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Natur / Technik


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Produktart: Buch
Verlag:
disserta Verlag
Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH
Hermannstal 119 k, D-22119 Hamburg
E-Mail: info@diplomica.de
Erscheinungsdatum: 12.2015
AuflagenNr.: 1
Seiten: 120
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback

Inhalt

Die Studie widmet sich der Fragestellung, inwiefern Antidepressiva nützliche kognitive Zustände und Funktionen im Alltag aufrechterhalten, wiederherstellen und verbessern können. In mit Ärzten geführten Interviews, die Antidepressiva verschreiben, erhärtete sich der Verdacht, dass diese Medikamente teilweise auch dann verschrieben werden, wenn eine genuin durch die Medizin bearbeitbare Problemstellung nicht vorliegt. Vielmehr werden soziale Probleme als medizinisch behandelbar definiert und in Folge dessen mit Psychopharmaka behandelt. In diesem Zusammenhang wird die Frage nach den Grenzen der medizinischen alltäglichen Verwendung von Psychopharmaka neu gestellt. Die übliche Kopplung des Begriffes Gehirndoping an den Krankheitsbegriff wird angezweifelt. Stattdessen wird die Ansicht vertreten, dass auch die Verwendung von ärztlich verschriebenen Psychopharmaka in bestimmten Fällen als Gehirndoping betrachtet werden muss. Nämlich dann, wenn die Verwendung der Medikamente dazu dient, die Patienten im Alltag leistungsfähig zu halten bzw. ihre Leistungsfähigkeit zu verbessern.

