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- Der pflegerische Beitrag zur therapeutischen Behandlung und Sicherung in der forensischen Psychiatrie: Eine qualitative Studie über Interviews mit Pflegekräften
Pflege
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Verlag:
Diplomica Verlag
Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH
Hermannstal 119 k, D-22119 Hamburg
E-Mail: info@diplomica.de
Erscheinungsdatum: 06.2014
AuflagenNr.: 1
Seiten: 172
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback
Die Tätigkeiten von Pflegekräften in der Psychiatrie beinhalten neben der Sorge für die Grundbedürfnisse der Patienten und den somatischen Pflegeaufgaben auch etwas, was schwer auf den Begriff zu bringen ist, was oft nicht festgelegt ist und wofür es in der normalen Ausbildung in der Regel auch wenig Schulung gibt: Pflegekräfte in der Psychiatrie begleiten als Team 24 Stunden am Tag die Patienten, gehen Beziehungen ein, sind Gesprächspartner, spenden Respekt und Anerkennung, setzen Grenzen, regulieren Stimmungen, zeigen andere Verhaltensmöglichkeiten auf und vieles mehr. Ziel der vorliegenden qualitativen Untersuchung mittels Interviews ist die Klärung, was Pflegekräfte in der forensischen Psychiatrie im Umgang mit den Patienten tun und wodurch sie eine Wirkung bezüglich der Sicherung der Patienten, der Reduktion ihrer Gefährlichkeit und der Bewältigung psychischer Anlasserkrankungen erzielen.
Textprobe: Kapitel, V.3.3, Diagnostik anhand alltäglicher Beobachtungen: Eine Anwendung der auf praktischen Erfahrungen basierenden Handlungsweise ist die diagnostische Einschätzung von Patienten bei der Abgabe von Gefährlichkeitsprognosen anhand alltäglicher Beobachtungen. Dieser Aspekt wird von einer Pflegekraft erläutert: Wenn man mit Patienten in einer Kochgruppe sitzt oder mit denen DVD schaut, [sieht man] noch ganz andere Probleme [als die Sucht] in den Patienten oft eine Persönlichkeitsstörung, die nicht ausreicht für den Diagnoseschlüssel und die der Richter [nicht mit im Urteil bedacht hat] (13.12.11, Feenke, Z.193-201). Die Pflegekraft Feenke beschreibt, dass die Pflegekräfte die Patienten bei deren Freizeitbeschäftigungen begleiten und diese Gelegenheit nutzen, um die Patienten zu beobachten. Dabei können problematische Verhaltensweisen erkannt werden, die in der Diagnose für den Behandlungsauftrag nicht erfasst sind. Oftmals ist nur die Sucht diagnostiziert worden, während die Pflegekraft zusätzlich umfassende Störungen der Persönlichkeit entdeckt. Feenke erwähnt einen ‘Diagnoseschlüssel’ und bezieht sich damit auf das in der Klinik gebräuchliche Klassifikationssystem ‘ICD’ (International Classification of Diseases). Anhand dieses Klassifikationssystems der Weltgesundheitsorganisation (World Health Organsation) werden Krankheitsbildern nach deskriptiven Kriterien Diagnosen zugeschrieben. Es ist als Standard-Diagnostik-Instrument allgemein anerkannt unter Medizinern, Psychologen und auch bei Institutionen wie Krankenkassen und Gerichten (World Health Organisation (2013)). In einer weiteren Kernsatzpassage stellt die Pflegekraft Feenke eine Beurteilung der Patienten anhand von Kriterien der eigenen Einschätzung gegenüber: [Manchmal ist es so, dass Patienten], die schwere Verbrechen begangen haben, im geschlossenen Rahmen ohne Alkohol, Drogen, oder sonstige äußere Einflüsse ok laufen. Aber gerade als Bezugspfleger, wenn man mal privat ein Gespräch geführt hat mit denen, [sieht man, dass] die massive Störungen haben. Aber mein Bauchgefühl ist natürlich immer da, [dass dann, wenn] gewisse Kriterien erfüllt werden und wenn man an der Arbeitstherapie gut teilnimmt und dann vielleicht auch noch die Dauer der Haftstrafe, also die Zeit, dafür spricht, dass man dann schon eine Lockerungsstufe bekommt. Die kauft man schon fast mit ein, und das durchschaut jeder Patient. Nur wenn der Patient presserelevant ist, da wird mehr raufgeguckt, wie die Lockerungsstufen verteilt werden (13.12.11, Feenke, Z. 218-236). In diesem Abschnitt geht es nicht nur um die