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Pädagogik & Soziales

Patrik Süess

Die bürgerliche Gleichstellung der Juden in der Schweiz im mittleren 19. Jh.

ISBN: 978-3-95850-511-7

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Produktart: Buch
Verlag:
Diplomica Verlag
Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH
Hermannstal 119 k, D-22119 Hamburg
E-Mail: info@diplomica.de
Erscheinungsdatum: 08.2014
AuflagenNr.: 1
Seiten: 128
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback

Inhalt

Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Geschichte der Emanzipation - also der bürgerlichen Gleichstellung - der Juden in der Schweiz. Hauptsächlich erstreckt sich die Analyse auf die Zeit von der Gründung des modernen schweizerischen Bundesstaates von 1848 bis zur Teilrevision der Bundesverfassung von 1866, als die Sonderbestimmungen für ‘Nicht-Christen’ endgültig beseitigt wurden. Der Fokus der Arbeit liegt auf dem Einfluss des Auslandes auf die Entwicklung der ‘Judengesetzgebung’. Damit behandelt die Arbeit einen Teilbereich sowohl der Schweizer Geschichte als auch der jüdischen Geschichte im ‘Westen’ - dem europäisch-amerikanischen Teil der Welt, der seit dem 18. Jahrhundert von Aufklärung und Industrialisierung geprägt war. Zu diesem Zweck werden einführend die Spezifika der Schweizer nationalen Geschichte im europäischen Umfeld bis zur Bundesstaatsgründung thematisiert sowie Gang der Emanzipation der Juden in Europa behandelt. Um den Einfluss, aber auch die Reichweite der ausländischen Interventionen in der Schweiz bezüglich der jüdischen Gleichstellung abmessen zu können, ist es zudem nötig, die binnenschweizerischen Entwicklungen mitzuverfolgen. Die zentrale Frage, die es zu beantworten gilt, ist die nach der Rolle des strukturkonservativen Föderalismus bei der verzögerten Gleichstellung der Juden.

