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- Seelisches Leiden im kulturellen Wandel: Eine wissenschaftstheoretische Betrachtung des Umbruches in Wissenschaft und Gesellschaft
Pädagogik & Soziales
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Verlag:
Diplomica Verlag
Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH
Hermannstal 119 k, D-22119 Hamburg
E-Mail: info@diplomica.de
Erscheinungsdatum: 02.2012
AuflagenNr.: 1
Seiten: 96
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback
In dem vorliegenden Buch stellt der Autor die These auf, dass das wissenschaftliche Paradigma des Kausaldeterminismus nicht mehr in der Lage ist, die heutigen Herausforderungen einer immer komplexer werdenden, globalisierten Welt erfolgreich zu bewältigen. Er beschreibt, wie der Wandel des wissenschaftlichen Paradigmas mit der Auflösung sinngebender Wirklichkeitskonstruktionen einhergeht. Der sich hieraus ergebende Verlust allgemeinverbindlicher Glaubenssysteme führt zu einer Individualisierung und Verunsicherung der Mitglieder der Gesellschaft, die sich in einem Anstieg seelischer Abweichung von den Normalitätserwartungen zeigt. Der psychiatrische Umgang mit seelischer Abweichung, die der Autor bewusst nicht als psychische Erkrankung etikettiert, wird im Sinne der dynamischen Systemtheorie als Versuch der Systemerhaltung angesehen. Dies sei in einer Zeit des Paradigmenwandels jedoch nur eine vorübergehende Erscheinung. Die Entwicklung eines neuen Paradigmas, das in der Lage ist, der Komplexität unserer Zeit erfolgreich zu begegnen, sei nicht aufzuhalten. Es ist die zentrale These des Autors, dass seelische Abweichung von gesellschaftlichen Normalitätserwartungen als kreatives Potential erkannt werden muss. Im Sinne einer dialogischen Kommunikation sollte dieses Potential zur Entwicklung einer neuen ethisch korrekten Wirklichkeitskonstruktion genutzt werden. Eine solche Wirklichkeitskonstruktion wäre in der Lage, die Komplexität und Vielfalt des Lebens in ihr Weltbild zu integrieren, statt Menschen auszugrenzen, die in ihrem Verhalten und Erleben engen normativen Vorgaben nicht entsprechen.
Textprobe: Kapitel 2, Kultureller Wandel in der Postmoderne: Das Präfix ‘post’ drückt ein zeitliches und sachliches Jenseits dieses Zustandes aus, in dem die Gesetzmäßigkeiten und Normen der neuzeitlichen Kultur und Zivilisation nicht mehr greifen. Wurden die ‘neuzeitlichen Projekte’ innerhalb ihres eigenen Horizonts mit hohem Wahrheits- und Vorbildlichkeitsanspruch entworfen und legitimiert, so wird dieser Horizont nun selbst in Frage gestellt. Normen und Gesetzmäßigkeiten der modernen Gesellschaft werden zunehmend gesprengt und die Aufweichung bisher gültiger Ordnungen und Traditionen gibt einer nie gekannten Pluralität Raum. In der Postmoderne vernetzt sich die Gesellschaft immer mehr durch einen digitalen Medienverbund in einem globalen Weltsystem. Das Verhalten der Teilnehmer des ‘globalen Netzes’ wird nur noch aus dem Systemzusammenhang verständlich. Der Geltungsbereich des ‘Kultursystems’ büßt in einem globalen Weltsystem seinen Anspruch auf universale Zuständigkeit immer mehr ein. Globalisierung bedeutet ein zunehmendes Verschwinden von universalen kulturellen Ansprüchen und Zuständigkeiten. In einem globalen Weltsystem wird es keinen einzelnen Entwurf kultureller Identität mehr geben, der die unterschiedlichen Kulturen dominiert und allgemeine Verbindlichkeit beanspruchen kann. In diesem Sinne ist die Kultur eines Weltsystems eine nachhegemoniale Kultur. Vor diesem Hintergrund stellt der Postmodernismus eine kulturelle Orientierung dar, die in dem Orientierungssystem des modernen Weltbildes, der modernen Kultur und ihres Wertesystems eine Zäsur vornimmt. Ihre Grundhaltung ist ein Skeptizismus gegenüber Expertentum, der aus der Inkommensurabilität sich widersprechender Deutungsansprüche einer chaotischen Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit resultiert. Eine solche postmoderne Kultur und Zivilisation entzieht sich folglich auch den Erkenntnismöglichkeiten der exakten Wissenschaft und den Zugriffsversuchen der sozialen Herrschaft. Sprache verliert ihren Realitätsbezug es gibt keine Tatsachen, sondern nur Interpretationen. Die Postmoderne kann man somit als Grundsituation des sozialen Wandels und des Umbaus des kulturellen Orientierungssystems bezeichnen, der dahin geht, dass ‘Ziele’ und ‘Werte’ der Kultur keinen universalen Anspruch mehr erheben können. 