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- Fremde Nachbarn – Vertriebene in Wermelskirchen 1945 – 1957. Eine Fallstudie über die gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Integration
Pädagogik & Soziales
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Verlag: Diplomica Verlag
Erscheinungsdatum: 03.2021
AuflagenNr.: 1
Seiten: 76
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback
Die Fallstudie analysiert am Beispiel der Kleinstadt Wermelskirchen die Integration von Vertriebenen in Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Eingliederung von Millionen aus Mittel- und Osteuropa vertriebenen Menschen war eine der wichtigsten Aufgaben und dringlichsten Herausforderungen der ersten Nachkriegsjahre und der jungen Bundesrepublik.Bei der Bewältigung dieser Aufgabe waren von der Politik und Verwaltung über die Zivilgesellschaft bis zur Wirtschaft alle gesellschaftlichen Bereiche gefordert. So tiefgreifend die dabei in Gang gesetzten Veränderungsprozesse auch gewesen sein mögen, waren es aber die Vertriebenen, die die einschneidendsten Veränderungen verarbeiten mussten.Die Kraftanstrengungen beider Seiten, der fremden Nachbarn sowie der aufnehmenden Gesellschaft, die Verwirklichung der großen Leitlinien, begannen dabei alle im kleinen Rahmen: in der jeweiligen Gemeinde. Diese nationale Krise äußerte sich aus der jeweils spezifischen kommunalen Perspektive sehr unterschiedlich, abhängig von einer Vielzahl von Faktoren, die sich von demographisch-strukturellen sowie politischen und wirtschaftlichen hin zu kulturellen und religiösen Aspekten erstreckten.
Textprobe: Kapitel 3.2 Die Situation in Nordrhein-Westfalen: Die Herausforderungen, vor denen die deutschen Besatzungszonen durch die Ankunft von Millionen Menschen standen, waren angesichts der wirtschaftlichen, politischen, gesellschaftlichen und nicht zuletzt administrativen Umstände immens. Durch den Zuzug übertraf bereits 1948 die Bevölkerungszahl der drei westlichen Besatzungszonen trotz aller Kriegsverluste den Wert von 1939 um 6,2 Millionen Menschen, 1950 war jeder sechste Bundesbürger ein Vertriebener oder SBZ-Flüchtling. Was den relativen Anteil an der Bevölkerung betrifft, befand sich Nordrhein-Westfalen mit 10 Prozent im Jahr 1950 zwar auf den hinteren Plätzen – den höchsten Anteil hatten die Hauptaufnahmeländer Schleswig-Holstein (33 Prozent), Niedersachsen (27,2 Prozent) und Bayern (21,1 Prozent) – jedoch nahm das Land mit 1.323.000 Menschen nach Bayern mit 1.932.000 und Niedersachsen mit 1.848.000 die meisten Vertriebenen auf. Somit hatte NRW eine zentrale Bedeutung bei der Bewältigung dieser Gründungskrise der Bundesrepublik, auch wenn die praktische Relevanz und Bedeutung der Thematik je nach Region stark differierten und die Umwälzungen verglichen mit den den relativ größten Bevölkerungszuwachs zu bewältigenden agrarisch geprägten und eher dünn besiedelten Hauptaufnahmeländern Schleswig-Holstein (73,1 Prozent), Niedersachsen (51,9 Prozent) und Bayern (32,7 Prozent) moderater ausfielen. Doch war auch in Nordrhein-Westfalen in Gebieten mit hoher Flüchtlingsdichte die Lage zum Teil derart katastrophal, dass die öffentliche Sicherheit gefährdet war und der Ausbruch von Seuchen drohte. Die regionale Bandbreite der Verteilung der Vertriebenen in Nordrhein-Westfalen war durch verschiedene Faktoren bedingt. So waren Regionen, die besonders stark von Zerstörungen der Infrastruktur, von Produktionsstätten und Wohnraum betroffen waren – in NRW waren 46 Prozent des Wohnungsbestandes vernichtet – lange für den unkontrollierten Zuzug von Flüchtlingen gesperrt. Daher war der relative Bevölkerungsanteil der Vertriebenen und SBZ-Flüchtlinge zunächst sogar noch geringer und betrug im Oktober 1946 lediglich 7,4 Prozent, was etwa 870.000 Personen entsprach, von denen rund 700.000 mit Massentransporten aus Schlesien, Pommern und Ostpreußen kamen der Anteil der Arbeitsunfähigen auf diesen Transporten war zudem sehr hoch, sodass sie im Westen ankommend eine weitere soziale Belastung in einer ohnehin prekären Lage darstellten. Im August 1945 erklärte