. Auch im schulischen Kontext sind den Besonderheiten des Syndroms Rechnung zu tragen. Mit diesem Buch soll Lehrern, Erziehern, Eltern und Interessierten ein Überblick zu Symptomen, Begleiterscheinungen und Ursachen gegeben werden. Besonderes Augenmerk wird auf die sprachlichen Aspekte der Erkrankung gerichtet. Darüber hinaus werden diagnostische Ansätze und Behandlungsmöglichkeiten kurz umrissen. Einen Schwerpunkt bildet die Betrachtung und möglicher Interventionen betroffener Kinder im Schulalltag. Ein Fallbeispiel gibt einen knappen praxisnahen Einblick in das Spannungsfeld Tourette und Schule.

Leseprobe

Textprobe: Kapitel 5, Krankheitsverlauf: Das TS beginnt in der Regel zwischen dem 2. und 15. Lebensjahr (vgl. ROTHENBERGER 1991, S. 11), nach Angaben des DSM-IV (1998) beträgt das durchschnittliche Alter bei Beginn 7 Jahre, es sind aber auch Fälle von Einjährigen bekannt, die die entsprechende Symptomatik aufwiesen (vgl. DSM-IV 1998, S. 142). ROTHENBERGER vermutet dafür Reifungsprozesse im Gehirn, die etwa um das 7. Lebensjahr eine erhöhte Entwicklung erfahren. Das Kind muss mit jenen neuen zentralnervösen Voraussetzungen eine ‘Wieder-Einweichung’ seines ZNS auf die Umweltgegebenheiten bewältigen (ROTHENBERGER 1991, S. 13). Meiner Ansicht nach liegt hier seitens Eltern, Lehrern etc. die Gefahr nahe, das Kind habe dieses plötzliche Augenblinzeln als nervöse Reaktion auf die gerade eben stattgefundene Einschulung. Anpassungsschwierigkeiten, Übergangsprobleme, Leistungsüberforderung könnten als vorläufige Erklärungsversuche dienen. Das Tourette-Symptom bleibt meist ein Leben lang bestehen, wobei der Verlauf oft unvorhergesehen fluktuiert und auch Phasen der Ticfreiheit auftreten. Man kann beim Tourette-Syndrom dennoch von einer chronischen Erkrankung ausgehen. ERENBERG begleitete Kinder von 1977 an, um Aussagen zum langzeitigen Verlauf treffen zu können. 1983 wurden Fragebögen verschickt, mit deren Hilfe festgestellt werden sollte, ob sich die Symptomatik mit Eintritt in das Jugend- bzw. Erwachsenenalter verändert hatte. Die Studie ergab, dass sich bei 47% der Patienten die Tics im Laufe der Zeit erheblich verringert hatten, 26% berichteten, dass ihre Tics fast verschwunden waren. Die Verbesserung trat zwischen dem 10. und 20. Lebensjahr ein, am häufigsten wurde eine Besserung um das 16. Lebensjahr festgestellt. Bei 27% blieben die Tics unverändert oder hatten sich sogar verschlimmert (vgl. ROTHENBERGER 1991, S. 41). Gegensätzliche Angaben zum Verlauf während des Jugendalters machen MÜLLER-VAHL und ROTHENBERGER in einem Leitfaden für Lehrer. Dort ist von einer Symptomverstärkung in der Pubertät die Rede (vgl. MÜLLER-VAHL/ ROTHENBERGER 1997, S.12, Online im Internet). Zur Verbesserung der Ticsymptomatik im Erwachsenenalter stellen ROTHENBERGER und SCHOLZ die These auf, dass mit zunehmendem Alter die Empfindlichkeit des Dopaminsystems in den Basalganglien abnimmt (vgl. SCHOLZ/ BANASCHEWSKI 2001, S. 123). Der Verlauf ist - wie jeder Tourette-Patient und seine jeweilige Symptomatik - sehr individuell. Die Krankheit beginnt meist mit einfachen (motorischen) Tics, die sich später zu komplexen Formen ausweiten. Zunächst sind Körperteile in Gehirnnähe (z.B. Augen und Gesicht) betroffen, eine Ausweitung auf periphere Körperbereiche wie Hände und Füße schließt sich an (vgl. THIELE 2000, S.186). Es bestehen