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- Der Berufswahlprozess von Jugendlichen mit arabischem oder türkischem Migrationshintergrund im Spannungsfeld von Gesellschaft und Familie
Pädagogik & Soziales
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Verlag:
disserta Verlag
Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH
Hermannstal 119 k, D-22119 Hamburg
E-Mail: info@diplomica.de
Erscheinungsdatum: 01.2025
AuflagenNr.: 1
Seiten: 400
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit den Interaktionen zwischen Schüler*innen mit Migrationshintergrund und ihren Eltern im Kontext des Berufswahlprozesses. Hierfür wurden Interviews mit Jugendlichen der zweiten Generation sowie deren Eltern aus arabischsprachigen Ländern oder der Türkei durchgeführt. Das Ziel der Untersuchung ist es, den Widerspruch zwischen der familiären Orientierung und der Seltenheit von Berufswahlgesprächen zu beleuchten. Die zentrale Fragestellung lautet, wie sich Jugendliche und ihre Eltern in diesem Prozess verhalten.
Textprobe: 1. Einleitung Menschen und insbesondere Schüler*innen mit Migrationshintergrund sind seit mehreren Jahren vielfach Inhalt bildungspolitischer Diskussionen. Spätestens seit dem so genannten PISA-Schock im Jahr 2001, der durch die schlechten Ergebnisse von Deutschlands Schüler*innen im internationalen Vergleich bei der PISA-Studie ausgelöst wurde, ist der Migrationshintergrund, wenn es um den Bildungserfolg junger Menschen geht, ein wichtiges Merkmal. Es gibt zahlreiche empirische Untersuchungen, die sich mit dieser Zielgruppe auseinandersetzen. Zu den untersuchten Forschungsgebieten gehören u.a. die Sprachkompetenz von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund, ihre Situation bezüglich der Chancengleichheit bzw. der (institutionellen) Diskriminierung in Bildungseinrichtungen sowie die Integration Zusammenhängen (Mücke 2010, Haug 2008, SVR 2013, SVR 2014, Skrobanek 2007, Frindte et al. 2011, Haug et al. 2009). Besonders häufig wird hier der Aspekt der (Aus-)Bildung aufgegriffen (vgl. z.B. BMBF 2014, Stürzer et al. 2012). Mehr als jeder vierte Mensch in Deutschland (27,5 %) hat heute einen Migrationshintergrund. Bei jüngeren Menschen ist der Anteil, vor allem in größeren Städten, höher (vgl. Statistisches Bundesamt 2023, S. 39). In Berlin sind es 34,9 %. Bei der betrachteten Zielgruppe der Jugendlichen liegt der Prozentsatz höher, bei 39,9 % (10 - 15 Jahre) bzw. bei 36,7 % (15 - 20 Jahre) (vgl. Statistisches Bundesamt 2023, S. 39). Die hohen Anteile der Bevölkerung mit Migrationshintergrund unterstreichen die Relevanz der Auseinandersetzung mit dieser Zielgruppe in der Bildungsforschung. Die Situation gewann auch im öffentlichen Diskurs eine neue Aktualität und Brisanz seit der großen Zuwanderungsströme nach Deutschland von asylsuchenden Menschen in den Jahren 2014 bis 2016. Vor allem Menschen aus Syrien, dem Irak und Afghanistan suchten zu dieser Zeit Schutz in Deutschland. Die Thematik wird insbesondere in Bezug auf die Integration durch Bildung, Ausbildung und eine erfolgreiche Platzierung auf dem Arbeitsmarkt auch in Zukunft von Bedeutung bleiben. 1.1 Problemstellung Die Ergebnisse verschiedener Untersuchungen zeigen, dass Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund in der Schule, auf dem Ausbildungs- und dem Arbeitsmarkt schlechtere Chancen haben als altersgleiche Menschen ohne Migrationshintergrund (bspw. Siegert 2008, Beicht/Granato 2010, Seebaß/Siegert 2011, Lorenz/Gentrup 2017 Bonefeld et al. 2017). Zudem kommen sie nicht selten gleichzeitig aus sozial schwachen Familien. Dass der sozioökonomische Status von Eltern einen Einfluss auf die Bildungs- und Ausbildungschancen von Kindern und Jugendlichen hat, ist bekannt und belegt (bspw. durch