Leseprobe

Textprobe: Kapitel 3.4.4 Kommunikative Konstruktion der Wirkung von Psychopharmaka: Ist eine Diagnose erst einmal gestellt, ist eine weitere Besonderheit psychischer Erkrankungen gegenüber den meisten körperlichen Erkrankungen, dass auch deren Behandlung kommunikativen Aushandlungsprozessen unterworfen ist. Dabei ist es nicht nur die Art und Weise der Behandlung, sondern auch die Wirksamkeit der Medikamente, die der Arzt einerseits zu beeinflussen versucht, andererseits lediglich über die Berichte des Patienten nachvollziehen kann. Die interviewte Hausärztin nutzt den von ihr gepflegten, direktiven Umgang mit Patienten, um die Wirkung der von ihr verschriebenen Medikamente auf gewisse Weise zu präformieren: Es ist ja immer so, dass eigentlich der Arzt die Medikation auch schon ist. Je nachdem, wie ich mit dem Patienten umgehe, wie ich ihm das Medikament anbiete, wird es Wirkung, Nicht-Wirkung, Nebenwirkungen haben. Wenn ich einem Patienten sage: Also, ich habe hier eine Tablette für Sie. Ähm, ja, die kann man jetzt geben. Ich glaube, dass das für Sie ganz gut wäre. Da gibt es so ein paar Nebenwirkungen, aber das muss Sie ja nicht unbedingt betreffen. Probieren wir mal aus. Oder ich sage: Passen Sie auf, ich habe hier ein Medikament, damit arbeite ich schon viele Jahre. Das kenne ich sehr gut. Das wird bei Ihnen mit Sicherheit klasse funktionieren, wie bei den anderen Patienten auch. Nebenwirkungen – brauchen wir gar nicht drüber zu reden. Ich sehe so gut wie nie irgendetwas. Vielleicht mal, dass Sie ein bisschen zunehmen. Achten Sie auf Ihr Gewicht! Das kann man aber handeln. Hauptsache psychisch geht es ihnen gut. Ähm, wenn irgendetwas ist, Sie können mich ja jederzeit anrufen. Ich rechne nicht damit, dass irgendetwas ist. Und fangen Sie am besten gleich morgen damit an, oder holen Sie es heute noch – Sie haben ja auch einen ordentlichen Leidensdruck – damit das möglichst schnell besser wird. Sie merken den Unterschied, was würden Sie nehmen? Wo würden Sie Nebenwirkungen kriegen. Ist ganz klar. Die Ärztin nutzt die ihr durch ihren Expertenstatus verliehene Autorität aus, um Patienten ganz im Sinne des Thomas-Theorems auf eine bestimmte Medikation positiv einzustellen. Ihre Rolle als Ärztin erlaubt es ihr, bis zu einem gewissen Grade Einfluss auf ihre Patienten auszuüben, auch wenn diese vielleicht von gegenteiliger Überzeugung sind. Die Wirkmächtigkeit sozialer Rollen und der damit verbundenen Erwartungen wurde z.B. in dem sogenannten Milgram-Experiment (Milgram 1963) nachgewiesen. Allerdings ist diese Art der Präformierung kein Garant für therapeutischen Erfolg. Vielmehr scheint es so zu sein, dass diese Art der psychologischen Unterstützung der medikamentösen Therapie den massiven Unsicherheiten in der Wirksamkeit von Psychopharmaka geschuldet ist. So kann eine Wirksamkeit bei unterschiedlichen Patienten selbst auf Grundlage umfangreicher Erfahrungen des Arztes nicht prognostiziert werden. In einigen Interviewpassagen kam dies zum Ausdruck: Also es ist schon bei den Psychopharmaka so, dass man, und das sage ich den Patienten auch, unter Umständen nicht gleich mit dem Ersten das richtige hat, dass es einfach nicht wirkt, dass der Patient das eben doch nicht verträgt, ähm wir fangen ja auch niedrig dosiert an, weil man nicht weiß, ob der Patient jetzt wirklich gut drauf anspricht oder nicht. Das hat jetzt auch nicht immer mit dem Gewicht des Patienten […]. Wobei man nicht vorher sagen kann, für welchen Patienten ist welches Medikament am geeignetsten. Ja, SNRI ja auch. Man muss dann einfach ausprobieren. Also es gibt so bestimmte Erfahrungen, die ich gesammelt habe, mit Medikamenten, wo ich sage, das passt jetzt besser für den, das passt besser für den. Aber man muss immer mit einer paradoxen Wirkung rechnen. […] nur eben muss man gucken, ob es wirklich mit der Substanz geht, die man als erstes auswählt, oder ob man sagt, das ist jetzt doch nicht das Gelbe vom Ei, wir probieren jetzt noch was anderes und gucken, ob es dann besser ist. […] das ist ja in der Psychiatrie immer wieder unser Problem, dass diese Anti-Psychotika oder auch die Antidepressiva, dass da nicht das erste hilft, was ich dem Patienten gebe. 30 % oder noch mehr respondieren gar nicht auf das erste AD. Weitere Evidenzen für die Unsicherheiten bezüglich Psychopharmaka sind in den Angaben der Befragten der Online-Erhebung zu erkennen. Befragt nach den Medikamenten, die ihnen verschrieben wurden, gab ein Großteil der Befragten an, bereits zwei oder mehr Produkte eingenommen zu haben. Dies könnte allerdings auch daran liegen, dass viele Ärzte verschiedene Psychopharmaka in Kombinationen verschreiben. Dies hat ebenfalls mit den unvorhersehbaren Wirkungen bei unterschiedlichen Personen zu tun. Es ist teilweise notwendig, den nicht gewünschten Effekten eines Medikamentes mit einem anderen entgegenzusteuern. Dies ist z.B. häufig der Fall, wenn antriebssteigernde Antidepressiva verschrieben werden, die bei einigen Personen besonders stark wirken. Damit die Patienten am Abend einschlafen können, wird in diesen Fällen häufig zur Nacht ein eher sedierendes Medikament zusätzlich verschrieben. Gerade die häufigste Kombination ist sicherlich ein sedierendes Antidepressivum zur Nacht, wo man tatsächlich ein bisschen runterkommt, Ruhe findet, innerlich ausgeglichener ist. Damit er aber nicht zu lätschert ist und am Tag seine Sachen gebacken kriegt, noch ein antriebssteigerndes morgens. Letztendlich sind aber viele verschiedene Wirkstoffkombinationen denkbar, und diese können den externen Anforderungen, denen der jeweilige Patient unterliegt, angepasst werden. In dem durch Hospitation