Diagnose einer Krankheit, sondern auch um die Prognose einer Gefährlichkeit. Laut Feenke gibt es Patienten, die in der Vergangenheit schwerwiegende Straftaten begangen haben, aber sich aktuell im Klinikalltag angemessen verhalten. Allerdings ändert sich dieser Eindruck für die Pflegekraft manchmal, wenn sie mit den Patienten Gespräche unter vier Augen führt. Daher beunruhigt es die Pflegekraft, wenn anhand gewisser Kriterien zusammen mit einer guten 'Führung' und einem zeitlichen Druck ein Patient ‘gelockert’ wird. ‘Lockerungen’ bedeuten in der forensischen Psychiatrie eine stufenweise Rücknahme des Freiheitsentzuges. Die Pflegekraft findet die Lockerungen im allgemeinen zu leicht erreichbar für die Patienten, außer für diejenigen, die in der Öffentlichkeit durch die Medien bekannt sind. Ich denke mir hinzu, dass dieses Patienten mit besonders spektakulären und schweren Delikten sind. Die Lockerungen für diese Patientengruppe werden in den Augen der interviewten Pflegekraft mit Hilfe einer genaueren Diagnostik gegeben. In der zitierten Passage stellt die Pflegekraft Feenke ihr eigenes ‘Bauchgefühl’ bestimmten Kriterien gegenüber, die in der Entscheidungspraxis relevant sind. Abgesehen vom Kriterium einer guten Mitarbeit in der Arbeitstherapie, die hier – meinen Beobachtungen aus der Felderkundung zufolge – Pate für eine generelle gute Teilnahme an im weiten Sinne therapeutischen Angeboten gesehen werden kann, und dem Kriterium der gesetzlich festgelegten verbleibenden Zeit bedingt durch die Dauer der Haftstrafe, bleibt offen, welche ‘gewisse Kriterien’ von der Pflegekraft gemeint sind. In meiner Felderkundung habe ich den Eindruck gewonnen, dass die Vergabe einer Lockerungsstufe mindestens auf Grundlage einer Teamdiskussion erfolgt und vom Oberarzt genehmigt werden muss. Bei sogenannten ‘Schwellen-Lockerungsstufen’, in denen eine bedeutsame Veränderung der Freiheitsbeschränkung zur Entscheidung ansteht, finden Lockerungskonferenzen statt, bei denen Mitglieder verschiedener Stationen und Professionen anwesend sind, ebenso weitere Personen wie z.B. ein Richter im Ruhestand. Der Patient wird mit seiner Biographie, seinem Delikt, seiner Entwicklung beschrieben, testdiagnostische Ergebnisse werden präsentiert. Anschließend schildern verschiedene Angestellte der Klinik, die in näherem Kontakt mit dem Patienten stehen, ihren Eindruck und es gibt die Gelegenheit für alle Anwesenden, zur Diskussion beizutragen. Auf Basis dieser Beratung fällt der Chefarzt schließlich die Entscheidung. Meiner Wahrnehmung im Praktikum zufolge gibt es also durchaus den Raum, in dem das von der Pflegekraft Feenke benannte ‘Bauchgefühl’, was ich in dem Kontext der zitierten Passage als Bedenken gegen eine Lockerung verstehe, geäußert und gehört werden kann. Daher vermag ich die in der Äußerung vorhandene implizite Kritik nicht direkt nachzuvollziehen. Aber auf Grundlage meiner Beobachtungen im Praktikum und einer anderen Äußerung derselben Pflegekraft vermute ich, dass das geschilderte Erleben der Pflegekraft einen Wunsch nach einem stärkeren Gewicht der pflegerischen Einschätzung ausdrückt, das heißt nach mehr Anerkennung der pflegerischen Kompetenz im interdisziplinären Team. Bei dieser Vermutung habe ich folgende Interviewpassage mit einbezogen: Die Gespräche [mit den Patienten, die wir Pfleger führen, kommen hier in der Aufnahmestation] nicht so zum Tragen wie [bei den anderen Berufsgruppen]. [Im Vergleich zu den Therapiestationen ist] hier auf der Aufnahmestation das [therapeutische] Level gering, auch wenn es von außen [anders] aussieht. Das, [was wir Pflegenden in Gesprächen erfahren] muss in sieben Übergaben auf den [Tisch] kommen, damit es in der achten Übergabe beim Psychologen ankommt. Vieles reden wir auch intern in der Pflege und ich mach nicht immer alles offen und renn zum Psychologen oder so (13.12.11, Feenke, Z. 478-485). Ich lege mein Verständnis der Kernsatzpassage dar: Die Pflegekraft Feenke erlebt, dass die pflegerischen Gespräche mit Patienten in der Aufnahme- und