2.1, Anstieg von Komplexität und Risiko als Folge der Ziel- und Zweckorientierung des mechanistischen Paradigmas: Die Gesellschaft ist sich selbst zum dominanten Risiko geworden. Ihr Fortbestand wird von ihr durch selbsterzeugte Risiken bedroht. Dies ist lt. Ulrich Beck der Preis, der für den Fortbestand der ‘Moderne’ gezahlt wird. Hierbei handelt es sich jedoch nicht um ein zwingendes Gesetz sozialer Evolution, sondern um eine gesellschaftliche Pathologie. Sie ist die Antwort auf die Weltsicht automatischer Gesetzmäßigkeiten, die sich seit der Aufklärung durchgesetzt hat. ‘Durch die gezielte Zweckverfolgung nehmen wir bewusst oder unbewusst selbsterzeugte Risiken in Kauf, die unseren Fortbestand bedrohen’. ‘Wir hatten gehofft, diese Natur in eine Hierarchie hineinzubekommen, die unserem alten Bild entspricht. Diese Hierarchie hat versagt. Die eigentlich schwierigen Probleme sind komplex. Sie sind derart, dass ich alle Menschheitsprobleme im Schoß habe, wenn ich an einer Stelle anfange zu ziehen. Bei einer solchen Verfilzung und Vernetzung der verschiedenen Kausalketten ist der Wissenschaftler überfordert. Er kann nur umgehen mit Problemen, die man auseinanderdröseln kann. Das ist auch der Grund, warum er so verschreckt ist und sich auf Probleme zurückzieht, die er lösen kann’. Ein Kernargument der Risikogesellschaft ist die besondere Qualität neuer Risiken. Sie treten als Nebenfolgen der industriellen Moderne in Erscheinung und sind verantwortlich für ihre Selbsttransformation. Es sind in diesem Sinne die objektiven Qualitäten neuer Risiken, die es der Gesellschaft so schwer machen, mit ihnen in herkömmlicher Weise umzugehen. Mit seinem Konzept der Hybridität rechtfertigt Beck seinen Risikoobjektivismus, indem er die Trennung von Natur und Kultur als eine Idee darstellt, die sich erst in der Moderne durchsetzte. Es sei unmöglich, die beiden Seiten trennscharf voneinander zu unterscheiden. Zugang zur Natur sei nur durch kulturell provozierte Beobachtungsstrategien möglich und Kultur sei ohne eingewobene Natur nicht denkbar. Wissenschaftliche Analysen könnten sich entsprechend nur daran abarbeiten, die Hybridität von Natur- / Kultur- Konstrukten zu beschreiben. Diese Problematik wird im Kontext der Risikovergesellschaftung noch einmal besonders deutlich. Denn die wissenschaftlich unterstellte Beherrschbarkeit und Kontrolle der Natur hat die impliziten normativen Annahmen bisher verdeckt. Der bis dahin stillschweigend unterstellte gesellschaftliche Wertekonsensus wird mit den Grenzen der Bearbeitbarkeit erneut zum Thema und in Frage gestellt. Die bis dahin als wünschenswert angesehene technische und wissenschaftliche Entwicklung wird durch ihre ungesehenen oder ausgeblendeten Nebenfolgen selbst fraglich und das Wissensmonopol der Wissenschaften aufgebrochen. Mangelndes Wissen oder besser wachsendes Wissen über Nicht-Wissen ruft einerseits nach Strategien der Bearbeitung von Nicht-Wissen, andererseits nach normativ-moralischer Wertung. Beck beschränkt Risikofragen jedoch nicht auf Umweltrisiken. Mit der Individualisierungsthese adressiert er ‘institutionenabhängige Individuallagen’. Für die gesellschaftliche Form des Zusammenhanges von Zweckerreichung und riskanten Nebenfolgen erscheint Beck der unaufhaltsame Trend zur Vereinzelung und Individualisierung bedeutsam. Er signalisiere den Siegeszug des Primats subjektiver Zweckverfolgung auf der Basis individueller Präferenzen. Entscheidungszwang und Entscheidungsunmöglichkeit bei gleichzeitiger individueller Verantwortungszurechnung würden das Individuum in ganz neuer und ungeahnter Form unter Druck setzen. In Becks Individualisierungsthese sind die Gestaltungswünsche und Gestaltungsnormen eines modernen Individuums verbunden. Unsicherheitsbearbeitung