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- Angst bei Kindern mit geistiger Behinderung: Grundlagen, Präventions- und Bewältigungsmöglichkeiten für die Schule
Psychologie
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Verlag:
Diplomica Verlag
Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH
Hermannstal 119 k, D-22119 Hamburg
E-Mail: info@diplomica.de
Erscheinungsdatum: 06.2014
AuflagenNr.: 1
Seiten: 112
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback
Die Auseinandersetzung mit der Angst gehört zu den wichtigsten Aufgaben des Kindes, da Ängste seine Entwicklung erheblich hemmen können. Viele Kinder - besonders solche mit einer geistigen Behinderung - brauchen dazu Unterstützung. Wer aber Kindern helfen will, muss ihre Ängste verstehen. Der Autor geht vorerst auf den Begriff Affekt ein, wobei er sich an Ciompis Entwurf einer fraktalen Affektlogik orientiert. Auf dieser Grundlage differenziert er anschliessend zwischen Angst, Schreck, Panik, Sorge und Ängstlichkeit und berichtet auch über Ursachen, Folgen und den Sinn der Angst. Stets von der Normalität ausgehend werden die bedeutendsten Kinderängste fundiert behandelt und mit heilpädagogischen Aspekten ergänzt. Schließlich werden konkrete Ideen für den Unterricht und die Elternarbeit vorgestellt.
Textprobe: Kapitel 5, Angst bei Kindern mit geistiger Behinderung: Weil sich Kinder mit einer geistigen Behinderung noch mehr voneinander unterscheiden als normal behinderte, kann ich an dieser Stelle lediglich einige allgemeine Bemerkungen anbringen. Prinzipiell verläuft ihre Entwicklung wie bei nichtbehinderten Kindern, nur langsamer und früher an Grenzen stossend. SENCKEL weist darauf hin, dass die Erkenntnisse der allgemeinen Psychologie, insbesondere der Entwicklungspsychologie, tatsächlich allgemein gelten, also auch für Menschen mit einer geistigen Behinderung (SENCKEL, 2000, 17). Der grosse Unterschied besteht darin, dass ihr Entwicklungstand in den einzelnen Bereichen wie Motorik, Wahrnehmung, Kognition, Sozialverhalten usw. trotz der gegenseitigen Abhängigkeit dieser Bereiche im Vergleich mit normal behinderten Menschen meist sehr verschieden ist. Indem wir allzu gerne unsere induktive Denkfähigkeit nutzen, übersehen wir die Diskrepanzen jedoch häufig und kommen dadurch zu Fehleinschätzungen. Beispielsweise überschätzen wir ein Kind, weil wir uns von seinem umfangreichen Wortschatz täuschen lassen und deshalb nicht sehen, dass es einfache Zusammenhänge nicht begreift. Oder wir lassen uns von seinen motorischen Einschränkungen blenden und übersehen so seine weit reichenden Kompetenzen und Wirkungen im sozialen Bereich. Doch wenn wir die einzelnen Bereiche auseinander halten und über die Altersangaben hinwegsehen, können wir uns am üblichen Entwicklungsverlauf orientieren, denn die Reihenfolge der einzelnen Schritte und Phasen ist in der Regel dieselbe. Allerdings darf das Alter nicht völlig un-berücksichtigt bleiben, denn egal, auf welcher Entwicklungsstufe sich ein Mensch befindet, drückt sein Alter immer Lebenserfahrung aus und hat eine gesellschaftliche Bedeutung. So ist nicht die Reife, sondern das Alter das entscheidende Kriterium fürs Erwachsensein. Über die Ängste von Kindern mit einer geistigen Behinderung gibt es kaum epidemiologische Forschungen. Eine Prävalenz lässt sich oft nur anhand von Reaktionen eruieren, da diese Kinder selten in der Lage sind, ihre Ängste selbst zu benennen. Neben den üblichen Symptomen können sich ihre Ängste aufgrund der eingeschränkten Ausdrucksmöglichkeiten auch in andern Verhaltensauffälligkeiten äussern. Gemäss THEUNISSEN weisen 10 bis 40 % aller Menschen mit einer geistigen Behinderung Verhaltensauffälligkeiten auf (THEUNISSEN, 2005, 50). Nun sind Verhaltensauffälligkeiten aber normabhängig und können verschiedene Ursachen haben. MEYER kommt in einer Studie zum Schluss, ‘dass Lehrer 37,6 % ihrer geistig behinderten Schüler eine starke Angstbereitschaft zuschreiben, wobei bei 10 % der Schüler die Angst als therapiebedürftig eingeschätzt wird’ (LUXEN, 2003, 246). In einer andern Untersuchung diagnostizierte EMERSON bei 8,7 % der Kinder mit einer geistigen Behinderung eine Angststörung, während die Häufigkeit bei nichtbehinderten Kindern weniger als halb so gross war (SARIMSKI, 2005, 126f). Es gibt allerdings zahlreiche Studien, die bei nichtbehinderten Jugendlichen eine Häufigkeit von 10 % feststellten (SCHNEIDER, 2004, 95-97 FELDER & HERZKA, 2000, 175). Im Übrigen nimmt die Häufigkeit von psychischen Störungen mit zunehmender Behinderung zu (SARIMSKI, 2005, 126 FELDER & HERZKA, 2000, 124). Daraus lässt sich jedoch nicht unbedingt schliessen, dass bei schwereren Behinderungen auch Ängste häufiger sind, da manche Ängste entwicklungsbedingt nur bei Kindern mit leichteren kognitiven Beeinträchtigungen möglich sind. Geschlechtsspezifische Unterschiede können aus Untersuchungen von normal behinderten Kindern abgeleitet werden, die sich aber meistens nur auf Angststörungen beziehen. Eine Studie von SCHELLHAS zeigt, dass die allgemeine Ängstlichkeit im Alter von 7 Jahren bei Mädchen und Jungen gleich hoch ist. Doch danach nimmt die Ängstlichkeit der Mädchen signifikant zu, während sie bei den Jungen zuerst abnimmt und erst im Alter von 9 Jahren ungefähr gleich stark ansteigt wie bei den Mädchen, allerdings auf einem tieferen Niveau. Die Abweichung lässt sich teilweise durch eine ungleich starke Angstabwehr erklären (SCHELLHAS, 1993, 112-117). Gemäss SCHNEIDER weisen Mädchen 2- bis 4-mal höhere Raten von Angststörungen auf als Jungen. Sie referiert sowohl die biologischen als auch die psychosozialen Erklärungsansätze, plädiert aber – meiner Meinung nach zu Recht – eher für die Geschlechtsrollenhypothese (SCHNEIDER, 2004, 63f). Angst macht, was nicht verstehbar ist. Kinder mit einer geistigen Behinderung haben aber wie nichtbehinderte Kinder die Möglichkeit, die Welt auf ihre Art zu erklären und sie damit annehmbar zu machen. Gegen magische Ängste stehen somit auch magische Hilfsmittel zur Verfügung. Dies ist einer der wichtigsten Ansatzpunkte für Hilfeleistungen und gilt nicht nur bei Kindern mit einer geistigen Behinderung. Angst macht auch, was nicht kontrollierbar ist. So gesehen haben es besonders Kinder mit Mehrfachbehinderungen schwer, etwa, wenn ein Kind mit einer Cerebralparese kaum seine Muskelbewegungen steuern kann. Oder es bildet sich in einem Kind ein Gefühl von Hilflosigkeit, wenn es aufgrund beschränkter Kommunikationsmöglichkeiten wiederholt die Erfahrung machen muss, dass es im nicht gelingt, seinen Kummer jemandem mitzuteilen und damit zu verringern. Neben kognitiven und motorischen Einschränkungen sind noch die sensorischen von Bedeutung. Bei einer Seh- oder Hörbehinderung beispielsweise fällt ein Fernsinn und damit ein Frühwarnsystem aus oder ist mindestens beeinträchtigt. Abgesehen davon, dass das Leben mit einer Sinnesbehinderung tatsächlich gefährlicher ist, kommt noch die Angst hinzu, nicht alles mitzubekommen und dadurch von andern ausgeschlossen zu werden. Schliesslich kann eine Störung der sensorischen Integration die Zuordnung von Geräuschen zu ihren Quellen erschweren. Die Bedingungen für Ängste sind nicht nur beim Individuum, sondern ebenso in seiner Umwelt zu suchen. Gemäss SENCKEL