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Pädagogik & Soziales

Sandra Schwab

Das Obszöne im Roman 'Feuchtgebiete': Tabubruch oder Stilmittel?

ISBN: 978-3-95850-790-6

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Produktart: Buch
Verlag:
Diplomica Verlag
Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH
Hermannstal 119 k, D-22119 Hamburg
E-Mail: info@diplomica.de
Erscheinungsdatum: 11.2014
AuflagenNr.: 1
Seiten: 108
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback

Inhalt

Im Mai 2008 erschien der Debutroman Feuchtgebiete von Charlotte Roche in Deutschland. Innerhalb kürzester Zeit löste er eine Diskussion aus, was Literatur darf und was nicht, und ob ein solches Buch lesenswert sei. Bemerkenswert ist dabei einmal, dass diese Diskussion nicht ausschließlich in den Feuilletons der Zeitungen geführt wurde, sondern, durch Talkshows und ausgedehnte Lesereisen der Autorin Charlotte Roche angefeuert, auch die Leserschaft und damit den Teil der Gesellschaft, der durch Zeitungen nicht angesprochen wird. Dabei spalteten sich diese in zwei gegensätzliche Lager, die einander ausschlossen: die einen finden das Buch absolut unlesbar und bekräftigten, es in der Mitte weggeworfen zu haben und die anderen meinen, dass Frau Roche endlich etwas ausgesprochen habe, das schon längst hätte ausgesprochen werden müssen. Die Zeitungen erweckten den Eindruck, der besagte Roman sei ein Skandalroman, der ein absolutes Tabu bräche, in diesem Fall die Sexualität einer jungen Frau und deren Körperlichkeit inklusive der biologischen Prozesse derselben, und dass sie Dinge sage, die heute wie auch früher nicht ausgesprochen, geschweige denn öffentlich geschrieben werden dürfen. Dennoch oder gerade deswegen verkaufte der Roman sich außerordentlich gut. Doch wird hier tatsächlich ein Tabu gebrochen und wenn ja, welches? Dies ist eine der Fragen, die in der folgenden Arbeit geklärt werden. Zudem wird die These aufgestellt, dass die obszöne Sprache der Protagonistin Helen nicht nur dazu dient, den Leser zu schockieren, sondern darüber hinaus eine Funktion erfüllt. Da die Sprecherin dieser Sprache die Hauptfigur und gleichzeitig die einzige Erzählinstanz der Geschichte ist, wird besonders der Frage nach dem Erzähler, seiner Perspektive und seinem Standort nachgegangen. Darauf aufbauend wird der Versuch einer hermeneutischen Deutung unternommen.

