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- Von Bismarck zu Riester: Die Ökonomisierung des deutschen Sozialstaats am Beispiel der Alterssicherung
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Verlag:
Diplomica Verlag
Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH
Hermannstal 119 k, D-22119 Hamburg
E-Mail: info@diplomica.de
Erscheinungsdatum: 09.2012
AuflagenNr.: 1
Seiten: 108
Abb.: 7
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Ökonomisierung der Sozialpolitik, angewandt auf das deutsche Sozialstaatsmodell im Allgemeinen und die Alterssicherung im Besonderen. Ökonomisierung meint in diesem Zusammenhang, dass Marktmechanismen Eingang in die sozialstaatliche Architektur finden. Dies kann zum Beispiel durch die Produktion sozialer Güter über Wohlfahrtsmärkte oder durch veränderte Begründungsmuster sozialer Leistungszuweisung (Stichwort: social investment state) geschehen. Diese Entwicklungen sind der Grund für eine neue Risikoverteilung sowie eine veränderte Akteurslandschaft. Die Ökonomisierung von Sozialpolitik verändert den deutschen Sozialstaat, indem neue Begründungen und Steuerungsformen die bisherige sozialstaatliche Architektur in Teilen neu ausrichten und traditionelle Arrangements ersetzen. Anhand der Alterssicherung lässt sich dies gut nachvollziehen. Durch Wohlfahrtsmärkte und soziale Investitionen betreibt der neue Sozialstaat Sozialpolitik durch anstatt gegen Märkte. So werden neue Entwicklungspfade im ‘deutschen Modell’ eröffnet.
Textprobe: Kapitel 1.3., ‘Modell Deutschland’ in der Krise: Das deutsche Sozialstaatsmodell beruhte auf einem breiten Konsens zwischen den Parteien. Sowohl die Unionsparteien als auch die SPD sahen in dem ‘deutschen Modell’ die Möglichkeit, den Klassenkonflikt mit Hilfe der Sozialpartnerschaft, der Mitbestimmung sowie der Tarifautonomie weitgehend zu entpolitisieren und über die Expansion der Sozialleistungen neue Wählergruppen zu erreichen und langfristig zu binden. Zudem ersetzte der Sozialstaat eine aktive Beschäftigungspolitik, indem Kosten externalisiert werden konnten. Gleichwohl muss man feststellen, dass der sozialstaatliche Ausbau in ganz Europa - und besonders im Wirtschaftwunderland Deutschland - durch hohes Wirtschaftswachstum, hohe Geburtenraten, Vollbeschäftigung und damit relativ moderate Sozialausgaben befördert wurde. Mit Beginn der 1970er Jahre änderte sich jedoch das expansionsfreundliche Umfeld und setzte die sozialstaatlichen Arrangements zunehmend unter Druck (vgl. Taylor-Gooby 2002: 597f, Ostheim/Schmidt 2007: 167f). Externe Faktoren trafen im Fall der Bundesrepublik auf endogene Strukturen, die in Teilen diese Herausforderungen noch potenzierten: Mit dem Ende von Bretton-Woods, dem europäischen Binnenmarkt und später der europäischen Währungsunion wurde das Kapital immer mobiler mit dem Ergebnis, dass exit-Optionen für Anleger und Unternehmen stetig wachsen und der Wettbewerb zunimmt (Lütz 2004: 13). Ein Aspekt, anhand dessen Unternehmen ihre Standortentscheidungen treffen, sind dabei die Lohnkosten. Diese werden in Deutschland durch das Prinzip der Sozialversicherung mit hohen Nebenkosten belastet, was sich bei dem Kampf um Wettbewerbsfähigkeit negativ auswirkt, besonders im ohnehin bedrohten sekundären Sektor (Scharpf 2004: 12). Damit entsteht einerseits Druck die Sozialabgaben zu senken, bzw. vom Lohn zu entkoppeln, da andererseits das Risiko steigender Arbeitslosigkeit besteht, einhergehend mit geringeren Beitragseinnahmen bei gleichzeitig steigenden Sozialausgaben. Ein weiteres Problem stellt - wie in den meisten europäischen Staaten - der demographische Wandel dar, insbesondere im Hinblick auf die Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung. In Deutschland wird diese Problematik durch das Umlageverfahren verschärft (vgl. Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung 2003, Deutscher Bundestag, Drucksache 14/8800 2002): Erstens verschiebt sich seit den 1980er Jahren das Verhältnis zwischen Beitragszahlern und Leistungsempfängern stetig in Richtung der Leistungsempfänger (vgl. Abbildung 1), während sich zweitens durch die zunehmende Alterung der Leistungsempfänger die Auszahlungsdauer verlängert. Beides führt zu einer erheblichen finanziellen Belastung der Sozialsysteme. Ein weiteres Problem der umlagefinanzierten Sozialversicherung ist die Statusgebundenheit. Das klassische (male) bread winner model wird durch mehrere Faktoren unter Druck gesetzt: Durch die enge Kopplung an Erwerbstätigkeit hängen die Einnahmen - stärker als in steuerfinanzierten Systemen - von den ökonomischen Rahmenbedingungen ab hohe Arbeitslosenquoten schlagen daher meist direkt auf die Sozialsysteme durch (Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Sozialrecht 2004: 19). Hinzu kommt, dass die Statusgebundenheit relativ unflexibel gegenüber neuen Familienstrukturen und Erwerbsformen ist. Die zunehmende Erwerbstätigkeit von Frauen oder veränderte Erwerbsbiographien (Auslandsaufenthalte, Arbeitslosigkeit, Selbstständigkeit, Minijobs) seien stellvertretend genannt. Diese endogenen Schwächen, verstärkt durch das externalization regime, die Belastungen der Wiedervereinigung, versicherungsfremde Leistungen, sowie die Restriktionen des EU-Stabilitätspaktes, kumulierten in einem enormen finanziellen Druck. Dieser Druck war es schließlich, der auch in der Bundesrepublik Wandlungsprozesse in Gang setzte: ‘The fiscal crisis - because this is what it was and is - had been building over almost three decades. Now the time had come when it could no longer be ignored.” (Streeck 2007: 7). 1.4., Reformen jenseits des Rückbaus: Nachdem zeitweilige Konsolidierungsbemühungen in der 1980er Jahren weniger an konstitutionellen Vetopunkten sondern eher an geringem Problemdruck, dem Widerstand des starken Arbeitsnehmerflügels der Union um Sozialminister Blüm sowie der Furcht vor negativen Wahleffekten scheiterten (vgl. Czada 2004: 134ff), begann sich der Sozialstaat unter der rot-grünen Regierung signifikant zu verändern - nachdem ‘Modell Deutschland’ mit dem Institutionentransfer auf Ostdeutschland und der Einführung der Pflegeversicherung 1995 seinen bislang letzten ‘großen Auftritt’ hatte. Wie bereits beschrieben, zwang letztlich der finanzielle Problemdruck die Regierung Schröder den politisch riskanten Weg der Reformpolitik zu beschreiten: Ausgehend von Pierson (1994) argumentieren zwar viele Autoren, dass sich sozialstaatlicher Wandel nur schwer vollziehen kann, da besonders negativer policy-feedback und institutionelle Vetopunkte als beschränkende Faktoren gelten (vgl. Pierson 1994, Wintermann 2005) und daher gerade in der ‘blockierten Republik’ die zahlreichen institutionellen Blockademöglichkeiten theoretisch jeglichen Wandel, der über inkrementelle Anpassungen hinausgeht, verhindern sollten. Dass diese Logik im Fall der rot-grünen Regierung nicht griff, lag wie erwähnt zuvorderst an den sozioökonomischen Rahmenbedingungen. Wichtig war aber auch die ‘legitimatorische Entlastung’ der Reformen durch die eingesetzten Kommissionen (Hartz, Rürup), die ähnlich der Bundesbank zu Zeiten der konzertierten Aktion als ausgleichende Arenen agierten (Czada 2004: 150). Zudem beförderten geschwächte Gewerkschaften, medialer Reformdruck sowie Strategien des blame avoidance (Beteiligung der Opposition durch den Bundesrat, Wirksamkeit der Reformen werden zeitlich nach hinten verlagert) und credit claiming (Stärkung der deutschen Wettbewerbsfähigkeit) den Kurs der Regierung. Auch der immer größer werdende Steueranteil bei der Finanzierung der Sozialsysteme wirkt(e) indirekt legitimierend. Mit den Begriffen der Agenda 2010 sowie Hartz IV verbindet man daher gemeinhin den Beginn eines weit reichenden Rückbaus im deutschen Sozialstaat. Doch auch wenn einzelne Kürzungen (z.B. Angleichung von ALG II auf Sozialhilfeniveau) durchaus markante Einschnitte darstellten, so ist die Kürzungspolitik nicht der Kern des sozialstaatlichen Wandels: ‘Jenseits stabiler Sozialleistungsquoten zeigen sich Veränderungen, die sich auf das Selbstverständnis, die Architektur und die Steuerungsinstrumente des Wohlfahrtsstaates und weniger auf dessen Größenverhältnisse beziehen.’ (Lütz 2004: 20). Drei Charakteristika seien hier genannt: Neue Steuerungsinstrumente: Durch die staatliche Förderung privater Vorsorge im Rahmen der Riester-Rente rückte der Staat erstmals vom Primat der sozialen Güterproduktion durch das Sozialversicherungsprinzip ab, und integrierte ein Instrument, das den Markt als Produzenten sozialer Leistungen einführte. Jedoch nicht wie seit jeher auch in Deutschland in Form individuell-privater Initiative, sondern auf Grundlage staatlicher Inanspruchnahme und Regulation: Der Markt soll als kollektiver Versorgungsmodus neben den staatlichen Leistungen für ein staatlich definiertes oder erwünschtes Leistungsniveau sorgen, was in dem Begriff des Wohlfahrtsmarktes deutlich wird: Der Markt ist im Sozialstaat verortet, nicht als rein private Ergänzung neben dem Sozialstaat (vgl. Köppe 2007: 2). Verändertes Selbstverständnis: Angelehnt an Giddens (1999) ‘dritten Weg’ ging es der Regierung Schröder um ein neues Verständnis des Sozialstaats, das durch ‘fördern und fordern’ gekennzeichnet sein sollte. Der Staat tätigt nunmehr soziale Investitionen (social investment state), anstatt lediglich zu versorgen und zu alimentieren. Diese sozialen Investitionen sollen sich lohnen (Rothgang/Preuss 2008: 32), indem sie z.B. Leistungsempfängern im Gegenzug eigene Zugeständnisse abverlangen oder zukünftige Ausgaben verhindern bzw. verringern. Staat und Bürger gehen also eine wechselseitige Beziehung ein: ‘Social citizenship has been redefined from status to contract.’ (Handler 2004: 209). Veränderte Risikoverteilung: Wohlfahrtsmärkte und social investment state haben dabei zur Folge, dass in sozialen Fragen die Rollen zwischen Staat, Markt und Individuum neu definiert werden. Im versorgenden ‘Rentenbezugsstaat’ (Priddat 2004: 93) war das Individuum auf die Rolle als Leistungsempfänger reduziert. Nun kommt der Bürger Anforderungen nach, handelt eigenverantwortlich und sorgt auf dem Markt selbst für die Sicherung sozialer Lebensstandards. Damit wird er nicht mehr nur zum Konsumenten sozialer Leistungen, sondern zugleich zum Vertragspartner, zum Investor und Verbraucher. Aufgrund dessen ergeben sich für den einzelnen Bürger jedoch nicht nur neue Möglichkeiten und Pflichten. Zugleich werden auch mehr Risiken auf seine Schultern gelegt, indem er die veränderten Bedingungen für seine Zwecke nutzen muss. Neue Akteure: Zudem verändert sich die Akteurslandschaft, indem zunehmend private und gewerbliche Akteure das Feld der Sozialpolitik mitbestimmen. Auch Akteure aus dem dritten Sektor, also gemeinnützige Unternehmen oder Verbände, nehmen an Bedeutung zu. Zuletzt verändert sich aber auch die Gewichtung der staatlichen Akteure: Finanzministerien, Regulierungsbehörden und Kommissionen werden tendenziell einen höheren Einfluss auf die Steuerung einer Ökonomisierten Sozialpolitik nehmen.
Der Politikwissenschaftler und Journalist Andreas Herz beschäftigt sich seit langem mit der deutschen Wirtschafts- und Sozialpolitik. Bereits seit seinem Studium publiziert er zu diesen Themen. Seine bislang umfangreichste Studie zur Ökonomisierung der deutschen Sozialpolitik beschreibt kenntnisreich die Entwicklung und Wandlung der Alterssicherung von Bismarck bis Riester.
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