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- Das Persönliche Budget als Ausweitung der Handlungslogik des Marktes: Strukturelle Risiken für die Lebenslage von Menschen mit Behinderung
Pädagogik & Soziales
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Verlag:
Diplomica Verlag
Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH
Hermannstal 119 k, D-22119 Hamburg
E-Mail: info@diplomica.de
Erscheinungsdatum: 08.2014
AuflagenNr.: 1
Seiten: 112
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback
Nach der im fachlichen und sozialpolitischen Mainstream überwiegend vertretenen Auffassung gilt das Persönliche Budget als Inbegriff eines Paradigmenwechsels von fremdbestimmter Fürsorge zu Selbstbestimmung. Vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Kontextes und der institutionellen Voraussetzungen des deutschen Wohlfahrtssystems diskutiert der Autor am Beispiel eines Modellprojekts, ob diese Erwartung gerechtfertigt ist.
Textprobe: Kapitel 2, Theoretische Erklärungsansätze: Das Persönliche Budget soll Menschen mit Behinderung ermöglichen, ‘in eigener Verantwortung ein möglichst selbstbestimmtes Leben’ zu führen (§ 17 Abs. 2 Satz 1 SGB IX). Der im SGB IX vollzogene Paradigmenwechsel von der Fürsorge zur Selbstbestimmung, so in einem Bericht der Bundesregierung, habe auch Ausdruck in der neu geschaffenen Möglichkeit gefunden, Leistungen zur Teilhabe in Form des Persönlichen Budgets zu erbringen. Der Vorteil für die Menschen mit Behinderung liege darin, dass sie so einen ‘Zuwachs an Entscheidungsmöglichkeiten für die von ihnen gewünschte Lebensform und über die Erbringung der notwendigen Hilfen erhalten’ (Bundesregierung 2004). Der Begriff der Selbstbestimmung aber, so konsensfähig und sich selbst erklärend er auf den ersten Blick zu erscheinen vermag, kann dabei auf keine eindeutige wissenschaftliche Definition zurückgreifen. Als Schlüsselbegriff der Gegenwart und weithin akzeptiertes gesellschaftliches Ideal ist er ausgehend von der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung seit Beginn der 80er Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts mehr und mehr auch zu einem Leitbegriff der Behindertenhilfe und –politik geworden (Waldschmidt 1999: S. 7 Waldschmidt 2003: S. 18 Heusinger/Klünder 2005: S. 18 ). Der Begriff der Selbstbestimmung scheint dabei offensichtlich aus sich heraus eindeutig verständlich und wird dabei ‘in Alltagssprache und wissenschaftlichen Zusammenhängen immer wieder benutzt, ohne einer ausführlichen Explikation für würdig befunden zu werden’ (Waldschmidt 1999: S. 7 Anmerkung 1 ähnlich Heusinger/Klünder 2005: S. 18 Deutscher Caritasverband o.D.). Selbstbestimmung bezeichnet zunächst einmal das Gegenteil von Fremdbestimmung, also der Abhängigkeit von den Entscheidungen anderer (Heusinger/Klünder 2005: S. 18). Als Gegenbegriff zu dieser Abhängigkeit wird häufig auch der aus dem Griechischem stammende Begriff der Autonomie benutzt, ein Wort das ursprünglich ‘nach eigenen Gesetzen lebend’ bedeutet und damit auf den Tatbestand der Selbstgesetzgebung verweist (Waldschmidt 1999: S. 14 Heusinger/Klünder 2005: S. 18). Begriffe wie Freiheit und Emanzipation stammen ebenfalls aus demselben Konnotationsfeld, auch wenn sie sich in Nuancen durchaus unterscheiden. Freiheit impliziert den Gegensatz zu Sklaverei, Emanzipation bedeutet die Freiheit aus oder den Kampf gegen Abhängigkeitsverhältnisse und Entmündigung. Der Begriff der Selbstbestimmung scheint dagegen ‘neben der Selbstgesetzgebung noch die Selbstherrschaft zu meinen’ (Waldschmidt 1999: S. 15). Selbstbestimmung impliziert aber nicht nur die Befreiung aus