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Pädagogik & Soziales

Ute Filsinger

Identitätsbildung im Jugendalter durch Lektüre

ISBN: 978-3-95934-582-8

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Produktart: Buch
Verlag:
Diplomica Verlag
Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH
Hermannstal 119 k, D-22119 Hamburg
E-Mail: info@diplomica.de
Erscheinungsdatum: 04.2015
AuflagenNr.: 1
Seiten: 96
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback

Inhalt

Lesen bietet nach Cornelia Rosebrock (1995) die Möglichkeit der Verschmelzung mit dem Nicht-Identischen , also seine eigene Identität mit dem Nicht-Identischen aus Büchern in Beziehung zu setzen, eventuell zu erweitern und zu verändern. Dies diente zum Anlass zu der Frage nach der Konstitution von Identität und gleichzeitig nach der spezifischen Art der Wirkung von literarischer Lektüre auf die Persönlichkeitsentwicklung und Identitätsbildung aus. Die untersuchungsleitende Frage der Arbeit soll sein, wie es literarische Lektüre genau vermag, Einfluss auf die Identitätsentwicklung im Jugendalter zu nehmen, und welche Konsequenzen daraus für den Literaturunterricht entstehen. Dabei wirft diese Arbeit immer wieder einen Seitenblick auf für die Hauptschule relevanten Aspekte. Sie beschränkt sich auf das Jugendalter, da Erkenntnisse aus der Leseforschung zeigen, dass zu dem Zeitpunkt eine große Einflussnahme möglich ist.