Leseprobe

Textprobe: Kapitel: 3.7.1, Ist Helen eine glaubwürdige Erzählerin? Die unwillkürliche Annahme vieler Leser (und auch Kritiker), dass Helen diese Dinge, über die sich spricht, auch selbst gemacht hat, dass sie also die Wahrheit spricht, beruht auf dem Kooperationsprinzip, d. h. wir unterstellen gewöhnlich unserem Kommunikationspartner, dass seine Beiträge kooperativ gemeint sind und auf Verständigung zielen, besonders, wenn die Äußerungen dem zunächst nicht entsprechen. Unser Gehirn schließt dann auf den dahinter liegenden Sinn und interpretiert die Äußerung entsprechend. Ausgehend von der Maxime der Qualität und der Relation kann man zusammenfassen, dass wir davon ausgehen, dass die Aussagen wahr und relevant sind. Aus letzterem lässt sich auch das Unbehagen der Leser erklären: Es ist Ihnen peinlich und sie empfinden es als böswillige Unterstellung, dass solche Themen, wie Helen sie ungeniert anspricht, für sie relevant sein sollen. Allerdings weiß jeder, der sich mit Kindern und Jugendlichen beschäftigt, dass die Maxime der Relevanz sich nicht unbedingt auf dem Zuhörer beziehen muss. Wir gehen davon aus, dass die Informationen für uns (als Hörer bzw. Leser) relevant sind, aber das ist wohl nur in einer idealen Kommunikation so, nicht jedoch im Alltag. Gerade Jugendliche bewerten ihre eigene Perspektive oft höher als die des Gegenübers (wenn sie diese überhaupt beachten) und erzählen demnach viele Dinge, die vor allem für sie selbst relevant sind aus den unterschiedlichsten Gründen, wie zum Beispiel: Langeweile, das Gefühl, etwas sagen zu müssen, das Bedürfnis, etwas mitteilen zu müssen, sich einfach ‚ausquatschen’, aber auch Freude am Schockieren, Neugierde bezüglich der Rezeption oder das Erzeugen eines bestimmten Bildes von sich selbst. Die Maxime der Qualität beinhaltet die Unterstellung, dass mein Gegenüber mir nicht wissentlich etwas Falsches sagt. Dass das trotzdem der Fall sein kann, ist unbestritten, aber nur sehr misstrauische Menschen gehen grundsätzlich davon aus, belogen zu werden. Und auch dies nicht grundlos: Entweder wurden sie von anderen Gesprächspartnern schon angelogen und sie misstrauen der Rede an sich oder das allgemeine Verhalten des Jetzigen Gegenübers erweckt den Eindruck, dass dieser nicht die Wahrheit sagt. Dann ist zu untersuchen, ob Helen den Eindruck vermittelt, nicht die Wahrheit zu sagen bzw. ob ihre Selbstaussagen wirklich der Wahrheit entsprechen (bzw. welcher Wahrheit). Ist sie eine zuverlässige Erzählerin? Kann man ihr und damit auch ihren Aussagen glauben? Und auch hier muss differenziert werden: Kann man all ihren Aussagen trauen oder nur manchen? Und wenn man nicht allen Aussagen trauen kann, welchen dann und welchen nicht und wie kann man die wahren von den erfundenen Geschichten trennen? Wie bereits erklärt, ergibt sich aus der Monopolstellung der Erzählerin die Konsequenz, dass nicht alle Aussagen überprüft und nicht alle Handlungen referenzialisiert werden können. Das bedeutet schlicht: Wir können nicht mit Sicherheit sagen, ob Helen die Wahrheit spricht. Und zusätzlich ergibt sich, aus der objektiven Unwahrscheinlichkeit des Erzählten (Bsp.: Das Sterilisieren einer 18jährigen), ein berechtigtes Misstrauen der Erzählerin gegenüber. Es liegt der Verdacht nahe, dass diese Erzählinstanz ein unreliable narrator sein könnte. Dieses Konzept umfasst verschiedene Erzählertypen, von welchen besonders der ‚mad monologist’ einige Charakteristika aufweist, die denen der Erzählerin Helen sehr ähnlich sind. So kann zum Beispiel die ‘Semantisierung des Raums’ Hinweise auf die Perspektive des ‚mad monologist’ geben: der Roman Feuchtgebiete spielt in einem Krankenhaus und Helen verlängert die Zeit im Krankenhaus absichtlich und verhindert erfolgreich eine Entlassung nach Hause. Auch die ‘häufig zu beobachtende geringe Spannung zwischen dem erzählenden ‚Ich’ und seinem als Figur an der Handlung teilhabenden früheren ‚Selbst’’ ist bei Helen spürbar. Sie zeigt fast keine Entwicklung oder Distanzierung zu früheren Einstellungen auf. In den seltenen Fällen, dass sie eine solche erzählt (Bsp.: ‘Früher habe ich mich gar nicht rasiert.’ [S. 47] zu ‘Ich rasiere mich schnell […] überall drüber, und reiß mir alles mit der Klinge auf.’ [S. 57f.]), ist der Grund für diese unter- schiedliche Einstellung Teil der Geschichte bzw. der Handlung (In diesem Beispiel die Rasur durch Kanell [vgl. S. 49-58]. So kann man sagen, dass in Feuchtgebiete nicht die beiden unterschiedlichen Zustände thematisiert werden, sondern die Handlung, die von einem Zustand zum anderen führte. Eine Gemeinsamkeit der Erzähltypen ist die ‘Häufung von interner Fokalisierung bei der Schilderung zurückliegender Ereignisse, durch die die Erzähler versuchen, ihre Gefühle so wiederzugeben, wie sie diese erlebt haben’. Helen benutzt diese Technik, um ihre heutigen Gefühle zu beschreiben und zu authentifizieren: ' Dieses luftige Gefühl hintenrum kenne ich aus meinem wiederkehrenden Kindheitsalptraum. Grundschule. Ich stehe an der Haltestelle und warte auf den Schulbus. So, wie ich wirklich oft vergessen hab, die Schlafanzughose auszuziehen, bevor ich die Jeans anziehe, hab ich an diesem Tag vergessen, unter meinem Rock eine Unterhose anzuziehen. Als Kind merkt man so was zu Hause nicht, in der Öffentlichkeit will man lieber sterben, als entdeckt zu werden, mit nacktem Arsch unterm Rock' (S. 29). Hier wird klar, dass die Ängste aus der Grundschulzeit bis zum Zeitpunkt der Handlung nicht überwunden sind. Durch den Verweis: ‘dieses luftige Gefühl hintenrum kenne ich’ (S. 29) wird die sich zeitlich in einigem Abstand befindende externe Analepse inhaltlich angebunden an die Basiserzählung. Diesen ‘Typ von Retrospektionen, die elliptisch enden, ohne die Basiserzählung wieder zu erreichen’ nennt Genette ‘partielle Analepsen’. Sie dient der einzelnen Informationsbeschaffung und macht die auslösende Situation der Basiserzählung verständlich. Wenn solche Anachronien ohne Auslöser scheinbar sinnlos erzählt werden, kann das also Hinweis auf einen ‚mad monologist’ sein. Dies ist bei der Erzählerin Helen jedoch nicht der Fall: Durch die inhaltlichen Zusammenhänge der jeweiligen Analepse mit der Basiserzählung zeichnet sie ihre Gedanken mitsamt deren Sprüngen und Erinnerungen nach. Diese Sprünge sind immer logisch nachvollziehbar und somit ein Anzeichen gegen einen denkbaren verrückten Erzähler. Die auffälligste Übereinstimmung der Romanfigur der Helen mit den Ausführungen Gaby Allrathsist die starke Ich-Fixierung der Monologisten, was ja bereits der kategoriale Terminus nahe legt: ‘Ihre Sicht der Wirklichkeit steht im Zentrum ihrer Rede, ihr Monolog umkreis nur ihre eigenen Erfahrungen und Ansichten, durch deren Darstellungen sie ihr Verhalten zu rechtfertigen suchen.’ So wird die Einsamkeit und Abkapselung des Erzählers betont, so dass diese Erzähler in ‘ihren Beziehungen zur Außenwelt und in ihrer Kommunikationsfähigkeit mit ihren Mitmenschen[…] als gestört’ erscheinen. Das Monologisieren an sich kann nach Allrath als ‘Verfremdungsprinzip’angesehen werden. Sie zieht daraus den Schluss, dass durch dieses ‘die stark subjektive Färbung der Darstellung und die gestörte Kommunikation des Erzählers mit seiner Umwelt betont wird’. Eine solche Deutung bleibt vage, wenn nicht geklärt wird, inwiefern und in welchem Ausmaß die Kommunikation gestört ist. Helen kommuniziert sowohl mit dem Krankenhauspersonal, als auch mit ihrer Familie Von einer Störung der Kommunikation kann