Leseprobe

Textprobe: Kapitel 3.1, Konservativ-traditioneller Antijudaismus: Welchen Einfluss hatten die Aufklärung und die erstarkende bürgerliche Bewegung in Europa auf die Juden und ihre Stellung in der Gesellschaft? Im Mittelalter und noch in der Frühneuzeit lebten die Juden als Randgruppe in der christlichen Gesellschaft. Doch waren sie mehr als Ausgegrenzte als lebende Ablehnung des kirchlichen Anspruches auf die alleinige Gnade Gottes, eine Gnade, die die Kirche zudem von den Juden übernommen zu haben behauptete, waren sie nicht einfach nur Häretiker oder Ungläubige ihre Weiterexistenz als Juden drohte den gesamten göttlichen Heilsplan in Frage zu stellen. Sie konnten höchstens als demütige Zeugen der Überlegenheit des Christentums geduldet werden, wobei ihre fortdauernde Ablehnung der christlichen Wahrheit als Zeichen sündiger Verstocktheit gedeutet werden musste, einer Verstocktheit, die nur auf einem spezifisch jüdischen Charakterdefizit basieren konnte. In den Jahrhunderten entwickelte sich eine Theologie, die die Juden zum Prototyp der von Gott Verworfenen erklärte, zuweilen zu Dienern des Bösen schlechthin, denen man jede Missetat zutraute - sie waren ‘Fremde par excellence’ , ‘das Andere’ der gesamten sittlichen Gemeinschaft. Mit der Aufklärung, der Erosion des theologisch-kirchlichen Alleindeutungsanspruches, der Auflösung der ständisch-hierarchischen Gesellschaft, und schliesslich mit dem Einsetzen der bürgerlich-staatlichen Reformprogramme (jedenfalls in Frankreich und einigen deutschen Staaten) anfangs des 19. Jahrhunderts kamen zwangsläufig auch die Juden in den Fokus der Modernisierer. Die Inklusion möglichst aller Gesellschaftsmitglieder in den neuen, säkularen Staat verlangte den Abbau rechtlicher Differenzen in sozialer, aber gerade auch religiöser Hinsicht. Dass christliche Konservative diesem weltlichen ‘Differenzminderungsprogramm’ (Erb/Bergmann) ablehnend gegenüberstanden, versteht sich von selbst. Für die Konservativen galt nach 1789 als ausgemacht, dass die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte der Französischen Revolution nur Gewalt, Chaos und Anarchie gebracht hatte. Sie widersetzen sich den Freiheits- und Gleichheitsforderungen der Aufklärer und Rationalisten und somit auch jeder Form von jüdischer Emanzipation. Ihnen war klar, dass das französische Emanzipationsgesetz von 1791 nur die logische Konsequenz aus der Gleichheitsideologie der Revolution gewesen war. Der Konservativismus blieb dagegen dabei, dass Religion, aber auch Herkunft und Charakter das Judentum bestimmten und dass die Juden als Juden deshalb prinzipiell nicht integrierbar waren. Strenggläubige waren weiterhin der geltenden kirchlichen Doktrin verhaftet, dass das Elend der Juden, ihr Leiden und ihr Exil, eine Strafe für ihre Sünde war, den Messias verschmäht und den Gottessohn getötet zu haben. Erst wenn sie ihre ‚Verstocktheit’ überwinden und sich zum Christentum bekehren würden, könnte der Fluch, der auf ihnen lastete, aufgehoben werden. So galt der Kirche das Elend der Juden (das genau deswegen aufrechterhalten werden musste) als Beweis der Verstossung des alten und der Auserwähltheit des neuen Israel - der christlichen Kirche, der ‚ecclesia triumphans’. So schrieb ein katholischer Publizist aus Italien zu Anfang des 18. Jahrhunderts: ‘Ein Judenghetto ist ein besserer Beweis für die Wahrheit der Religion Jesu Christi als eine Theologenschule.’ Um so schlimmer musste für viele gläubige Christen wirken, dass sich die Lage der Juden im Verlaufe des 19. Jahrhunderts schrittweise verbesserte, (mit Hilfe kirchenferner politischer Bewegungen), und das, ohne dass sie konvertierten - das stand dem göttlichen Plan entgegen! Und da man den Juden schon immer Christen- und Kirchenhass unterstellt hatte, und sie nun ganz offensichtlich zu den Profiteuren einer Entwicklung gehörten, die im Zeichen der Modernisierung die Macht der Kirche beschnitt, lag für einige der Schluss nahe (gemäss dem verschwörungstheoretischen ‚cui bono?’), dass die Juden selbst hinter den Veränderungen der Moderne stecken mussten, mit denen sie das Christentum zu zerstören suchten. Natürlich zogen nicht alle Konservativen einen solch radikalen Schluss aus den zeitgenössischen Entwicklungen, doch für viele wirkte er aufgrund seiner Einfachheit verführerisch er versprach, wie Olaf Blaschke schreibt, Komplexitätsminimierung und Kohärenzmaximierung und diente zur Kompensation von Verlust- und Zukunftsängsten. Solche verschwörungstheoretischen Versatzstücke sollten auch die konservative Abwehr in der Schweiz prägen. Doch war der Antijudaismus nicht nur ein Problem der Konservativen. Die antijüdischen Stereotypen