Leseprobe

Textprobe: Kapitel 2.2.2, Substitution, Projektion und Empathie: Schön (1995) unterscheidet auf Grundlage quantitativer und qualitativer Leseforschung verschiedene literarische Rezeptionskompetenzen bei Jugendlichen. Diese stehen in direkter Verbindung zu den sozialen Interaktionsformen der realen Alltagswelt von Jugendlichen. Für Schön ist literarische Sozialisation ein Teil der allgemeinen Sozialisation, so hat Lektüre je nach entwicklungspsychologischer Situation der Jugendlichen entsprechend sozialisationsbedingte Funktion und Motivation (vgl. Schön 1995, 100). Meine These ist, daß die für den psychosozialen Entwicklungsstatus spezifischen Bedürfnisse sich nicht nur auf die stoffliche Ebene der Lesestoffe beziehen, sondern vor allem auf die Art der zu machenden Erfahrungen. Zwar sind Gegenstand und Modus der Erfahrung kaum voneinander zu trennen doch besteht die Funktion der Lektüre nicht zuletzt darin, eben diese Erfahrungsmodi als Fähigkeiten einzuüben (Schön 1995, 101). Das Besondere am Erfahrungsmodus während der Lektüre ist für Schön, dass die Einübung von Interaktionskompetenzen in der sanktions-, zwangs- und risikolosen Situation des Lesens geschieht (vgl. ebd., 102). Grundsätzlich unterscheidet er als Rezeptionskompetenzen Substitution, Projektion und Empathie. Substitution bezeichnet die basale Fähigkeit der Illusionsbildung beim Lektürevorgang, die für vorpubertäres Leseverhalten typisch ist. Die umgebende reale Welt des Lesers wird durch die fiktive ersetzt und als quasi-real wahrgenommen (vgl. ebd., 105). Dabei ist entscheidend, dass das Selbst des Lesers keiner Veränderung unterzogen wird, der Leser nimmt folglich als er selbst am fiktiven Geschehen teil. Zur Illustration belegt Schön diese Rezeptionskompetenz mit Beispielen aus Lektürebiographien. Besonders deutlich wird diese Lektüreform bei der Beschreibung eines Befragten, der sich selbst als sechster der Fünf Freunde von Enid Blyton beim Lesen empfand (vgl. ebd., 106). Die sich auf Basis der Substitution entwickelnde Rezeptionskompetenz der Projektion, ist diejenige, die alltagssprachlich meist als Identifikation verstanden wird. Damit gemeint ist das Einschreiben der Eigenschaften, Bedürfnisse und Einstellungen des Lesers in eine der Figuren des Textes, zumeist des Protagonisten: Derart kann er phantasiehaft sein eigenes Selbst mit seiner gesamten kognitiven und affektiven Befindlichkeit in der Situation jenes Protagonisten realisieren (Schön 1995, 108). Hier sieht Schön eine enge Verbindung zur psychosozialen Bedürfnissituation der Vorpubertät und Pubertät, in der persönliche Handlungsbedürfnisse weit von den realen Handlungsmöglichkeiten entfernt sind. Für Schön ist die kompetenteste Form sowohl der sozialen Interaktion, als auch in Bezug auf Rezeptionskompetenz, die Empathie. Bei der Empathie wird nicht nur phantasiehaft die umgebende Welt 'vertauscht' Empathie bedeutet die Fähigkeit zu einem kontrollierten flexiblen Umgang mit den Grenzen eigener und fremder Identität. Dieser 'introjektive' Anpassungsmodus erlaubt es, 'Fremdes' in die eigene Identität aufzunehmen (Ebd., 110). Empathie ermöglicht, Gefühle anderer Personen, bzw. Protagonisten, zu fühlen, ist aber kein rein affektives Handeln, sondern erfordert zunächst eine Interpretation, die von beobachtbaren Merkmalen auf nicht beobachtbare Befindlichkeiten schließt. Schön bezeichnet dies als Konstruktionsaktivität des Empathie-Subjekts (ebd., 110), durch die Fremderfahrung möglich wird. Literarische Lektüre vermag es, nach Schön, diese Form des spielerischen, sanktionslosen Umgangs mit den Grenzen fremder und eigener Identität zu ermöglichen und einzuüben. Er sieht hier eine direkte Verbindung zwischen jugendlicher Identitätskrise und dem Bedürfnis nach empathischer Lektüre, durch die fremde und extreme emotionale Zustände und Identitäten erfahrbar werden. Schön vermutet, dass die zu erwerbenden Rezeptionskompetenzen beim Lesen, die ja zugleich auch soziale Interaktionskompetenzen sind, nur für regelmäßige Leser erlernbar sind die ausschließliche Rezeption von neuen Medien wird nicht zu diesem Kompetenzgewinn führen (vgl. Schön 1995, 123). Einerseits erscheinen die von Schön entwickelten Stufen der Rezeptionskompetenz theoretisch plausibel und besonders für die Bedeutung des Lesens im Medienverbund erhellend, andererseits etwas schematisch und vereinfacht, da sowohl Mischformen von Lektürefunktionen, etwa der bei Messner/Rosebrock dargestellten, als auch weitere Differenzierung denkbar sind. Aus den dargestellten Überlegungen Schöns lässt sich jedoch die Notwendigkeit von Leseförderung bei Kindern und Jugendlichen erklären. Es geht um zu erlernende soziale wie literarische Kompetenzen, die nicht leicht, bis gar nicht, durch andere Medien vermittelbar sind. Gerade die durch empathisches Lesen ermöglichten Fremderfahrungen haben einen unersetzbaren Wert für die Persönlichkeitsentwicklung Jugendlicher. Denn wie bei Erikson und Blos (gezeigt wurde, ist die Übernahme verschiedener Rollen und das Experimentieren mit verschiedenen