einiger Patientengespräche dokumentierten Fall war zu beobachten, dass der Patient auf viele Medikamente empfindlicher reagierte, als das in der Erfahrung der Ärztin bisher der Fall war. D.h., die Medikamente schlugen besonders stark an oder wurden aus anderen Gründen nicht vertragen. Es ist insgesamt über den hospitierten Zeitraum von 2,5 Monaten eine beachtliche Anzahl an Medikamentenwechseln beobachtet worden. Außerdem wurde die Dosis des Hauptmedikaments (Sertralin, ein SSRI) auf Grund höherer externer Belastungen erhöht, da die Wirkung nicht mehr ausreichend erschien. Im Verlauf der beobachteten Patientengespräche gelangte die behandelnde Ärztin zudem zu der Erkenntnis, dass die Behandlung mit Antidepressiva das vermeintliche Problem hinter der psycho-somatischen Störung des Patienten nicht zu beheben vermag. Trotzdem riet sie dazu, die medikamentöse Behandlung fortzuführen, da der Patient eine Prüfungssituation zeitnah zu bestehen hatte. Während des beobachteten Zeitraumes kristallisierte sich allmählich heraus, dass die Behandlung, die dem Patienten verschrieben wurde, also nicht die dem eigentlichen Problem angemessene ist. Seine vermeintlich psycho-somatisch verursachte Gastritis besserte sich nicht. Dies ist insofern auch nicht verwunderlich, als der Patient seine Behandlungsbedürftigkeit mit Antidepressiva maßgeblich selbst als solche definiert hat. Eine depressive Störung, die mit Sertralin normalerweise positiv beeinflusst werden kann, lag von Anfang an nicht vor. Letztendlich kommen Arzt und Patient darin überein, dass das eigentliche Problem – die Abgrenzungsprobleme, die er zu seiner Mutter hat, da diese ihn emotional zu sehr einnimmt und zu manipulieren versucht – nur durch eine Psychotherapie zu therapieren ist. Es liegt also vermutlich tatsächlich eine psycho-somatische Erkrankung vor. Allerdings sind Antidepressiva für eine derartige Anwendung weder zugelassen, noch vermögen sie einen therapeutisch-kurativen Effekt zu erreichen. Die Ärztin nutzte allerdings die durch den Patienten durchaus als positiv erfahrene und ihr gegenüber so auch beschriebene Wirkung, um ihn über die bevorstehende Prüfungsphase hinweg auf einem Niveau der Leistungsfähigkeit zu halten. Hierzu verdoppelte sie sogar die Dosierung. Da es sich aus den eben dargelegten Gründen nicht um eine kurative Behandlung der eigentlichen Problematik des Patienten handelte, ist zu überlegen, ob die behandelnde Ärztin in diesem Fall nicht eher die antriebssteigernden und stimmungshebenden Aspekte der Wirkung des Sertralins zu sekundärem Enhancement nutzte. Sie haben jetzt gerade Stress mit Prüfungen und so, und das müssen Sie irgendwie überstehen […] Aber diese Geschichte mit Ihrer Mutter, äh, so wie ich Sie jetzt über den längeren Zeitraum kenne, ähm, ist ein ungelöster Konflikt, der immer irgendwie da sein wird, wenn Sie es nicht irgendwann in einer Psychotherapie angehen. Das erklärte Ziel der Behandlung ist das Überstehen der Prüfungen. Damit wird in diesem dokumentierten Falle das Medikament nicht zur Behandlung einer Depression verwendet. Der Patient klagt auch nicht über Antriebsschwäche, Lustlosigkeit oder andere depressive Symptome, die eher dem offiziellen Indikationsspektrum des Sertralins entsprechen würden. Er hat vor allem einen hohen Blutdruck und eine Gastritis, deren Ursachen durch Ärztin und Patient in einer psycho-somatischen Stressreaktion gesehen werden. Daher wird die in diesem Fall dokumentierte Verwendung des Medikaments als verordnetes pharmakologisches Neuro-Enhancement eingestuft. Wenn auch nur durch eine gehobene Grundstimmung und etwas mehr Tatendrang, so verbessert das Medikament doch die individuell-normalen kognitiven Funktionen und Zustände des Patienten (sekundäres Enhancement). Damit wird eine Effizienzsteigerung und bessere Kontrollierbarkeit mentaler Prozesse erreicht und der Patient an die äußeren Ansprüche der bevorstehenden Prüfungssituation angepasst. Es sind also sowohl die Grundbedingung sowie zwei Zusatzziele der Definition des PNE erfüllt. Im weiteren Prozess der Behandlung konnte beobachtet werden, dass es bei den Folgeterminen im Wesentlichen um die Suche nach der optimalen Dosierung des Medikamentes ging: Da Sertralin ein antriebssteigerndes Antidepressivum ist, war das Hauptthema der Folgetermine zumeist die Gabe eines sedierenden Antidepressivums, welches den Patienten nachts zur Ruhe kommen lassen sollte. Dieser konnte nach der Verdopplung der Dosis nicht mehr schlafen. Es wurden immer wieder verschiedene Dosierungen und Wirkstoffe ausprobiert, doch der Patient reagierte derart empfindlich auf die sedierenden Wirkstoffe, dass am Ende des Beobachtungszeitraums die Sertralin-Dosis wieder halbiert wurde und der Patient beschloss, keine sedierenden Wirkstoffe mehr zu nehmen. Der Prozess der Behandlungsfindung war also auch noch nach einem Jahr in diesem Falle nicht abgeschlossen, wurde maßgeblich durch die Äußerungen des Patienten bezüglich der Wirkungen der Medikamente beeinflusst, und die Ärztin überantwortete dem Patienten teilweise sogar eigenmächtige Dosis- und Präparatswechsel.

Über den Autor

Patrick Schubert, M.A., wurde 1988 in Berlin geboren. Sein Studium der Soziologie an der Technischen Universität Berlin schloss der Autor im Jahre 2015 erfolgreich ab. Bereits während des Studiums sammelte er als studentische Hilfskraft in einem interdisziplinären Forschungsprojekt umfassende praktische Erfahrungen im Wissenschaftsbetrieb. Diese Tätigkeit weckte sein Interesse für medizinsoziologische Fragestellungen und inspirierte ihn zur Durchführung der vorliegenden Studie.

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