und Vorurteile, die während Jahrhunderten auf christlich-dogmatischem Boden gewachsen waren, beeinflussten auch die Sicht der Aufklärer, selbst wenn sie sich dessen nicht bewusst waren und glaubten, zumindest dem dogmatischen Christentum längst nicht mehr verpflichtet zu sein. Bald zeigte sich, dass der Antijudaismus nicht nur ein religiös-politisches Problem war die negativen Assoziationen, die sich mit dem Begriff ‚Jude’ verbanden, konnten auf andere Bereiche der Kultur oder der Politik abfärben. Dabei blieben die inhaltlichen Stereotype des modernen Antisemitismus denen des religiösen Antijudaismus erstaunlich ähnlich. Erb/Bergmann schreiben: ‘Die antijüdischen Motive (…) entstammen der Tradition, werden aber (…) in einen modernen (…) Kontext gestellt. Derartige Interpretationen leisteten die ständige Anpassung des Antijudaismus an die intellektuellen Standards der Zeit und gaben der ‚Judenfrage’ jeweils eine zeitgemässe Fassung, in der sie vom gebildeten Publikum rezipiert werden konnte.’ Der christliche Antijudaismus behielt so seine grundlegende Bedeutung für den modernen Antisemitismus. 3.2., ‘Aufgeklärter’ Antisemitismus: Auch die Aufklärer und mit ihnen der entstehende Liberalismus waren also von christlicher Tradition geprägt, und sie konnten mit ihr auch die judenfeindlichen Stereotypen übernehmen. Die üblichsten waren dabei der Vorwurf der Absonderung und des hochfahrenden Stolzes aufgrund des ‘Auserwähltheitsglaubens’, sowie die Unterstellung eines Hasses gegen die christliche Mehrheitsgesellschaft, verbunden mit einer angeblich talmudisch erlaubten Doppelmoral, die Betrug (oder Schlimmeres) gegen Christen erlaube. Diese Vorwürfe konnten im Zeitalter der Nationalstaaten auch erweitert werden zur Behauptung, die Juden bildeten einen eigenen (feindlichen) Staat im Staat. Dass die Juden eine latente Gefahr für ihre Umwelt seien, oder zumindest moralisch minderwertig, war auch unter den Aufklärern keine aussergewöhnliche Ansicht. Die Streitfrage, die sich zwischen Konservativen und Modernisten dann stellte, war nur: konnte man die Juden zum Positiven hin verändern? Schon in der ersten und langfristig einflussreichsten Schrift zur Emanzipation der Juden des preussischen Diplomaten und Schriftstellers Christian Konrad Wilhelm Dohm Über die bürgerliche Verbesserung der Juden aus den Jahren 1780/81 wurde diese Frage behandelt und positiv beantwortet. Dohm war als liberaler Aufklärer der Ansicht, dass nur die schlechte Behandlung durch die christliche Mehrheitsgesellschaft die Juden sittlich habe verkommen lassen. Deshalb plädierte er für eine graduelle rechtliche Besserstellung, mit deren Fortschreiten sich auch die Juden zu nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft wandeln würden. Wenn man von christlicher Seite auf die Juden zuginge, würden sie ihre schlechten Eigenschaften ablegen, und vor allem würden sie sich von der ungesunden Einschränkung auf den Handel abwenden, der ihren Charakter beschädigt habe. Diesem ‚Verbesserungskonzept’ stand das ‚Erziehungskonzept’ gegenüber, das die konservativeren Skeptiker vertraten zuerst müsse sich das Judentum sittlich erneuern, erst dann könne man den Juden vielleicht die Gleichstellung gewähren - in seinem gegenwärtigen Zustand sei das Judentum noch eine Gefahr für die Öffentlichkeit. Einzelnen Juden, die sich um diese Selbsterziehung verdient gemacht hätten, könnte man zunächst (auch als Vorbildfunktion) gewisse rechtliche Privilegien einräumen. Schädigungsvermutung und Kontrollnotwendigkeit der Juden waren also auch für viele Aufklärer unhinterfragtes ‘Alltagswissen’. Die Ideen Dohms und seiner Nachfolger hatten unleugbar eine progressive Seite, als sie erstmals die Diskriminierungspolitik kritisierten und als Ursache sozialer Missstände anprangerten. Doch das grundlegende und unaufhebbare Problem sowohl des Verbesserungs- wie des Erziehungskonzeptes war natürlich, dass es keinerlei Parameter gab, mit denen man die (eingetretene oder ausgebliebene) ‚Besserung’ der Juden hätte messen können, noch dazu, als die plakative Rückständigkeitsbehauptung vorurteilsbehaftetem Ressentiment entsprang - eine solche Aufgabe konnte nie ‘objektiv’ bewältigt werden. Somit war die Haltung des Hauptstroms des Liberalismus zumindest zweideutig. Einerseits sah man die Problematik der Diskriminierung und schrieb ihr auch schädliche (und ungerechte) Auswirkungen auf Juden zu. Andererseits bestätigte man durch diese Ansichten die alten judenfeindlichen Klischees. Man konnte für die Gleichberechtigung sein, und das Judentum trotzdem verurteilen - gerade der verkommene Ist-Zustand der Juden gebot ein emanzipatives ‘Herausreissen aus dem