Identitäten eine entscheidende Erfahrung in der Adoleszenz und ein wichtiger Schritt auf dem Weg zum Konstituieren der eigenen Identität. Lesen ermöglicht hierbei die Erfahrung fremder Zustände, die in der realen Lebenswelt zumeist nicht erlebbar wären. Gerade außergewöhnliche Erfahrungen, die Figuren in Texten durchleben, können von Jugendlichen fremderlebt werden. Dadurch gelingt es ihnen möglicherweise, ihr Bedürfnis nach Extremen ein Stück weit zu befriedigen, jedoch gefahrlos und ohne reale Konsequenzen. Diese Funktion des Lesens führt m.E. zu einem zentralen Aspekt, was die Möglichkeiten des Lesens für die Identitätsentwicklung betrifft. Bedürfnisse nach Fiktion, Identifikation mit Helden oder einfach nach Unterhaltung können auch über Filmrezeption oder Computerspiele befriedigt werden, Fremderfahrungen und die sich darüber bildende Empathiefähigkeit hingegen ermöglicht, aus der oben dargestellten Sicht Schöns, nur das tiefe Involviertsein in eine Lektüre. Gerade Empathie ist jedoch für die von Krappmann beschriebene Identitätsbalance von großer Bedeutung. Der Erwerb dieser Fähigkeiten ist für die Identitätsentwicklung im Jugendalter folglich zentral. Aus dieser Erkenntnis heraus lassen sich nun auch Zielsetzungen für eine literaturdidaktische Konzeptionen postulieren. In Bezug auf die theoretischen Akzentuierung der Ansätze von Schön und Rosebrock ist ergänzend festzustellen, dass im Gegensatz zur dargestellten Funktion des jugendlichen Lesens bei Rosebrock, als kompensatorische Nische oder Enklave, bei Schöns Verständnis von empathischer Lektüre relativ hohe soziale wie literarische Kompetenzen der Interpretation und Konstruktion von wahrgenommenen oder dargestellten fremden Zuständen erforderlich sind (vgl. Maiwald 1999, 116f.). Bei Rosebrock wiederum verlangt grundsätzlich jeder Lesevorgang die psychische Entgrenzung von Identität (vgl. Rosebrock 1995, 201). Für sie hat das jugendliche Lesen eher die Funktion, eine Gegenwelt zu den realen Anforderungen der Lebenswelt Jugendlicher zu bilden, indem die als überfordernd empfundene Realität für den Zeitraum des Lesens suspendiert wird, während bei Schön die Rezeptionskompetenzen analog zu den sozialen Interaktionskompetenzen entwickelt werden und dazu beitragen, die reale Lebenswelt zu meistern. Hier scheinen zugrundegelegte Theorien Ursache für die unterschiedliche Akzentsetzung zu sein. Während sich Rosebrock eher auf psychoanalytische Theorien stützt, die das Unbewusste und Verdrängte zum Untersuchungsgegenstand haben, argumentiert Schön realitätsorientiert im Sinne von entwicklungspsychologischen Stufenmodellen des Jugendalters (vgl. Eggert/Garbe 1995, 133). Insgesamt konnten also zwei Formen der identitätsorientierten Lektüre ausgemacht werden. In Anlehnung an die Begriffsbildung Klaus Maiwalds (vgl. Maiwald 1999, 119) werden sie im weiteren Verlauf dieser Arbeit als eine realitätssuspendierende und eine realitätsorientierte bzw. realitätsverarbeitende Form von Lektüre bezeichnet. Die bei Messner/Rosebrock beschriebene realitätssupendierende Form des Nischenlesens als Gegenwelt zum als überfordernd wahrgenommenen Alltag von Jugendlichen trägt insofern zur Identitätsentwicklung bei, als dass sie hilft, das Bedürfnis des Eintauchens in verschiedene Rollen und Identitäten zu befriedigen. Darüber hinaus fordert, nach Rosebrock, jede literarische Lektüre Ich-Entgrenzung und Nicht-Identität , die Jugendliche in der Phase der Identitätsdiffusion gerade als Lebensgefühl erfahren Durch diese Analogie der psychischen Konstitution im Jugendalter und dem psychischen Zustand beim Lesen finden sich Jugendliche im symbiotischen Akt des Nischen-Lesens in ihrem Befinden bestätigt. Dies wirkt ihrem Gefühl der Unsicherheit und Einsamkeit entgegen und gibt ihnen ein Stück Ich-Stabilität zurück. Die realitätsorientierte Form der Lektüre wurde bei Schön deutlich. Hier trägt literarische Lektüre zum stufenweisen Aufbau von Empathiefähigkeit bei, die sowohl eine Rezeptionskompetenz als auch eine Interaktionskompetenz darstellt. Die Fähigkeit zur Empathie ist für ihn eine generell wichtige Fähigkeit im Umgang mit Menschen, demzufolge eine Kompetenz, die direkt zur Bewältigung der Realität beiträgt. Diese realitätsorientierte Form von literarischer Lektüre trägt zur Identitätsentwicklung von Jugendlichen bei, indem sie, wie bereits erwähnt, den stufenweisen Aufbau der Rezeptions- und Interaktionskompetenz Empathie ermöglicht, die nach Krappmann wichtig für den Ausgleich eigener und fremder Erwartungen in Interaktionen bzw. der Aufrechterhaltung von Identitätsbalance ist. Des Weiteren ermöglicht das empathische Fremderfahren der verschiedenen Identitäten der Protagonisten das für den Aufbau von Identität im Jugendalter wichtige Experimentieren mit Rollen bzw. Identitäten. Bei Rosebrock war es die Befriedigung dieses Bedürfnisses, bei Schön ist es die Ermöglichung dieser Erfahrung und der damit verbundenen realitätsorientierten Erweiterung von Interaktionskompetenzen.

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