Schulleistungsstudien wie PISA und IGLU). Für die Jugendlichen mit einem nicht deutschen Hintergrund ergibt sich dadurch oft eine doppelte Belastung, die ihnen die Integration auf dem Ausbildungs- und später auch Arbeitsmarkt erheblich erschweren kann. Neben dem negativen Einfluss auf die (Aus-)Bildungschancen lassen sich auch andere Gemeinsamkeiten zwischen Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund und denen aus bildungsbenachteiligten Elternhäusern finden. So spielen die Familien und das soziale Umfeld bei beiden Gruppen eine wichtige Rolle, wobei die Eltern oftmals nicht dazu in der Lage sind, ihre Kinder hinsichtlich der Berufsorientierung bzw. Berufswahl oder allgemein bei schulischen Belangen zu unterstützen (vgl. Lentner 2011, S. 4 Meier 2009, S. 59). Der Einfluss der Eltern auf den Prozess der Berufsorientierung und der Berufswahl ist im Vergleich zu anderen Sozialisationsinstanzen am größten (bspw. Beinke 2002, Hentrich 2011, Lentner 2011, Neuenschwander 2013). Somit steht den Jugendlichen ein wichtiger Teil der Unterstützung in diesem Prozess nicht oder nur eingeschränkt zur Verfügung. LENTNER beschreibt, dass gerade die Jugendlichen mit türkischen Wurzeln eine besondere Skepsis in Bezug auf die Erreichung ihres Traumberufes aufweisen und, dass sie insgesamt nur sehr vage Vorstellungen von ihrer beruflichen Zukunft haben (vgl. Lentner 2011, S. 105, 125). Allerdings zeigt eine Untersuchung der Vodafone Stiftung zu den Herausforderungen bei der Berufsorientierung von Schüler*innen in Deutschland, dass nicht nur die Jugendlichen nicht deutscher Herkunft am Ende ihrer Schulzeit oft noch keine konkreten Vorstellungen von ihren beruflichen Plänen haben. Etwa die Hälfte der Befragten hat zwar eine ungefähre Vorstellung, aber immerhin rund 20 % der Schüler*innen sind noch völlig unschlüssig und nur eine Minderheit hat genaue Berufspläne. Es wurde bei der Auswertung keine Differenzierung nach der Herkunft vorgenommen, sodass diese Ergebnisse sich auf Jugendliche mit und ohne Migrationshintergrund beziehen (vgl. Vodafone Stiftung 2014, S. 9). In puncto Berufsorientierung und -wahl lassen sich zwischen Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund Unterschiede feststellen. Diese werden in einigen Untersuchungen zwar beschrieben, über die zugrunde liegenden Ursachen können allerdings nur Vermutungen angestellt werden. Bei der Herausarbeitung dieser Verschiedenheiten zeigt sich immer wieder, dass die Gruppe der Menschen mit Migrationshintergrund keinesfalls homogen ist. So heißt es bei KUHNKE und MÜLLER beispielsweise: Es bestätigt sich die Tatsache: Wie es generell ,die Jugendlichen‘ nicht gibt, so gibt es eher noch weniger ,die Jugendlichen mit Migrationshintergrund‘! (Kuhnke/Müller 2009, S. 49). Es lassen sich innerhalb dieser Gruppe teilweise sehr große Unterschiede finden. So stellte beispielsweise BEICHT fest, dass die Anzahl der verschickten Bewerbungen bei Jugendlichen türkisch-arabischer Herkunft zum Erhebungszeitpunkt der Untersuchung, im Vergleich zu allen anderen Jugendlichen, am höchsten ist. Trotz dieser Bemühungen wird diese Gruppe der Jugendlichen mit Migrationshintergrund nicht nur im Vergleich zu deutschen Altersgenossen, sondern auch im Vergleich zu den Jugendlichen anderer Herkunft am seltensten zu Vorstellungsgesprächen eingeladen (vgl. Beicht 2011, S. 8). Weiterhin, so beschreiben es KUHNKE und MÜLLER, konnte herausgefunden werden, dass die Berufswahl bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund insgesamt und bei denen türkischer Herkunft im besonderen Maße, stärker mit dem Streben nach Prestige und Anerkennung verbunden ist, als bei autochthonen Schüler*innen (vgl. Kuhnke/Müller 2009, S. 42). LENTNER schildert dazu, dass die Schüler*innen anderer