unterdrückerischen Beziehungen, sondern auch die Utopie eines guten Lebens nach dem Emanzipationskampf (Waldschmidt 1999: S. 14 f.). Selbstbestimmung gilt in der späten Moderne des ausgehenden zwanzigsten und beginnenden einundzwanzigsten Jahrhunderts als Grundrecht des Menschen (Waldschmidt 1999: S. 7). Dabei scheint es sich nicht um ein präzise definiertes Grundrecht zu handeln, sondern eher um ein formales Konstrukt, das ‘offen für sehr unterschiedliche, ja widersprüchliche Inhalte, Deutungen und Praktiken’ ist (Waldschmidt 1999: S. 10). Die mit dem Begriff der Selbstbestimmung eng verbundene Vorstellung, ‘der einzelne sei ein autonomes Subjekt, ein Wesen, das losgelöst von Tradition, Erziehung und Sozialstruktur, unabhängig von der Zeit, Biographie und Historie persönliche Identität entwickelt und ausgehend von den eigenen Interessen tatkräftig sein Leben gestaltet’ scheint zu suggerieren, ‘als regierten nur noch die einzelnen, und der äußere soziale Zwang, von Emile Durkheim zum Ende des letzten Jahrhunderts noch als Charakteristikum des Gesellschaftlichen ausgemacht, könne dem Individuum nichts mehr anhaben’ (Waldschmidt 1999: S. 7). Die sich ergebene konkrete inhaltliche Bedeutung des Selbstbestimmungsbegriffs lässt sich aus soziologischer Perspektive aber nur in Operationalisierungen, also in Bezug auf die jeweilige Praxis, die sich aus ihr ergibt, erschließen. Diese wiederum ist abhängig von den jeweiligen gesellschaftlichen und institutionellen Kontexten (Waldschmidt 1999: S. 10). Will man die Frage beantworten, ob das Persönliche Budget geeignet ist, die Selbstbestimmungsmöglichkeiten von Menschen mit Behinderung zu erweitern und welche Chancen und Risiken für die Lebenslage behinderter Menschen damit möglicherweise verbunden sind, ist es notwendig, dabei den gesellschaftlichen und institutionellen Kontext dieses Instruments zu thematisieren. Wie im weiteren Verlauf meiner Arbeit deutlich werden wird, stehen mit der Individualisierungstheorie von Beck (1983) und dem Wohlfahrtspluralismusansatz von Evers und Olk (1996) theoretische Modelle und Begriffsysteme zur Verfügung, mit dessen Hilfe sich der gesellschaftliche und institutionelle Kontext des Persönlichen Budgets beschreiben und diskutieren lässt. 3.2.1, Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik: In der letzten Legislaturperiode haben die Bundesregierung und der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen einen ‘Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik’ von ‘fremdbestimmter Fürsorge’ hin zu ‘Selbstbestimmung’ festgestellt (Haack 2003 Bundesregierung 2004: S. 24). Das mit dem SGB IX erstmals eingeführte Persönliche Budget sei dabei der ‘sichtbarste Ausdruck von Selbstbestimmung und eigenverantwortlicher Teilhabe’ (Haack 2003a). Mit Hilfe des Persönlichen Budgets sollen Entscheidungsspielräume für Menschen mit Behinderung bei der Auswahl von Unterstützungsleistungen eröffnet werden, um auf diese Weise mehr Kontrolle über das eigene Leben und eine individualisiertere Lebensführung zu ermöglichen. Auch in den entsprechenden Fachdiskussionen zur Entwicklung des Rehabilitationssystems findet sich ein solcher oder doch sehr ähnlicher Paradigmenwechsel (Wacker u.a. 2005: S. 9 ff.). Wacker u.a. beschreiben diesen Paradigmenwechsel als grundlegenden Perspektivwechsel: ‘Nicht mehr wie Versorgung gewährleistet wird’ sei die Zielorientierung des Rehabilitationssystems, ‘sondern wie selbstbestimmte Lebensführung und Teilhabe am Leben der Gemeinschaft gelingen können – auch bei bestehendem Unterstützungsbedarf’ (Wacker u.a. 2005: S. 9). Der Begriff der Lebensqualität sei dabei in