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- Zur anthropologischen Topik in Jean Pauls „Unsichtbarer Loge“: Eine Figurenstudie unter Berücksichtigung der Entfremdungstheorie J.-J. Rousseaus
Philosophie
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Verlag:
Diplomica Verlag
Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH
Hermannstal 119 k, D-22119 Hamburg
E-Mail: info@diplomica.de
Erscheinungsdatum: 01.2014
AuflagenNr.: 1
Seiten: 92
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback
Im Vergleich zum Hesperus, zum Titan oder zum Siebenkäs gehört Die unsichtbare Loge wohl eher zu den beiläufiger rezipierten Texten der Forschung. Dabei lässt sich für sie eine anthropologische Topik rekonstruieren, die auch in Bezug auf das Gesamtwerk zentrale Deutungsmuster offeriert. Anhand von intertextuellen Bezügen, die vor allem zu Jean-Jacques Rousseau führen, wird zunächst eine Verbindung zum historischen Entfremdungsdiskurs des 18. Jahrhunderts hergestellt. Diverse Elemente wie zum Beispiel ein depravierter Vernunftgebrauch, die Vorstellung des l'homme sauvage oder das Leib-Seele-Problem, werden dabei herausgelöst, um die angestrebte Charakterstudie zu entwickeln. Sämtliche Romanfiguren werden so innerhalb anthropologischer Diskursgrenzen auf ihre inhärente Entfremdung untersucht. Während die Käuze Hoppedizel, Röper oder Oefel von unterschiedlich eingefärbten ökonomischen Interessen gelenkt werden und dadurch einer Satire anheimfallen, die vor allem auf deren Mangel an Tugend zielt, oszillieren die Frauenfiguren auf mehr oder weniger humoristische Weise zwischen metaphysisch motivierter Keuschheit und leiblicher Ohnmacht. Eine Sonderstellung nimmt der Heros Ottomar ein, dessen Nihilismus auf typische Defekte des Hohen Menschen zurückzuführen ist. Der zweite Strang der Untersuchung widmet sich dem Unterirdischen Pädagogium, das Jean Paul in seinem Romanerstling als Schauplatz utopischer Erziehung inszeniert. Die zunächst etwas rätselhaften Erziehungsmaximen, die dazu von der Obristforstmeisterin vorgegeben werden, bedürfen dabei ebenso der Erläuterung wie das pädagogische Methodenkonzept, mit dem Gustavs Mentor als Auferstehungsdramaturg und vollkommener Erzieher agiert.
Textprobe: Kapitel 3, Tugend und Ökonomie: Da sich der Mensch durch seinen Intellekt von seinem hypothetischen Naturzustand entfernt hat, ist er dem bleibenden Dualismus von Vernunft und Gefühl ausgeliefert. Dieser Grund-Dualismus ist vor allem in charaktertopographischer Hinsicht und im Bezug auf das tatsächliche Handeln der Romanfiguren interessant. Die Handlung kann spontan ablaufen, indem eine Figur ihrer natürlichen Eingebung folgt oder durch logisches Abwägen entschleunigt sein. Ich möchte im Folgenden zeigen, dass die Unsichtbare Loge von diesem Dualismus in hohem Maße bewegt wird. Zunächst anhand ausgewählter Einzelfiguren, indem ich nachzuweisen versuche, dass ‘rationale’ Tugendvorstellungen sinnvoll als Entfremdungsindikatoren interpretiert werden können. Die Kategorie der Ökonomie schien sich als konkretes Beispiel für die drei folgenden Charaktere zu eignen denn ihre jeweilige Ausprägung ist ein Indiz dafür, dass der Mensch bzw. die literarische Figur sich zur ratio hin bewegt, während die Stimme der Natur als Anwalt der ‘wahren’ Bedürfnisse, dem jeweiligen Depravationsgrad entsprechend, ungehört bleibt. 