Herkunft weitaus häufiger als die einheimischen den Plan verfolgen, eine weiterführende Schule zu besuchen. Daraus schließt sie auf einen stärkeren Bildungswillen und eine hohe Bildungsaspiration (vgl. 2011, S. 107). Gleichzeitig gaben Schüler*innen mit türkischem Hintergrund jedoch am häufigsten an, dass ihre Lehrer ihnen dazu raten, im Anschluss an die Schule eine Ausbildung zu beginnen (vgl. Lentner 2011, S. 123). Die Gruppe derer, die einen arabischen oder türkischen Hintergrund haben, hebt sich immer wieder besonders von den anderen ab. Dabei wird sie oftmals zu einer Problemgruppe stilisiert. Die Diskussion um gerade diese Menschen aus dem arabischen und türkischen Kulturkreis ist spätestens mit der Debatte um SARRAZINs Buch Deutschland schafft sich ab (2010), neu entfacht. Seit dem Einzug der rechtspopulistischen Partei AfD in den Bundestag nach der Wahl im September 2017, hat die öffentliche Auseinandersetzung mit Fragen von Zuwanderung und Integration in Presse und Medien zunehmend mehr Raum gewonnen. Bereits vor diesen fragwürdigen politischen Entwicklungen beschrieb USLUCAN die Situation so: Im Alltagsdiskurs wird in Deutschland vor allem das Zusammenleben von Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Bezügen häufig als ein ,Kulturkonflikt‘ gedeutet, der auf vermeintlich miteinander unversöhnlichen Werten basieren würde. Dieses Argumentationsmuster zielt hierzulande überwiegend auf Zuwanderinnen und Zuwanderer aus der Türkei, aber auch aus dem (islamischen) Nahen Osten. (Uslucan 2013, S. 253) Eine thematische Auseinandersetzung, bei der die Einschränkung auf den arabischen und türkischen Kulturkreis vorgenommen wurde, liegt von TOPRAK und EL-MAFAALANI vor. Dabei halten sie fest, dass die Zukunftspläne der Kinder weniger von persönlichen Neigungen und Talenten abhängen, sondern eher eine Angelegenheit sei, die in der Familie entschieden werde (vgl. Toprak/El-Mafaalani 2010, S. 23). MEIER beschreibt einen Einfluss des Wertesystems, der speziell bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund zu finden sei. Demnach kommt es hier zu Diskrepanzen zwischen den Vorstellungen der Migranten-Eltern und der realitätsgetreuen Einschätzung der tatsächlichen Möglichkeiten der eigenen Kinder im deutschen Bildungssystem (vgl. Meier 2009, S. 59). So sehen sich die Jugendlichen, durch kulturell geprägte familiäre Anforderungen, der Aufgabe gegenüber, den mitunter unrealistischen Ansprüchen der Eltern gerecht werden zu wollen, ihre Herkunftskultur beizubehalten, und sich gleichzeitig in die deutsche Gesellschaft zu integrieren und Aspekte der Mehrheitskultur zu übernehmen. Sie haben sich daher auf einer weiteren Ebene der Identitätsentwicklung mit auftretenden Schwierigkeiten auseinanderzusetzen. Die Entwicklung eines Gefühls von Zugehörigkeit kann dadurch erheblich erschwert werden. Ein solches Gefühl von Zugehörigkeit ist aber zweifelsfrei eine wichtige Grundvoraussetzung dafür, sich in eine Gesellschaft zu integrieren. Aus der individuellen Perspektive ist dies als äußerst problematisch zu betrachten. Doch auch aus der Perspektive der deutschen Gesellschaft kann es sich hierbei nicht um einen erstrebenswerten Zustand handeln. Angesichts der demografischen Entwicklung in Deutschland und des bereits bestehenden Fachkräftemangels, der sich in der Zukunft tendenziell vergrößern wird, ist es evident, dass Deutschland auf Arbeitskräfte und daher auch auf Menschen mit Migrationshintergrund angewiesen ist (vgl. statistisches Bundesamt 2023, S. 26 BMWK 2022, S. 2). Umso wichtiger ist daher eine erfolgreiche Platzierung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt. Was den Einbezug der Eltern in den Berufswahlprozess angeht, stellten sowohl BEICHT als auch LENTNER fest, dass