den letzten Jahren zum zentralen Leitbegriff des Rehabilitationssystems geworden. Als ‘umfassendstes Zielkonzept’ beinhalte der Begriff der Lebensqualität ‘sowohl objektive als auch subjektive Dimensionen’ und setze sie zueinander in Beziehung, während der Begriff des Lebensstandards tendenziell nur auf die objektiven Lebensbedingungen abhebe (Wacker u.a. 2005: S. 12). Das Konzept der Lebensqualität ist nach Wacker u.a. ‘logische Fortsetzung des Normalisierungsprinzip, welches vornehmlich pragmatisch auf die Verbesserung der objektiven Lebensbedingungen von Menschen mit Behinderung abhob’ und nun erweitert und vertieft wird, indem ‘es subjektive Erfahrungen, Bewertungen und Bedürfnisse sowie individuelle Lebensstile und –entwürfe von Menschen mit Behinderung in den Blick’ nimmt (Wacker u.a. 2005: S. 15). Trotz unterschiedlicher Schwerpunktsetzungen in der internationalen Quality-of-life-Forschung seien Übereinstimmungen hinsichtlich der untersuchten Bereiche und Indikatoren feststellbar. Schalock u.a. (2002) nennen als Kerndimensionen von Lebensqualität ‘emotionales Wohlbefinden’, ‘soziale Beziehungen’, ‘materielles Wohlbefinden’, ‘persönliche Entwicklung’, ‘physisches Wohlbefinden’, ‘Selbstbestimmung’, ‘soziale Inklusion’ und ‘Rechte’ (Wacker u.a. 2005: S. 16). Der Kerndimension ‘Selbstbestimmung’ wird dabei in aktuellen Denkmodellen zur Lebensqualität eine herausragende Bedeutung zugesprochen (Wacker u.a. 2005: S. 17). Selbstbestimmung, verstanden als Entscheidungsautonomie, setzt dabei im Prinzip keine Selbstständigkeit, verstanden als Handlungsautonomie, voraus. Auch Menschen, die aufgrund ihrer Behinderung nur über wenig Fähigkeiten verfügen, ihre Ziele in konkrete Handlungen zu überführen (z.B. schwerst körperlich behinderte Menschen), können - zumindest prinzipiell - selbstbestimmt leben, wenn die erforderliche Unterstützung verfügbar ist und sie über Umfang, Auswahl und Ausgestaltung derselben autonom entscheiden können (Wacker u.a. 2005: S. 18). Neben Selbstbestimmung spielt der Begriff der sozialen Teilhabe bzw. Partizipation eine herausragende Rolle. Selbstbestimmung setzt den Menschen zunächst einmal aus vorgegebenen Sozialformen frei, zielt aber zugleich darauf ab, individuelles Glück und Wohlbefinden unter einem menschenwürdigen und kulturadäquaten Lebensstandard zu ermöglichen. Selbstbestimmung bedarf des gesellschaftlichen Bezuges und kann nicht im ‘luftleeren Raum’ stattfinden. Wacker u.a. bestimmen das Verhältnis dieser beiden Begriffe so zueinander: ‘Die Inszenierung eines eigenen Lebens wird weiterhin vermittelt über objektive Lebensumstände im Sinne kultureller Standards der Lebensführung. Selbstbestimmung realisiert sich grundsätzlich durch Teilhabe an diesen Standards bzw. an der Gesellschaft – sowohl ökonomisch als auch sozial, kulturell und politisch’ (Wacker u.a. 2005: S. 21). Selbstbestimmung und soziale Teilhabe erfordern einen Abschied vom ‘Fürsorgeparadigma, das davon lebt, jenen Menschen sicher durchs Leben zu helfen, denen Funktionsstörungen bescheinigt wurden’ (Wacker u.a. 2005 im Geleitwort). Damit der beschriebene Perspektivwechsel praktisch umgesetzt werden kann, soll sich das gesamte Rehabilitationssystem von der angebotsbezogenen Unterstützung hin zur personenbezogenen Unterstützung nach Maß umorientieren (Wacker u.a. 2005: S. 9 u. S. 25). Die Einführung des Persönlichen Budgets kann als Ausdruck dieser Umorientierung des Rehabilitationssystems und des Paradigmenwechsels der Behindertenpolitik hin zu mehr Selbstbestimmung verstanden werden. 