daher die britische Militärregierung in der kurz zuvor errichteten Provinz Nordrhein sowie der Provinz Westfalen die linksrheinischen Gebiete, die rheinischen Städte und das Ruhrgebiet zu restricted areas , gesperrt für Zu- und Rückwanderung. Daher wurden die Vertriebenen im Gebiet der Provinzen Nordrhein und Westfalen zunächst vor allem in den ländlichen Regionen Ostwestfalen, Lippe und dem Sauerland untergebracht. Dadurch waren etwa im Regierungsbezirk Detmold 12,1 Prozent der Einwohner Vertriebene, während der Anteil in den Bezirken Aachen, Köln und Düsseldorf zwischen 1,7 und 4,4 Prozent betrug zu letzterem Regierungsbezirk gehörte bis zu den Gebietsreformen der 1970er Jahre auch Wermelskirchen. Ähnliche Regelungen wurden auch in weiteren industriell und städtisch geprägten Regionen getroffen, sodass letztlich mehr als 70 Prozent der Vertriebenen auf dem Land untergebracht wurden. Das BMVt gab für Ende 1957 an, dass von den 9.148.100 Vertriebenen in der Bundesrepublik rund 64,7 Prozent in Landkreisen und 35,3 Prozent in Stadtkreisen lebten. Somit war Mitte der 1950er Jahre der Vertriebenenanteil im ländlichen Bereich bereits zurückgegangen, vor allem bedingt durch die Arbeitsmigration in die Städte und industriell geprägte Gegenden. Besonders Nordrhein-Westfalen ist hier hervorzuheben als Anziehungspunkt für die sogenannte Sekundärmigration . Dies schlug sich auch in der Zahl der Arbeitslosen unter den Vertriebenen in NRW nieder: Während diese Ende 1949 in der Bundesrepublik mit 35,1 Prozent einen mehr als doppelt so hohen Anteil an den Arbeitslosen als an der Gesamtbevölkerung (16,1 Prozent) stellten, war das Verhältnis in Nordrhein-Westfalen wesentlich ausgeglichener: Bei einem Anteil von etwa 9,1 Prozent an der Bevölkerung betrug er 13,1 Prozent an den Arbeitslosen. Der Länderegoismus , der sich in NRW in der Bevorzugung von Arbeitskräften äußerte, hatte auch zur Folge, dass das Geschlechterverhältnis unter den Vertriebenen in vielen Regionen ausgeglichener war als unter den Einheimischen und in den Regierungsbezirken Aachen und Düsseldorf sogar ein Männerüberschuss bestand. Zudem war NRW als ein Hauptempfängerland wichtiger Teil planmäßiger Umsiedlungsprogramme auf freiwilliger Basis, die als Korrektur der offensichtlichen Fehlverteilung der Vertriebenen auf die einzelnen Länder und die damit einhergehende ungleiche Belastung dienten. Nach längerer Planung wurde Ende 1949 mit der Umsiedlung von 300.000 Vertriebenen aus den Hauptaufnahmeländern Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Bayern begonnen, von denen 90.000 Personen nach Nordrhein-Westfalen kamen. Weitere Umsiedlungsprogramme folgten so kamen zwischen 1949 und 1963 insgesamt 529.000 Flüchtlinge nach NRW. Durch die Programme sowie die Migrationsbewegungen innerhalb der Länder gelang es nach der mit der Währungsreform eingeleiteten wirtschaftlichen Erholung, Arbeitsplatzangebot und Arbeitsplatznachfrage anzugleichen , was ganz im Sinne der auf die Beschaffung von Arbeitskräften fokussierten Flüchtlingspolitik Nordrhein-Westfalens war. Dabei hatte der Aufbau von Industrie und Wirtschaft auch für die britische Besatzungsverwaltung Priorität, benötigte sie doch dringend Devisen für die Versorgung der Vertriebenen, die zum Teil nur durch Nahrungsmittelimporte zu erfüllen war. Diese erhebliche Belastung für die britischen Finanzen sollte durch Entnahmen aus Kohle- und Stahlproduktion ausgeglichen werden. Die Vertreibung veränderte auch die konfessionelle Landkarte: In Nordrhein-Westfalen wuchs der Anteil der evangelischen Bevölkerung von 37,5 Prozent in 1939 auf 41,1 Prozent in 1950 im selben Zeitraum ging der Anteil der katholischen Bevölkerung von 56,8 auf 54,8 Prozent leicht zurück. Dass diese Veränderung hauptsächlich auf den Zuzug der Vertriebenen zurückzuführen ist, zeigt ein Blick auf den jeweiligen Konfessionsanteil innerhalb dieser Bevölkerungsgruppe, denn eine Mehrheit von 59,6 Prozent der Vertriebenen in NRW war 1950 evangelisch, während 38,2 Prozent der katholischen Kirche angehörten.
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