und Risikobewältigung werden so zu einem individuell zu bearbeitenden und zu verantwortenden Projekt. In der systemtheoretischen Perspektive erscheint Risiko als Form gesellschaftlicher Selbstbeobachtung. Sie ist typisch für moderne Gesellschaften, die sich primär in Kategorien von Handeln und Entscheiden beschreiben anstelle von Zufall, Schicksal oder göttlicher Fügung. Durch den Wandel von einer stratifikatorischen (d.h. in Schichten und Stände) differenzierten Gesellschaft zu einer funktional differenzierten Gesellschaft, deren Funktionssysteme sich durch spezifische Codes gegenüber anderen gesellschaftlichen Bereichen abschließen, werden sie füreinander undurchschaubar. Dies hat zur Folge, dass es keine gesellschaftliche (Beobachtungs-)Position mehr gibt, die Allgemeingültigkeit für sich beanspruchen kann. Luhmann definiert die kleinste konstitutive Einheit von sozialen Einheiten und Gesellschaft als Kommunikation. Handlungen und Entscheidungen werden in diesem Sinne nur insofern sozial konstituiert, wie sie kommunikativ hergestellt werden. Da es keine allgemeingültige (Beobachtungs-)Position mehr gibt, existieren auch keine absoluten Gewissheiten mehr. Entscheidungen sind somit per definitionem immer riskant. In funktional differenzierten Gesellschaften wird Entscheiden und Verantwortungszuschreibung zum Dauerproblem und damit Risiko zur zentralen Größe gesellschaftlicher Selbstbeschreibung. Mit wachsender Komplexität gesellschaftlicher Kommunikations- und Austauschprozesse, den zeitlich wie räumlich immer weiter ausufernden Interdependenzen sozialer Interaktionen, haben sich nicht nur die Handlungsoptionen potenziert, sondern auch die Reichweite der Handlungsfolgen sowie die Schwierigkeiten, diese abzuschätzen. Diese Offenheit wurde und wird nicht allein als positive Erweiterung von Möglichkeiten, sondern zugleich als verstörende Entgrenzung erfahren. In dem Maße, wie für die Unwägbarkeit des menschlichen Lebens nicht länger ein göttliches Schicksal verantwortlich gemacht werden kann, erscheint es möglich und unabweisbar nötig, die bedrohlichen Seiten der Kontingenz aus eigener Kraft unter Kontrolle zu bringen. Hierzu ist es jedoch erforderlich, die Folgen des eigenen Handelns zu antizipieren und negative Folgen durch Prävention zu vermeiden. Dies ist aber immer weniger möglich, da es keine allgemeingültigen Gewissheiten mehr gibt. Vielmehr kann präventives Handeln selbst neue Risiken erzeugen – das Problem jeder Schutzimpfung. So lässt die Risikogesellschaft die bekannte Logik, die Auswirkungen gegenwärtiger Ereignisse im Hinblick auf ihre Auswirkungen auf künftige Ereignisse zu beurteilen, obsolet werden. Prävention ufert unter dem Aspekt unberechenbarer und unvorhersehbarer Handlungsplanung aus. Aus systemtheoretischer Sicht erweist sich Prävention als ein selbstreferentielles Unterfangen. Sie konstruiert die Bedrohung, gegen die sie Abhilfe verspricht. Insofern ist sie ein gesellschaftlich erzeugtes Kulturprodukt, welches die Ideologie des mechanistischen Paradigmas, alles sei beherrsch- und kontrollierbar, obsolet werden lässt. So erscheint es angemessen, von einer Krise des mechanistischen Paradigmas zu sprechen.
Bruno Mohr wurde 1953 in Hamburg geboren. Er studierte Philosophie, Sozialwesen und Kriminologie. Während seines Studiums im Fachbereich Sozialwesen entstand durch Praktika im Landeskrankenhaus und im sozial¬psychiatrischen Dienst sein Interesse an dem gesellschaftlichen Umgang mit seelischem Leiden. Durch Weiterbildungen in systemischer Therapie, Beratung und Supervision wurde der Autor mit dem systemischen Konstruktivismus vertraut, der seine berufliche und wissenschaftliche Perspektive nachhaltig beeinflusste. Das berufsbegleitende Masterstudium der Kriminologie regte ihn an, seelisches Leiden nicht als Krankheit sondern als Abweichung von gesellschaftlichen Normen zu betrachten. Nach unterschiedlichen Tätigkeiten als Heilpraktiker, Judotrainer und Sozial¬pädagoge arbeitet der Autor heute im sozialpsychiatrischen Dienst eines Hamburger Gesundheitsamtes.
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