3.2.2, Erklärungsansätze zum Paradigmenwechsel und Persönlichen Budget: Es stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, welche gesellschaftlichen und institutionellen Entwicklungen zu dem beschriebenen Paradigmenwechsel und damit auch zur Einführung des Persönlichen Budgets geführt haben könnten. Wie konnte es also dazu kommen, fragt Waldschmidt, ‘dass die Gesellschaft die Selbstbestimmung Behinderter anerkannte, nachdem sie sich zuvor jahrhundertelang geweigert hatte, behinderten Menschen grundlegende Bürgerrechte zuzugestehen?’ (Waldschmidt 2003: S. 16). Denn bis in die Gegenwart hinein wurde der gesellschaftliche Umgang mit behinderten Menschen weitgehend vom Prinzip der Aussonderung bestimmt (Waldschmidt 2003: S. 17). Auch in den Jahren ab 1945, nach Massenmord und Zwangssterilisierung im Nationalsozialismus, wurden die großen Anstalten zunächst wieder mit Insassen bevölkert und zugleich ein ganzes Spektrum an speziellen Institutionen aufgebaut, ‘hinter deren Mauern behinderte Kinder, Jugendliche und Erwachsene erneut verwahrt und sonderbehandelt wurden’ (Waldschmidt 2003: S. 17). Die Leitideen waren damals Betreuung, Fürsorge und Förderung, während von Selbstbestimmung und persönlicher Autonomie noch keine Rede war. Erst mit der ‘kulturellen Revolution von 1968, die die Forderung nach Individualität, Pluralität und Liberalität beinhaltete und Selbstverwirklichung zum zentralen Projekt erhob, kamen Psychiatrie, Behindertenpädagogik und Rehabilitationspolitik wieder in Bewegung’ (Waldschmidt 2003: S. 17). Es begann eine Umorientierung in Richtung Integration, Normalisierung und Partizipation, die insbesondere Menschen mit körperlichen Behinderungen Vorteile brachte. Während der Reformära der sozialliberalen Koalition in den siebziger Jahren erhielt vor allem die Gruppe körperbehinderter Menschen einen besseren Zugang zum Bildungssektor und zum Arbeitsmarkt (Waldschmidt 2003: S. 17 f.). Mit den erworbenen Qualifikationen und finanziellen Ressourcen ausgestattet konnte dann vor allem diese Gruppe behinderter Menschen für ein Leben außerhalb der Anstalt kämpfen. Ab Mitte der siebziger Jahre konstituierte sich aus diesem Kreis behinderter Menschen die westdeutsche Behindertenbewegung, die dann ab Beginn der achtziger Jahre Selbstbestimmung einforderte (Waldschmidt 2003: S. 18). Nach ersten Kontakten mit den Ideen der US-amerikanischen Independent Living-Bewegung zu Beginn der achtziger Jahre, gründete sich 1986 in Bremen ‘Selbstbestimmt Leben’ als erstes Zentrum für selbstbestimmtes Leben von Behinderten für Behinderte (Miles-Paul 1992). Der nationale Zusammenschluss der bundesdeutschen Selbstbestimmt-Leben-Initiativen zur ‘Interessensvertretung selbstbestimmt Leben in Deutschland’ (ISL e.V.) erfolgte dann im Jahre 1990 (Miles-Paul 1992). Das politische Engagement der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung und ähnlicher Initiativen und deren Forderung nach Selbstbestimmung, Selbstvertretung, größtmöglicher Kontrolle über behinderte Menschen betreffende Dienstleistungen und nach Einführung des Persönlichen Budgets dürfte erheblich zum beschriebenen Perspektivwechsel in der Behindertenpolitik beigetragen haben (Wacker u.a. 2005: S. 20). Dass diesen Forderungen aber tatsächlich Gehör geschenkt wurde und sie wenigstens zum Teil Eingang in die Fachdiskussion und die Gesetzgebung gefunden haben, dürfte nur vor dem Hintergrund eines sich wandelnden gesellschaftlichen und institutionellen Kontextes zu verstehen sein.
Joachim Schmidt, geb. 1961, ist Diplom-Sozialarbeiter und Diplom-Soziologe. Als solcher hat er langjährige Erfahrung in der Arbeit mit Menschen mit Behinderungen.
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