zwischen Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund erhebliche Unterschiede bestehen. So werden Gespräche mit den Eltern von Jugendlichen mit Migrationshintergrund in Bezug auf die Berufsorientierung seltener geführt, als von Jugendlichen ohne Migrationshintergrund. Während mehr als die Hälfte der Befragten Nicht-Migranten angaben, alle wichtigen Fragen zum Thema Berufswahl mit ihren Eltern zu besprechen, taten dies nur weniger als ein Drittel der Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte, bei denen mit türkischem Hintergrund sogar nur ein Viertel (vgl. Beicht 2011, S. 8 Lentner 2011, S. 138). Diese Ergebnisse werfen insofern Fragen auf, als dass bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund doch häufig eine starke soziale und familiäre Orientierung festzustellen ist (vgl. bspw. Kunke/Müller 2009). Es bleibt offen, warum die Jugendlichen mit türkischem oder arabischem Migrationshintergrund seltener mit ihren Eltern über Themen rund um die Berufswahl ins Gespräch kommen, obwohl doch alle größeren Entscheidungen, so TOPRAK und EL-MAFAALANI, als Familienentscheidungen getroffen werden (vgl. Toprak/El-Mafaalani 2010, S. 25). Eine naheliegende Vermutung ist, dass es hier einen Zusammenhang mit dem sozialen Status gibt, der ja, wie oben beschrieben, in Familien mit Migrationshintergrund häufiger niedrig ist, als in Familien ohne Zuwanderungsgeschichte. Auch die Ergebnisse der Untersuchung der VODAFONE STIFTUNG bestätigen dies. Hier heißt es, dass gerade die Schüler*innen aus niedrigeren sozialen Schichten, in denen Eltern in der Regel einen niedrigeren Bildungsabschluss haben, sich grundsätzlich mehr Hilfe im Prozess der Berufswahl wünschen. Allerdings wird in den meisten Fällen die Hilfe nicht von den Eltern eingefordert, sondern eher von anderen potenziellen Gesprächspartner*innen, wie beispielsweise Lehrern oder direkt von Unternehmen. Weiterhin wird berichtet, dass die Eltern im Normalfall nicht über die Kompetenzen verfügen, die Berufswahlberatung notwendig sind. Sie seien auf sachlicher und inhaltlicher Ebene oft nicht weniger überfordert mit dieser Aufgabe, als ihre Kinder (vgl. Vodafone Stiftung 2014, S. 13 ff.). Der Grund, aus dem die Jugendlichen ihre Forderungen dann eher an außenstehende Personen als an ihre Eltern richten, kann sein, dass sie genau diese fehlende Kompetenz erkennen. Doch diese Sachlage erklärt noch nicht die beschriebenen Unterschiede. Trotz fehlender Informationen von Seiten der Eltern können Gespräche zur Berufswahl geführt werden, solange der Anspruch nicht der einer professionellen Berufsberatung ist. Im Bereich des familiären bzw. elterlichen Einflusses von Migranten auf die Berufsorientierung – und damit zusammenhängende Entscheidungen von Schüler*innen mit arabischem oder türkischem Hintergrund – konnten für den deutschsprachigen Raum bisher keine Untersuchungen gefunden werden. Hier gilt es zu klären, wie die Einbeziehung der Eltern genau stattfindet. 1.2 Ziele und wissenschaftliche Fragestellungen Ziel der Arbeit ist es, die Interaktion zwischen Eltern und Kindern mit Migrationshintergrund in Bezug auf den Berufswahlprozess zu untersuchen. Da der betrachtete Untersuchungsgegenstand bisher kaum erforscht ist, handelt es sich um eine explorative Studie. Die Absicht liegt in der Gegenstandserkundung, also dem Generieren von Theorien. Die Ergebnisse werden dabei helfen, Widersprüche, die sich in Ergebnissen bisheriger Untersuchungen finden lassen, aufzuklären. Konkret soll der vermeintliche Widerspruch zwischen der starken familiären Orientierung als Besonderheit dieses Kulturkreises auf der einen Seite, und der Seltenheit der beratenden Gespräche zum Thema Berufswahl, auf der anderen Seite aufgeklärt werden. Um dieses Ziel zu erreichen, muss die