man nur im Bezug auf ihre Kindheitserlebnisse sprechen, da diese und ihre Gefühle diesbezüglich auffallenderweise in der Kommunikation mit ihren Eltern nicht nur innerhalb der beschriebenen Zeitspanne nicht thematisiert werden, sondern auch erkennbar ist, dass sie gar nicht thematisiert werden. Dass auch die Erzählerin der Feuchtgebiete eine Monologistin ist, wird nicht bestritten (immerhin macht ihre Redezeit im Roman mehr als 90 Prozent aus), aber vor dem Hintergrund der Erfahrungen dieser Figur wäre es sich zu leicht gemacht, die Erzählerin als ‚mad monologist’ einzustufen, auch wenn einige Charakteristika der Erzählerrede dafür sprächen: Textuelle Signale für das Vorhandensein eines solchen Erzählers mögen erkennbar sein, dennoch liegt im Sprechen der Erzählerin kein Anzeichen für eine Verrücktheit in Sinne von Realitätsverkennung und Fehleinschätzungen der Zusammenhänge innerhalb der Realität, sondern vielmehr eine Freudsche Fehlleistung, ein Überspitzen der Darstellung, das an Ironie erinnert. Freilich keine zynische, bissige Ironie eines mondänen, weltgewandten Vamps, sondern diesen mimetisch vorgeschoben, eine fordernde, schreiende Ironie, die nach Aufklärung verlangt. Helens Argumentationen zeigen eine für ihr angegebenes Alter unübliche Akzentuierung, sind aber in sich logisch verkettet. Daher ist sie als grundsätzlich glaubwürdige Erzählerin einzustufen, die bei der Vermittlung ihrer Botschaft nicht immer wahrheitsgemäße (im formallogischen Sinn) Aussagen macht, sondern rhetorische Stilmittel und psychologisch-kommunikative Sprechakte anwendet. Manfred Jahn hat diesen Erzähltypus als ‘unverlässlich’ oder ‘unzuverlässig’ bezeichnet, dessen ‘Diskurs entgegen seinem Anspruch in Darstellung und Urteilfähigkeit Defizite aufweist und daher nicht als glaubwürdig oder maßgeblich gelten kann’ und unter diesen mittels eines ‘sozialkognitiven’ Ansatzes eine breite Palette unverlässlicher Figuren aufgebaut, so auch ‘Lügner, Heuchler, Angeber, Aufschneider, Täuscher, Getäuschte, Träumer, Naive, Engstirnige, Besessene Unverbesserliche, Irre, Irrende, Verwirrte, Ignoranten, Blender, Blinde, verblendete, Neurotiker etc.’. Unter diesen sehr weiten Unzuverlässigkeitbegriff fiele auch Helen. Allerdings schreibt Jahn den Erzählern Unzuverlässigkeit als generelle Eigenschaft zu und missachte demnach die Möglichkeit, dass eine narrative Person grundsätzlich glaubwürdig konfiguriert sein kann und trotzdem situativ unvollständig oder gar unglaubhaft berichtet. Gerade dann muss die Analyse durch einen sozialkognitiven und situativen Ansatz erfolgen. Gabriel spricht in diesem Zusammenhang von der ‘emotiven Theorie der Literatur’, welche grundsätzlich gar keinen Wahrheitsanspruch hat, sondern die Funktion, ‘Gefühle und Einstellungen zu vermitteln’, entweder durch ‘Ursachen’ oder durch ‘Bedeutungen’, die dann vom Rezipienten interpretiert werden müssen. Über diese teilweise unrealistisch anmutende Erzählung (im Engeren Sinne Genettes) muss nun die zu erzählende Geschichte erschlossen werden. Jedoch muss man sich von vornherein darüber im Klaren sein, dass diese Aufgabe nicht endgültig abgeschlossen werden kann. Ähnlich dem Historiker, der weiß, dass er nie herausfinden wird, was wirklich geschah, sondern immer nur eingrenzen kann, was höchstwahrscheinlich geschehen sein könnte, können wir aus den Äußerungen Helens und der Art, uns diese mitzuteilen, darauf schließen, was wahrscheinlich geschehen sein könnte und wie sie es empfunden haben könnte. Die Unmöglichkeit des Erreichens des Ziels darf uns aber nicht davon abhalten, zumindest den Versuch zu machen und zu sehen, wie weit man auf Basis der Interpretation der Erzählung kommen kann.

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