Vermutungen, dass sich die Tics verändern, wenn auch ein Wandel der Lebensumstände stattfindet (vgl. THIELE 2000, S. 186), z.B. das Beenden einer Beziehung oder das Verlassen des elterlichen Haushalts. Der im Zusammenhang mit den Lebensveränderungen auftretende Stress, z.B. auch bei der Einschulung, können die Symptomatik verstärken, während Phasen der Ruhe und ein stabiles soziales Umfeld, z.B. Ferien oder der häusliche Halt durch die Familie, zu einer Symptomreduktion führen können (vgl. MÜLLER-VAHL/ ROTHENBERGER 1997, S. 12, Online im Internet). Da Kinder bzw. Tourette-Betroffene generell versuchen, Tics in der Öffentlichkeit soweit es geht zu unterdrücken, kann allerdings auch genau das Gegenteil eintreten, nämlich, dass sich zu Hause im vertrauten Umfeld die Tics geradezu explosionsartig entladen, weil der Betroffene an dem für ihn sicheren Ort keine Konsequenzen zu fürchten hat. Die bedingte Möglichkeit des Unterdrückens der Tics hat vielfach die Diskussion um die Willkürlichkeit und Unwillkürlichkeit der Symptome aufflammen lassen. Betroffene können ihre Tics Sekunden, Minuten oder sogar Stunden unterdrücken oder in Form anderer Bewegungen umlenken, indem sie sich auf andere Dinge konzentrieren, um sie dann mit umso mehr Intensität hervorbringen zu müssen (vgl. MÜLLER-VAHL/ ROTHENBERGER 1997, S. 6, Online im Internet). Das Unterdrücken des Tics kommt aber einer ungeheuren Kraftanstrengung gleich, und ist nicht mit willentlicher Kontrolle im Sinne gesunder Impulskontrolle zu vergleichen. ROTHENBERGER formuliert: ‘Der Druck in einem Dampf-Topf wird so groß, dass der Deckel bald abspringen muss.’ (ROTHENBERGER 1991, S. 22). Da herkömmliche Hemmmechanismen versagen, bemühen Tourette-Patienten vermutlich besonders den frontalen Kortex, als ‘letzte Relaisstation, von wo aus die Signale in die Peripherie zum Muskel geleitet werden’ (ROTHENBERGER 1991, S. 165) und sogenannte Supplementäre Motorische Area (SMA), eine Art ‘Referenzbibliothek für motorische Programme’ (ROTHENBERGER 1991, S. 165), um die Tics zu unterdrücken oder umzuleiten. Betroffene, eher Erwachsene als Kinder, merken die Ankündigung des Tics durch eine Art sensorisches Vorgefühl im betreffenden Körperteil oder im Kehlkopf. In ihm drängt sich der Impuls zur Tic-Entladung auf, der sich durch Anspannung und Unruhe allmählich steigert, bis dem Tic Luft gemacht werden kann und ein Entspannungsgefühl einsetzt. Das gleiche gilt für Gedanken, die sich aufdrängen, bis sie geäußert werden müssen, weil dem inneren Druck nicht mehr standgehalten werden kann. Hier sind auch Verbindungen zu gedanklichen Zwängen zu suchen, auf die in Kapitel 6.1. (Zwänge, Zwangshandlungen und Zwangsgedanken) eingegangen wird. Die Unterdrückung kann z.B. erfolgen, bis der Patient ein Geschäft oder eine bestimmte Situation verlässt, oder das Schulkind zu Hause ankommt (vgl. ROTHENBERGER 1991, S. 23). Die Unwillkürlichkeit der Tics konnte dennoch mittels Schlafstudien bewiesen werden. Schon bevor umfassende Studien durchgeführt wurden, war bekannt, dass 50% der Patienten an Einschlafstörungen litten, da die Kontrolle während der körperlichen und geistigen Entspannung des Einschlafens nachließ und sich die Tics erst recht entladen konnten (vgl. SCHAUENBURG/ DRESSLER 1992, S. 454). Polygraphische Aufzeichnungen in Schlaflabors zeigten, ‘dass die Schlafarchitektur von TS-Patienten erheblich gestört ist: vermehrte tiefe Non-REM-Phasen, verminderter REM-Schlaf mit Angstzuständen, vermehrtes nächtliches Erwachen, Tics auch während des Schlafs.’ (Schauenburg/ Dressler 1992, S. 454). Wie eignet sich ein Tourette-Betroffener nun eigentlich einen Tic an? Eine Möglichkeit ist die Aneignung durch Echopraxie und Echolalie. Ahmt der Tourette-Patient eine Geste, einen Gesichtsausdruck oder eine weiter ausholende Bewegung einer anderen Person nach, stellt er u.U. bald danach fest, dass er das motorische Muster unfreiwillig übernommen und somit einen neuen Tic erworben hat. Gleiches gilt für die Imitation von Lauten, Wörtern oder Sätzen, die der Patient wiederholt (vgl. ROTHENBERGER 1991, S. 20). Es müssen aber nicht immer die Imitationen anderer sein. Eine weitere Möglichkeit der Tic-Aneignung ist die Wiederholung eigener Verhaltensweisen, die in einem anderen Zusammenhang aufgetreten sind. Hatte der Patient beispielsweise vor kürzlich eine Erkältung, während derer er oft die Nase hochzog, so kann nach Abklingen der Erkrankung ein ständiges Nase hochziehen als neuer Tic im Repertoire zurück bleiben (vgl. ROTHENBERGER 1991, S. 20). Oftmals wissen die Patienten allerdings selbst nicht, woher ein neuer Tic kommt, er taucht eben plötzlich auf. Ein morgendliches Aus-dem-Bett-springen kann von da an ein Hüpf-Tic sein, ein Scharr-Tic kann entstehen, weil der Betroffene nur etwas mit dem Fuß zur Seite räumte. Anscheinend sind die Patienten für den Erwerb neuer Tics besonders anfällig, wenn ein besonderer emotionaler Zustand – Ängstlichkeit, Anspannung, Ärger oder hohes Wachheits-Niveau – vorliegt (vgl. ROTHENBERGER 1991, S. 21). Ähnliches gilt für die Verstärkung von Tics, die unter Stresseinflüssen vorkommen kann. Dass das Auftreten der Tics einem eigenen, nicht vorhersagbaren Mechanismus unterliegt, zeigt z.B. die Tatsache, dass Kinder, die ihre Symptome beim Arzt zeigen sollen, plötzlich nicht mehr das Gefühl haben, ticcen zu müssen (vgl. ROTHENBERGER 1991, S. 21). Dieses Phänomen kann durch das in diesem Buch betrachtete Fallbeispiel bestätigt werden: Im Hauswirtschaftsunterricht während des Beobachtungszeitraumes ticct der Junge während der ersten Hospitationsstunde 45 Minuten lang überhaupt nicht, obwohl laut Lehrerin gerade dieses Fach aufgrund eines dort auftretenden Spuck-Tics an anderen Tagen sehr kritisch war. ROTHENBERGER gibt zu bedenken, dass die langzeitige Anwendung von Medikamenten im Rahmen der Tourette-Therapie den natürlichen Krankheitsverlauf maßgeblich beeinflussen kann, nicht immer nur mit positiven Folgen für den Patienten. Nebenwirkungen wie Depressivität, Schulphobie, Aggressivität können die kindliche Persönlichkeitsentwicklung stark einengen, da nicht mehr zuzuordnen ist, welche Tics oder Vokalisationen und Gefühle Teil des TS oder der eigenen Persönlichkeit sind, und welche auf medikamentöse Einflüsse zurückzuführen sind, welches Erleben ‚normal’ und welches ‚gestört’ ist (vgl. ROTHENBERGER 1991, S. 42f.).

Über den Autor

Susann Sulzbach wurde 1982 in Leipzig geboren und studierte Lehramt an Förderschulen an der Universität Leipzig mit den Fachrichtungen Sprachbehindertenpädagogik und Lernbehindertenpädagogik. Sie unterrichtet an einem Förderzentrum für Kinder mit dem Förderschwerpunkt Sprache .

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