Situation sowohl aus der Perspektive der Eltern als auch aus der Perspektive der Schüler*innen betrachtet werden. Nur so lässt sich das Ausmaß der Überschneidungen und Divergenzen in den Wahrnehmungen erkennen. Neben der Ermittlung der Häufigkeit sowie der Inhalte von Gesprächen über das Thema Berufswahl, steht dabei die Eruierung von Wünschen, Bedarfen und Erwartungen an die/den jeweils andere*n und an außenstehende Personen und Institutionen im Vordergrund. Aus der Problemstellung ergeben sich die folgenden Fragestellungen, die sich jeweils auf die Gruppe der Jugendlichen mit arabischem oder türkischem Migrationshintergrund und deren Eltern beziehen: Wie verhalten sich Jugendliche und Eltern mit Migrationshintergrund in Bezug auf den Berufswahlprozess? Wie lässt sich der Berufswahlprozess der Jugendlichen beschreiben? Wie wird der Berufswahlprozess von den Jugendlichen beschrieben? Was wissen die Eltern über den Berufswahlprozess ihrer Kinder? Welche Erwartungen und Wünsche haben Jugendliche und Eltern mit Migrationshintergrund in Bezug auf den Berufswahlprozess? Welche Erwartungen und Wünsche haben die Jugendlichen an sie unterstützende Personen im Allgemeinen und an ihre Eltern im Speziellen? Welche Erwartungen und Wünsche haben die Eltern an ihre Kinder? Welche Bedeutung wird den elterlichen Erwartungen und Wünschen aus beiden Perspektiven beigemessen? Wie wird der Bedarf nach Informationen bzw. Beratung und anderen unterstützenden Maßnahmen mit potenziellen Gesprächspartner*innen aus beiden Perspektiven eingeschätzt? Wie sehen Interaktionen zwischen Eltern und Jugendlichen bezüglich des Berufswahlprozesses aus? Wie lassen sich Gespräche in Bezug auf den Berufswahlprozess beschreiben? Inwiefern beziehen Jugendliche mit Migrationshintergrund ihre Eltern in ihren Berufswahlprozess ein? Welche Gründe gibt es dafür, sollten sie ihre Eltern nicht mit einbeziehen? Inwiefern unterstützen oder behindern Eltern mit Migrationserfahrungen ihre Kinder aktiv oder passiv beim Berufswahlprozess? Welche Gründe gibt es dafür, sollten sie ihre Kinder behindern? Als Grundlage muss zunächst der Berufswahlprozess selbst, der Gegenstand der untersuchten Beschreibungen der Interaktionen ist, betrachtet werden (I). Die Fragen I a. und I b. zielen darauf ab, diesen Prozess aus beiden Perspektiven zu beschreiben. Dabei geht es um die Erfahrungen, die er/sie mit der Berufsorientierung bereits gemacht hat, um den aktuellen Zustand und berufsbezogene Ziele und Wünsche für die Zukunft. Da Interaktionen auch von Erwartungen beeinflusst werden (vgl. Ulich 1981, S. 167f.), müssen diese offengelegt werden (II). Durch die Fragen II a. und II b. können sie zunächst wertfrei beschrieben werden. Der Vergleich beider Perspektiven dient dazu, herauszufinden, inwieweit sich die Erwartungen aus jeweils einer Perspektive mit den wahrgenommenen Erwartungen aus der jeweils anderen Perspektive decken bzw. unterscheiden. Mit der Bedeutung, die den elterlichen Erwartungen und Wünschen beigemessen wird, kann dann überprüft werden, ob die Eltern sich des potentiellen Einflusses ihrer direkt oder indirekt geäußerten Erwartungen auf ihre Kinder bewusst sind (II c.). Um die Erwartungen und Wünsche von Eltern und Jugendlichen in Bezug auf den Berufswahlprozess umfassend beschreiben zu können, gilt es, auch den nach außen gerichtetem Bedarf beider Seiten aufzudecken. (Frage II d.) Die Antworten auf die Fragestellungen zu III sollen zunächst Aufschluss darüber geben, in welcher Form in Haushalten mit Migrationsgeschichte ein Austausch über Fragen der Berufswahl stattfindet. Die Frage nach Inhalten, Verlauf, Regelmäßigkeit, Ergreifen der Initiative und anderen Aspekten, die mögliche Gespräche näher beschreiben, dient der Einschätzung der Qualität