3.1, Geldwirtschaft: Kommerzien-Agent von Röper: Schon wie der Kommerzien-Agent in den Roman eingeführt wird entspricht den Prinzipien der Ökonomie. Er wird nämlich in Fenks Zeitung als ‘Ein unvollkommener Charakter, so für Romanschreiber im Zeitungskomptoir zu verkaufen steht’ (S. 149) feilgeboten. Natürlich kann der Erzähler ‘Jean Paul’ diesem fiktiven Angebot nicht widerstehen und erhandelt sich diesen Charakter für seine Biographie, der es bis dato ‘ohnehin an echten Schelmen merklich [fehlet] ’ (S. 155). Die Vita dieses Spitzbuben, die Fenks Zeitungsannonce gleich mitliefert, beginnt damit, dass Röper seine geschäftlichen Erfolge mit ‘Hecheln und Mausfallen’ (S. 150) erzielt. Röper muss also anderen Fallen stellen, um ökonomisch prosperieren zu können (‘die Mauslöcher waren sein Ophir […]’, S. 150). Lautartistisch rückt Jean Paul diesen auch in die Nähe des ‘Räubers’. Als er neun Jahre alt war habe er begonnen, aus seiner ‘Blatterkrankheit einen kleinen Kaufladen’ (S. 150) zu machen, indem er mit seinem ‘Pockengifte’ (S. 150) Handel trieb und keine Blatter, aus der die Apotheker den Impfstoff gewannen, umsonst hergab. Gewissensbisse plagten ihn auch im Erwachsenenalter nicht bei der ‘Interpolation’ der Güter, die er eigentlich ‘gut bekam’, jedoch als ‘schlecht bekommen’ zurückschrieb und durch diesen Betrug ein ‘Drittel des Preises’ zurück in seine Tasche spielte (S. 152). Wie fast alle Romanfiguren ist auch der Charakter des Kommerzien-Agenten ein Anlass zur moralischen Reflexion. Bei ihm sind, so ‘Jean Paul’, die ‘Tugenden in Fehler vererzt’ (S. 151). Diese prägnante Formulierung, die sich im Folgenden als paradigmatisch herausstellen wird, lässt sich unter der Voraussetzung begreifen, dass Tugenden des ökonomischen Subjekts ja nur Tugenden eines rationalen Materialismus sind. Der Kommerzien-Agent ist also quasi die Verkörperung des homo oeconomicus. Er ist im Grunde nichts anderes als ein Wesen der Nutzenmaximierung. Seine Form der Tugend ist genauso fragmentarisch bzw. ‘unvollkommen’ wie er als Mensch. Um die Satire fortzuspinnen, macht Jean Paul sich ein markantes Charakteristikum monetärer Ökonomie zu Nutze: den Geiz. Um kein Geld für Kleider ausgeben zu müssen, trägt Röper die Kleider seiner Pfänder. Jean Paul verstärkt die Satire, indem er den faulen Charakter des Kaufmanns sichtbar macht, denn durch das Tragen der fremden Kleider tritt er so ‘bunt’ auf ‘wie ein Regenbogen oder wie eine Kleidermotte, die sich von Tuch zu Tuch durchfrißt’ (S. 151). Dass Röper barmherziger Rittergutsbesitzer von ‘Maußenbach’ ist, entspricht jedoch nur einer humoristischen Umkehrung von Röpers Charakterfehlern, die akzidentiell positive Auswirkungen haben: Als es nämlich mit seinem Gerichthalter Kolb zum Zank kommt, entlässt er ihn deshalb, weil Kolb ihm ‘alle Monate einen kostensplitterige Fraisfall zu[zog]’ (S. 188). Die Gerechtigkeit an sich spielt also hier keine Rolle. Auch sie muss sich ökonomischen Interessen beugen – und wird dadurch gebeugt! Während Röper sie monetären Maximen unterwirft, macht sie sein ‘Malefizrat’ Kolb zum Instrument, mit dem er seinem Richterfetisch frönt. An dieser Stelle inszeniert Jean Paul ein komisches Schauspiel sich in nichts nachstehender Schurken. So findet die sich ins Unmoralische bewegende Obsession von Kolb, alles einzusperren, was auf zwei Beinen geht (für ihn ist ein ‘unsrasierter Malefikant im Karzer’ ein ‘sinesisches Goldfischchen in einer