basieren viele Ängste von Menschen mit einer geistigen Behinderung auf einer behinderungs- und beziehungsbedingten Ich-Schwäche und können nicht alleine bewältigt werden d. h., sie würden ohne Hilfe aufgrund ihrer Adaptionsschwäche in ihren Ängsten stecken bleiben (SENCKEL, 2000, 220 u. 223). Während meinen bisherigen Begegnungen mit Menschen mit einer geistigen Behinderung habe ich einerseits den Eindruck gewonnen, dass sie im Allgemeinen häufiger und stärker von Angst betroffen sind als normal behinderte, anderseits, dass sie nicht unglücklicher sind als andere, was nicht heisst, dass zwischen den Einzelfällen nicht grosse Unterschiede bestehen. So kann ein HPS-Schüler mit einer leichten Lernbehinderung sehr unzufrieden sein, weil er gerne in den Kreis der Regelschüler gehören möchte, jedoch genau spürt, dass er aufgrund seiner Behinderung ausgegrenzt wird. Hingegen kann eine Schülerin mit schweren Behinderungen glücklich sein, wenn sie nicht um ihre Einschränkungen weiss, ohne Schmerzen ist und gut umsorgt wird. Bei manchen Schülerinnen und Schülern bemüht man sich ständig darum, ihr Vertrauen zu stärken, gleichzeitig muss man andern das Fürchten lehren. 6, Ängste in der Entwicklung: 6.1, Einleitung: ‘Das erste Gebot aber, um Kindern helfen zu können, heisst, sie zu verstehen.’. Schlusssatz in ‘Das Kind in der Entwicklung’ von Hans Zulliger. Jedes Alter hat seine typischen Ängste, weil jede Angst einen bestimmten Entwicklungsstand voraussetzt. Manche Ängste können, wenn sie einmal aufgetaucht sind, den Menschen für den Rest seines Lebens begleiten andere Ängste wachsen sich aus und kommen nicht wieder. Die einzelnen Ängste sind deshalb von unterschiedlicher Bedeutung - einige gehören zum Menschen schon fast wie seine Organe und wirken lebenslänglich, andere stellen mehr eine spezifische Entwicklungsaufgabe dar. Demzufolge müssen wir mit den einen Ängsten umzugehen lernen, währenddem die andern überwunden werden sollen. Zum Gelingen oder Misslingen dieser Aufgaben sagt RIEMANN: ‘Das Annehmen und das Meistern der Angst bedeutet einen Entwicklungsschritt, läßt uns ein Stück reifen. Das Ausweichen vor ihr und vor der Auseinandersetzung mit ihr, läßt uns dagegen stagnieren es hemmt unsere Weiterentwicklung und läßt uns dort kindlich bleiben, wo wir die Angstschranke nicht überwinden’ (RIEMANN, 1992, 9). Angst tritt vor allem in Übergangsphasen auf, denn alles Neue enthält neben der Chance auch ein Risiko. So begegnen wir Neuem, das uns weiterbringen kann, nicht nur mit Interesse, sondern, weil es uns zugleich etwas von dem wegnehmen kann, was wir bereits haben, auch mit Angst. Die Schwierigkeit besteht darin, die goldene Mitte zwischen Neugierde und Vorsicht zu finden. Je nach gemachten Erfahrungen neigen wir mehr zum einen oder andern Verhalten, wobei das Entscheidende die Bewertung der Ereignisse ist. Blindes Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, in andere Menschen oder in Dinge ist ebenso problematisch wie eine übersteigerte Angst vor Veränderungen, die sich in einem Festklammern an Bekanntem und einer ablehnenden Haltung gegenüber allem Unbekannten äussert.
Nach einer Lehre zum Maschinenmechaniker ließ sich der Autor in Bern zum Heilpädagogen ausbilden und machte sich die Angst bereits während des Studiums zu seiner Spezialität. Am Institut für Kommunikation und Führung beschäftigte er sich mit den Themen Leadership und Macht und schrieb ‘Der Schatten hinter dem Glanz. Mittel Gegen die Korrumpierung durch die Macht’. Seit bald fünf Jahren unterrichtet er Kinder mit frühkindlichem Autismus.
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