Kriseninterventionsstation innerhalb des interdisziplinären Behandlungsteams weniger Aufmerksamkeit erfahren als auf Therapiestationen. Dieses schreibt die Pflegekraft dem geringeren therapeutischen Niveau ihrer Station zu. Ihre Eindrücke aus einem Patientengespräch schildert sie wiederholt in ‘Übergaben’, bis diese schließlich Gehör beim Psychologen finden. Aus den Erfahrungen meiner Felderkundung füge ich erläuternd hinzu, dass der Begriff ‘Übergabe’ im klinischen Kontext für ein Teamgespräch steht. Dieses ist oft zu Zeiten eines Schichtwechsels des Pflegeteams angesetzt und dient hauptsächlich der Übergabe der Arbeit an das neue Team, zu dem tagsüber auch andere Berufsgruppen gehören. In der Bremer forensischen Psychiatrie ist das nicht-pflegerische Personal hauptsächlich von montags bis freitags von acht bis 16 Uhr anwesend – so jedenfalls war die Organisation während meiner Felderkundung 2011. Zurück zur besprochenen Interviewpassage: Ohne Bezug auf das vorher Gesagte führt die Pflegekraft fort, dass viele Eindrücke nur unter den pflegerischen Kollegen besprochen werden. Ob dieses eine Reaktion auf die empfundene Nichtbeachtung seitens der anderen Berufsgruppen ist oder ob dies andere Gründe hat, die sich möglicherweise in der Formulierung ‘ich mach nicht immer alles offen und renn zum Psychologen’ andeuten, bleibt für mich offen. Aber eine weitere Interviewpassage derselben Pflegekraft lässt die Vermutung zu, dass sie in Anlehnung an die professionelle Schweigepflicht die Vorstellung eines Vertrauen schaffenden ‘Schweigegebots’ hat. [In lockeren Situationen] können sie viel offener reden, weil das nicht vorgesetzt ist und [weil sie wissen], dass ich nicht alles auf die Goldwaage lege oder sofort weitertratsche, auch wenn ich die Gespräche im Pflegebericht dokumentiere (13.12.11, Feenke, Z. 114-118). Nach meinem Verständnis äußert die Pflegekraft in dieser Passage die Meinung, dass das von den Patienten gegenüber der Pflegekraft gezeigte Vertrauen geachtet werde, indem Gesprächsinhalte und Beobachtungen nicht oder nicht in Gänze in Übergabegesprächen weitergegeben werden. Es erfolge eine Dokumentation im Pflegebericht, die jedoch, in meiner Lesart, nur eine kurze Notiz darstellt, die möglicherweise allein zwecks Erfüllung von Vorschriften hinterlassen wird. Neuntes Ergebnis meiner Analyse ist, dass die Pflegenden anhand alltäglicher Beobachtung die Patienten diagnostisch und prognostisch einschätzen und sich darüber innerhalb des Pflegeteams austauschen. Ihre Beurteilungen weichen teilweise von den ärztlichen und psychologischen ab, was Anlass für eine kritische Betrachtung der Behandlung gibt. Sichtbar ist das Bedürfnis, dass die pflegerischen Einschätzungen im interdisziplinären Team mehr Anerkennung erhalten. Meines Erachtens ist dieses thematische Feld es wert, vertieft untersucht zu werden, wobei die Auswirkungen der interdisziplinären Dynamik zwischen Pflege und anderen Berufsgruppen, vor allem die der Psychologen und Ärzte, berücksichtigt werden sollten. Weiterführend wäre zudem, ein genaueres Bild über die diagnostische und prognostische Kompetenz der Pflegekräfte zu gewinnen, sei es über vorhandene oder künftig durchzuführende Studien.
Barbara Kummetz, Jahrgang 1977, schloss ihr Studium der Diplom Kunsttherapie über das Medium Schauspiel an der FH Ottersberg 2002 erfolgreich ab. Ihre fachlichen Qualifikationen im Bereich Psychologie baute sie durch ein zweites Studium an der Universität Bremen weiter aus, das sie 2013 ebenfalls sehr gut mit dem akademischen Grad Diplom abschloss. Die studentische Position nutze die Autorin, um Erfahrung in verschiedenen Arbeitsfeldern zu sammeln: Vom Personalmanagement über internationale Wissenschaft bis hin zum Gesundheitswesen. Dabei entwickelte sie ein Gespür für praxisrelevante Probleme, die einer interdisziplinären Betrachtung bedürfen. Ihre Feldbeobachtungen während eines 8-monatigen Praktikums in der forensischen Psychiatrie motivierten sie, sich dem Thema des therapeutischen Beitrags der Pflegekräfte zu widmen.