gläsernen Bowle’ S. 188), seinesgleichen nur unter den ‘Spitzbube[n] und Mörder[n]’, die ihn ‘für einen ebenso großen halten’ (S.188). Freilich wirkt Röper in diesem unmoralischen Menuett mit und zwar dadurch, dass er seinen Richter später zwar nach unzähligen Freveltaten entlässt, aber nicht aus sittlichen, sondern eben aus monetären Gründen. Davon abgesehen bricht Röper ja, wie wir zu anfangs gesehen haben, mit leidenschaftlicher Hingabe Kaufmannsgesetze. Zum Gipfel der Satire kommt es dann, als schließlich die ganze Unterscheerauer Gesellschaft um ‘Jean Paul’, der sich zu diesem Zeitpunkt noch als Gustavs Mentor verdingt, auf Vorschlag des Rittmeisters uneingeladen zu Röpers Erbhuldigung erscheint – nur um ihm dadurch ein ‘Ärgernis’ (S. 165) zu bereiten. Doch es kommt zu einer gegenseitigen Neutralisierung des ‘ökonomischen’ Interesses, da Röper durch die Herausgabe der ‘mit doppelter Kreide weniger angeschrieben[en] als getünchet[en]’ und halb verkommenen Weinfässer, deren sich die Gesellschaft frech zu bemächtigen scheint, um die Sorge des Aufwands, sie vernichten zu müssen, de facto erleichtert wird. Im Zusammenhang der Geizsatire steht noch eine andere Eigenart von Röper, die in mehrerer Hinsicht interessant ist. Es ist das merkwürdige kulinarische Verhalten des Kommerzien-Agenten, hinter dem wiederum der Drang zur materiellen Nutzenmaximierung steckt: ‘Da ich so gewiß weiß, daß Verschwendung ihn nicht verunzierte, so sehr es den Anschein hat: so will ich allen Anschein durch die Nachricht wegnehmen, daß er jeden Sonnabend sein Pfund Fleisch im Zölibate kaufte, aber – denn sonst bewiese es noch nichts – nicht aß. Er aß allerdings eines und mit dem Löffel aber es war vom vorigen Sonnabend. Der unvollkommene Charakter holte nämlich jeden Sonnabend sein Andachtfleisch aus der Bank und veredelte und dekorierte damit sein Sonntag-Gemüs. Aber er nahm nichts zu sich als den vegetabilischen Teil. Am Montag hatt’ er den tierischen noch und würzte mit ihm ein zweites Gemüs – am Dienstag arbeitete das abgekochte Fleisch mit neuem Feuer an der Kultur eines frischen Krautes – am Mittwoch mußt’ es vor ihm mit matten Fettaugen auf einer andern Kräutersuppe liebäugeln – und so ging es fort, bis endlich der Sonntag erschien, wo das ausgelaugte Fleischgeäder selber zum Essen, aber in einem andern Sinne, kam und Röper das Pfund wirklich aß. Ebenso kann man mit einem Pfund Leibnizischer, Rousseauischer, Jakobischer Gedanken ganze Schiffkessel voll schriftstellerischen Blätterwerks kräftig kochen’ (S. 151/152). Mit der mehrmaligen Verwendung des ‘Andachtfleisch[es]’ soll die ewig ans Rad der ökonomischen Vernunft gefesselte Kaufmannszunft verballhornt werden. Röper könnte quasi eine Anwendung Schillerscher Kulturkritik sein. Die m. E. in auffälliger Nähe zur Unsichtbaren Loge stehende Formel, die Schiller für die ökonomische Entfremdung des Menschen fand, lautete wie folgt: ‘Auseinandergerissen wurden jetzt der Staat und die Kirche, die Gesetze und die Sitten der Genuß wurde von der Arbeit, das Mittel vom Zweck, die Anstrengung von der Belohnung geschieden. Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als Bruchstück aus ewig nur das eintönige Geräusch des Rades, das er umtreibt, im Ohr, entwickelt er nie die Harmonie seines Wesens, und anstatt die Menschheit in seiner Natur auszuprägen, wird er bloß zu einem Abdruck seines Geschäfts, seiner Wissenschaft.’ Von dort aus lässt sich ohne große Mühe zum Kommerzien-Agenten übersetzen: Anstatt das Fleisch in dem Moment zu verspeisen, als es noch genießbar ist, lässt er es für das Gemüse ‘arbeiten’, das ja ganz offensichtlich nur Nebenspeise ist. Es wird erst zum Zeitpunkt verzehrt, zu dem es nicht mehr nutzbringend verwendbar ist. Dass das Fleisch beim Verzehr bereits ein verdorbenes, ‘ausgelaugtes Fleischgeäder’ ist, nimmt er auf Grund der ökonomischen Ausbeute zufrieden in Kauf. Der Verzicht auf den Genuss zugunsten einer infiniten Produktion – der Zwang, etwas produzieren zu müssen, bestimmt also auch seine nicht-ökonomischen Lebensbereiche – bedeutet ja die Negation der Möglichkeit, dass etwas überhaupt ein Selbst-Zweck sein kann. Indem das Fleisch seinen Status als Nahrung verliert, wird es zweckentfremdet. Die Degradierung des Zwecks zum Mittel sorgt dann dafür, dass der Ökonom – freiwillig oder unfreiwillig – jeglicher Innerlichkeit entsagt, wie z. B. dem Gefühl der Belohnung, dem des Genusses bzw. der Lust. Er depraviert zur bloßen äußeren Schale, zu einem ‘Abdruck seines Geschäfts’, was zur paradoxen Konstellation führt, dass die Beförderung der äußern Mittel zum Selbstzweck wird. Dadurch begibt er sich auf eine Reise ohne Ankunft. Denn wofür handelt der Mensch, wenn nicht für sein Glück, das er wohl kaum anderswo, als in seinem Innern empfinden kann? Jean Pauls satirische Fleischpfund-Allegorie richtet sich jedoch nicht nur gegen die totale kaufmännische Selbst-Aufopferung für die monetäre Ökonomie. In einer für Jean Paul typischen Erzählerwende nimmt er die schreibende Zunft ebenfalls aufs Korn, indem er für Literatoren spricht, die ebenfalls zum haushalten neigen. Durch den Vergleich, dass man mit ‘Leibnizischer, Rousseauischer [hervorgeh., DV], Jakobischer Gedanken ganze Schiffskessel voll schriftstellerischen Blätterwerks kräftig kochen’ könne, so wie Röper mit einem Stück Fleisch eine ganze Woche lang würzen, rückt der Erzähler ‘Jean Paul’ seine potentielle Unvollkommenheit ironisch vor das Fadenkreuz der Satire. Um seinen Lebensunterhalt bestreiten zu können, schreckt auch ‘Jean Paul’ nicht davor zurück, sich mit dem Schurken Röper zu verbünden. Als der ihm die freigewordene Gerichthalterstellestelle in Maußenbach anbietet, sagt er nämlich ohne zu zögern zu. ‘Jean Paul’ hatte dem Leser sogar zuvor eingestanden, auf die Nachfolge Kolbs hinzuarbeiten. Bei einem Streit mit Kolb stellt er sich dann als der Nutznießer des erpresserischen Wissens heraus, dass Röper und Kolb über ihre Zusammenarbeit haben. Natürlich setzt Röper seinen neuen Richter, also ‘Jean Paul’, in Wahrheit wieder nur aus wirtschaftlichen Gründen ein: Aufgrund seiner körperlichen Gebrechen kann ‘Jean Paul’ nämlich nicht reiten (Kurzbein, ‘seekranker Magen’), wodurch Röper sich den teuren juristischen ‘Pferdenachtrab, den sein Stall bisher zu apanagieren hatte’ sparen kann (S. 189).
Daniel Vesel, M.A. wurde 1986 in Ellwangen geboren. Sein Studium der Germanistik, der Alten Geschichte und der Philosophie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, schloss der Autor im Jahre 2013 mit dem akademischen Grad des Magister Artium ab. Bereits während des Studiums sammelte der Autor praktische Erfahrungen als Literaturwissenschaftler. Sein aktuelles Projekt ist eine Studie zur literarischen Utopie.
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