Sumpf’. Dabei war nie ganz klar, wie die Juden als emanzipierte Bürger schliesslich werden sollten. Wie jüdisch sollten/durften sie im neuen aufgeklärten Zeitalter noch sein? Die jüdische Religion konnte nämlich sowohl von christlicher wie von säkularer Seite her angegriffen werden. Gerade Kritik am Christentum konnte immer auch (implizite oder explizite) Kritik am Judentum sein. Viele Deisten waren der Ansicht, dass man die Irrtümer, mit denen sich die christliche Tradition durch die Jahrhunderte befleckt habe, in erster Linie den Juden verdanke. Für Voltaire, einen eingefleischten Judenhasser, der auch die antijüdischen Ritualmordlegenden (wieder) verbreitete, wurzelte das Übel, das er in der katholischen Kirche erblickte, letztlich im dogmatischen, grausamen und abergläubischen Judentum. Und ein anderer Aufklärer des 18. Jahrhunderts formulierte: ‘Man muss zugeben, dass die Juden auch durch ihren Untergang sich in der Tat gut an den Römern, ihren Besiegern, gerächt haben. Aus dem Zusammenbruch ihres Landes ging eine fanatische Sekte hervor, die mit ihren Gebrechen allmählich das ganze römische Reich verseuchte…’ Bei Aufklärern, die der christlichen Religion positiver gegenüberstanden, konnte das Judentum weiterhin die Negativfolie zu einem anzustrebenden ‘gereinigten’ und damit sozial nützlichen Christentum abgeben. Aus den alten theologischen Klischees von der ‘versteinerten’ jüdischen Religion wurde nicht mehr die religiöse, aber die soziale und kulturelle Schädlichkeit der Juden (sofern sie sich nicht von ihrer Religion trennten), abgeleitet. Der deutsche Liberale Alexander Lipps zum Beispiel hielt der jüdischen Religion ihre Sehnsucht nach der Vergangenheit vor, die sie vom ‘menschlichen Ideal der Vervollkommnung’ ausschliessen würde, wogegen die christliche Religion voller Liebe und Toleranz sei, ‘vom Geiste der Humanität und der Sittlichkeit durchdrungen (…), nach dem Bedürfnisse eines anderen, höheren Zeitalters gemodelt’, die das Judentum, dem sie entstammte, weit hinter sich zurückliesse. Der liberale Schmidt-Phiseldeck hielt das ‘innere Gepräge’ des Christentums für universal gültig und für alle Völker und in allen Staatsformen und unter allen Verfassungen für anwendbar der Gründer des Christentums habe versucht, das Judentum von seinem Partikularismus zu befreien, aber vergeblich. Auch für einen so grossen Denker der Aufklärung wie Kant war das Christentum (in seinem Kern) eine ‘Religion der Vernunft’ und damit eine ‘Antithese zum Judentum’, und Hegel hielt das Judentum für eine primitive Stufe des sich entwickelnden Weltgeistes. Typische und immer wiederkehrende aufklärerisch-liberale Forderungen an die Juden waren daher auch, ‘veraltete Praktiken’ aufzugeben, um endlich in der Gegenwart anzukommen, Praktiken als da wären: Beschneidung, Speisevorschriften, die Benutzung des Hebräischen im Gottesdienst und den Feiertag am Samstag zu halten. Was also konnte da das Emanzipationsziel sein? Eine Mehrheit der Aufklärer sah es wohl wirklich in der totalen Assimilation, d.h. der völligen Verschmelzung von Juden und Christen - Konversionsforderung in (halb)säkularer Gestalt. Der grosse preussische Reformer (und Befürworter der sofortigen Gleichstellung der Juden) Wilhelm von Humboldt schrieb demgemäss 1809: ‘Die (jüdischen) Individuen werden gewahr werden, dass sie nur ein Ceremonial-Gesetz haben und eigentlich keine Religion (…).’ Daher würden sie, ‘getrieben von dem angeborenen menschlichen Bedürfnis nach einem höheren Glauben, sich von selbst der christlichen (Religion) zuwenden.’ Die nichtjüdische Gesellschaft bot den einzelnen Juden also an, ihr beizutreten, wenn auch nur unter der Bedingung, die Struktur der jüdischen Gemeinden ganz aufzulösen. Dieses Ziel war unerreichbar hoch, hätte es doch die völlige Vernichtung der jüdischen Identität bedeutet , wobei noch angefügt werden muss, dass eine so radikale Abkehr von jeglicher Gruppenidentität nur von den Juden gefordert wurde. Die Steigerung der modernistischen Entdifferenzierungsforderung zur absoluten Assimilation konnte also durchaus auch judenfeindliche Ursachen (und natürlich Konsequenzen) haben. Dennoch haben die meisten Juden während des ganzen 19. Jahrhunderts aktiv versucht, sich der Moderne anzupassen und insbesondere religiöse Reformen durchzuführen. Die Vertreter der strengen Orthodoxie, die eine begrenzte innere Autonomie, selbst um den Preis minderer Bürgerrechte, der Integration in den bürgerlichen Staat vorzogen (den sie nicht zu Unrecht als säkulare Versuchung fürchteten), haben kaum je einen wirklich bedeutenden Einfluss auf den Gang der Dinge gehabt.

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