dieser Gespräche und kann Rückschlüsse auf die Dynamik der Eltern-Kind-Beziehung im Allgemeinen ermöglichen (III a.). Der Einbezug der Eltern durch die Jugendlichen sowie die Unterstützung der Jugendlichen durch die Eltern können als Aktionen und Reaktionen innerhalb des Interaktionsprozesses bezeichnet werden. Es wird also mithilfe der Fragen III b. und III d. die Art der Interaktion, die über Gespräche hinausgeht, beschrieben. Für den Fall, dass es nicht zu einem Austausch oder zu einer Behinderung durch die Eltern kommt, gilt es die Gründe hierfür aufzudecken (III c., III e.). 1.3 Wissenschaftliche Zugehörigkeit Inhaltlich lässt sich die Arbeit übergeordnet in das Fachgebiet: Erziehungswissenschaften einordnen. Der wissenschaftliche Hintergrund hat einen interdisziplinären Charakter. Zusammenfassend werden Aspekte der Pädagogik (Berufsorientierung als Bestandteil der Ausbildung an allgemeinbildenden Schulen), der Soziologie (Einfluss der Eltern, gegenseitige Erwartungen) sowie der Kulturwissenschaften (Besonderheiten in der arabischen und türkischen Kultur) kombiniert. 1.4 Zweck Damit eine erfolgreiche Platzierung auf dem Arbeitsmarkt den steigenden Flexibilitätsanforderungen zum Trotz, von Bestand ist, muss einer Berufswahl eine erfolgreiche Berufsorientierung voraus gehen. Hierfür sind die Eltern als Ansprechpartner*innen von größter Wichtigkeit für die Jugendlichen. Die Familie stellt die wichtigste Sozialisationsinstanz im Prozess der beruflichen und vorberuflichen Sozialisation dar (vgl. Beinke 2000). Doch Gespräche bezüglich der beruflichen Zukunft werden mit Abstand seltener von Schüler*innen mit türkischem oder arabischem Hintergrund mit ihren Eltern geführt, als es bei Nicht-Migranten der Fall ist (vgl. bspw. Beicht 2011). Oftmals fällt Familie als wichtige Entscheidungshilfe und Unterstützung daher für sie weg. Da zu dieser Problematik bisher keine Forschungsergebnisse vorliegen, ist es evident, dass die Auseinandersetzung mit der Eltern-Kind-Beziehung bezüglich der Berufsorientierung und dahingehend stattfindende oder auch nicht vorhandene Gespräche von Bedeutung sind. Um eine angemessene Berufsorientierung auch für die betrachtete Gruppe von Jugendlichen gewährleisten zu können, gilt es zu klären, welche Besonderheiten sich in Bezug auf die Situation der Berufsorientierung bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund und insbesondere bei der Gruppe derer, die einen arabischen oder türkischen Hintergrund haben, ausmachen lassen. Besonders Menschen, die mit Jugendlichen mit Migrationshintergrund im Rahmen der Berufsorientierung zusammenarbeiten, z.B. Lehrkräfte, Sozialpädagog*innen, Mitarbeiter*innen der Bundesagentur für Arbeit oder des Berufsinformationszentrums etc., sollen einen tieferen Einblick in die Lebenswelten der Jugendlichen gewinnen können. Aber auch die Jugendlichen und ihre Eltern selbst können von den Ergebnissen profitieren. Da die Situation aus beiden Perspektiven untersucht wird, können sich jeweils neue Blickwinkel erschließen und ggf. zu einer Verbesserung der Kommunikation führen. Die Ergebnisse können somit auf institutioneller Ebene dafür sorgen, die Notwendigkeit einer kultursensiblen Berufsberatung, die einem biographischen Ansatz der Berufswahl folgt, anzuerkennen und das Beratungsangebot infolge dessen entsprechend anzupassen und umzusetzen, um diesen Jugendlichen eine angemessene Unterstützung bieten zu können. Auf individueller Ebene der Schüler*innen kann mithilfe entsprechender Unterstützung von Fachpersonal (z.B. Lehrkräfte, Pädagog*innen etc.) erreicht werden, dass sie selbst überdenken, inwiefern kulturelle Einflüsse für sie bei der Berufsorientierung und Lebensplanung von Bedeutung sind. Dies führt zu einem besseren Selbstkonzept und kann den einzelnen Schüler*innen dabei helfen, seinen Blick auf sich selbst zu präzisieren. Für Eltern kann es – und auch hierfür ist die Unterstützung von Fachpersonal wichtig – durchaus hilfreich sein, den persönlichen Kontakt zum eigenen Kind in Bezug auf das Thema Berufswahl zu reflektieren, um sich mit den Bedürfnissen und Wünschen ihrer Kinder auseinanderzusetzen. 1.5 Reichweite und Begrenzung Diese Arbeit wird einen Ausschnitt des Berufsorientierungsprozesses von Jugendlichen mit Migrationshintergrund erfassen. Der Fokus der Betrachtung wird auf der Eltern-Kind-Beziehung liegen, wobei speziell die Teilhabe der Eltern am Prozess der Berufsorientierung und -wahl untersucht wird. Bei der Betrachtung des aktuellen Forschungsstandes (siehe Kapitel 4) ist festzustellen, dass bestimmte Themengebiete, wie die Bildungsbeteiligung und die Arbeitsmarktsituation sowie Übergangssituationen von der Schule in die Ausbildung bzw. den Beruf von Menschen mit Migrationshintergrund teilweise sehr ausführlich untersucht worden sind. Dabei geht es bei den Ergebnissen dieser Untersuchungen in der Regel um Benachteiligungen und andere problembehaftete Aspekte. Auch der Einfluss der Familie auf einen Ausschnitt des Prozesses der Berufswahl wurde bereits untersucht. Hier liegt der Fokus allerdings nicht auf Unterschieden zwischen Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund. Bei den Untersuchungen, die den Migrationshintergrund mit betrachten, geht es dafür nicht in erster Linie um den Einfluss der Familie, sondern eher um verschiedene Faktoren, die den Prozess der Berufswahl beeinflussen. Im Bereich des familiären bzw. elterlichen Einflusses von Migrant*innen auf die Berufsorientierung, und damit zusammenhängende Entscheidungen von Schüler*innen und insbesondere von jenen mit arabischem und türkischem Hintergrund, gibt es eine Forschungslücke. Da die Arbeit interdiziplinär angelegt ist, hat sie den Anspruch insbesondere das pädagogische Wissen an der behandelten Schnittstelle von Soziologie, Erziehungswissenschaften und Kulturwissenschaften zu erweitern. Die Ergebnisse und daraus abzuleitende Handlungsbedarfe können nicht nur dabei helfen Jugendliche und junge Erwachsene in ihrer Berufsorientierung zu unterstützen, sondern gewähren überdies einen Einblick in die Lebenswelt von Menschen mit einem arabischen und türkischen Migrationshintergrund. Es ist vorstellbar, dass die bisher untersuchte geringere Inanspruchnahme von elterlichen Ratschlägen bzw. das seltenere Führen von Gesprächen über die Berufswahl sich nicht auf dieses Thema beschränkt. Die Gültigkeit dieser Forschungsarbeit ist durch einige Begrenzungen bestimmt. Geografisch ist das Untersuchungsgebiet auf Berlin beschränkt. Es werden Schüler*innen von Sekundar- und Gemeinschaftsschulen sowie Gymnasien, welche die 10. bis 13. Klasse besuchen befragt. Der Zeitraum der Erhebung dauerte von Oktober 2017 bis Februar 2018. Die Schüler*innen haben einen Migrationshintergrund und gehören der zweiten Generation an. Die Herkunftsländer der Eltern gehören zur so genannten MENA-Region (Middle East and Nort Africa [Mittlerer Osten und Nordafrika]).
Safyah Hassan, M. Ed., wurde 1986 in Berlin geboren. Ihr Lehramtsstudium an der Universität Potsdam schloss die Autorin im Jahre 2014 mit dem akademischen Grad des Master of Education erfolgreich ab. Während ihres Studiums arbeitete die Autorin bereits mit Jugendlichen mit Migrationshintergrund in verschiedenen Freizeiteinrichtungen und an Schulen, so dass sie dort umfassende praktische Erfahrungen sammeln konnte. Nicht zuletzt waren es ihre eigene Herkunft und ihre persönlichen Erfahrungen, die sie dazu motivierten, sich der Thematik des vorliegenden Buches zu widmen.
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