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- Zwischen Erweiterung und Ideologisierung: Der Begriff „Europa“ in der Antike und seine Rezeption im 20. Jahrhundert
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Verlag:
Diplomica Verlag
Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH
Hermannstal 119 k, D-22119 Hamburg
E-Mail: info@diplomica.de
Erscheinungsdatum: 12.2014
AuflagenNr.: 1
Seiten: 88
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback
Was verstand man in der Antike unter Europa , und wo lagen seine Grenzen? Die vorliegende Studie analysiert antike Textstellen u. a. aus Geschichtsschreibung, Geographie und Medizin vor ihrem jeweiligen Zeitkontext und vollzieht so die Entwicklung des Begriffs Europa und seiner geographischen, politischen und kulturellen Bedeutung vom fünften vorchristlichen Jahrhundert bis zur Spätantike nach. Das Ergebnis ist eine Begriffsgeschichte, die die Mehrdeutigkeit und den Wandel der Bedeutung von Europa über mehrere Jahrhunderte, aber auch seine Ideologisierung und seine Verknüpfung mit antiken Topoi und Stereotypen, deutlich macht. Den Fortbestand dieser Topoi illustriert der zweite Teil der Studie, der die Rezeption des antiken Europa -Begriffs im 20. Jahrhundert in den deutschsprachigen Geschichtswissenschaften beschreibt. Er zeigt den Einfluss zeitgenössischer (politischer) Interessen auf Forschungsfragen auf und macht die Gefahr der Rückprojektion auf Quellen, die als Belege fungieren, deutlich, nennt aber auch Beispiele, wie ebensolche Projektionen und Denkfiguren durch kritische wissenschaftliche Forschung reflektiert und dekonstruiert werden.
Textprobe: Kapitel II.1.4, Das Europabild bei Herodot: II.1.4.1, Klimatheorie in den ‘Historien’: Herodot (485-425 v. Chr.) aus Halikarnassos in Kleinasien hielt sich, nachdem er aus politischen Gründen seine Heimat verlassen und eine Weile auf Samos im Exil gelebt hatte, für längere Zeit in Athen auf. Dort publizierte er vermutlich um das Jahr 425 v. Chr. seine ‘Historien’, die er mit folgendem Proömium einleitete: ‘Herodot aus Halikarnass veröffentlicht hiermit seine Forschung, auf dass die menschlichen Werke bei der Nachwelt nicht in Vergessenheit geraten, und damit große und wunderbare Taten der Griechen und der Barbaren nicht ohne Gedenken bleiben. Vor allem aber soll man erfahren, warum sie gegeneinander zum Kriege schritten.’ Die neun Bücher der ‘Historien’ sind aber nicht nur eine Darstellung der Perserkriege. In Herodots Werk nehmen geo- und ethnographische Exkurse eine so große Rolle ein, dass in der Forschung immer wieder diskutiert wurde, ob die ‘Historien’ nicht eher ein ethnographisches denn ein historiographisches Werk seien. Wie in der Umweltschrift dient auch bei Herodot Klima und Land als Erklärung für Krankheit und für Unterschiede zwischen Völkern, ein vermutlich aus der ionischen Naturwissenschaft stammendes Denken. In beiden aber dienen Klima und Land als Erklärung für Krankheit und als Erklärung für Unterschiede zwischen Völkern, ein vermutlich aus der ionischen Naturwissenschaft stammendes Denken. Auch bei Herodot finden sich Überlegungen und Beispiele zum Einfluss von ??µ?? auf das Verhalten der Völker. Originell bzw. neu bei Hippokrates ist im Vergleich zu Herodot, dass der Umwelteinfluss den Rahmen für einen Vergleich zwischen Europa und Asien liefert, während er bei Herodot nur en passant erwähnt, und nur fallweise aitiologisch verwendet wird. Als Erklärung für den Konflikt zwischen Griechen und Barbaren (bzw. Europa und Asien) und vor allem des Sieges der Griechen sind bei Herodot die Götter (ebenso wie bei Aischylos) sowie der Mut der Griechen Dies ist auch bei Hippokrates der Fall, allerdings: ‘While courage for Herodotus is an acquired trait, the product of law, for Hippocrates it becomes an innate quality, the product of climate, favored by law.’ Für unsere Fragestellung genügt es festzustellen, dass für Herodot der Raum, die verschiedenen Länder, ihre Vegetation, ihr Klima und deren Auswirkungen auf ihre Bewohner von großem Interesse sind. Nach Herodots Auffassung prägt die Natur ihre Bewohner und in der Folge ihre Rolle und Möglichkeiten im historischen Prozess. Eine üppige Vegetation und ein mildes Klima machen die Menschen weich und leicht zu beherrschen, eine karge Vegetation dagegen macht hart und begünstigt die Freiheit der Menschen. Diese bereits in der Umweltschrift zentrale Vorstellung, dass Klima, Beschaffenheit des Bodens und Wasser die zivilisatorische Entwicklung beeinflussen, zieht sich durch die ‘Historien’. Bei Herodot ist sie allerdings zweischneidig: So korrespondiert eine hohe Entwicklung immer mit Verweichlichung. II.1.4.2, Die Darstellung der Erde bzw. der Oikumene: Herodot bezieht in seinen Betrachtungen die Völker der gesamten bewohnten Welt, der Oikumene, mit ein. Wie beschreibt er die Oikumene geographisch? In welche Länder und Kontinente teilt er sie ein? Bereits vor Herodot gab es Versuche, die Oikumene, aber auch die gesamte Erde geographisch zu beschreiben und als Raum zu erfassen. Eine Möglichkeit hierfür boten so genannte ‘Kataloge’, Auflistungen von Völkerschaften, wie sie uns im Epos, insbesondere in der Ilias begegnen. Die frühesten uns überlieferten nautischen Schriften der so genannten Periplus-Literatur arbeiten ganz ähnlich, nämlich indem sie – neben charakteristischen Flüssen und Gebirgen – die Namen der Völker entlang der befahrenen Küsten auflisten. Die Voraussetzung für politische Landkarten der Oikumene lagen aber in der ‘ionischen Aufklärung’, in der versucht wurde, das aus der Seefahrt gewonnene Wissen u. a. zu systematisieren und die räumlichen Distanzen zu erfassen. Dies sind die Vorbilder, auf die Herodot in seinen Beschreibungen zurückgreifen konnte. In Anlehnung an Hekataios von Milet finden sich auch bei ihm katalogartige Auflistungen von Flüssen und Völkerschaften. Die kritische Auseinandersetzung mit seinen Vorläufern zeigt sich in der kontrovers diskutierten Frage nach der Einteilung der Erde in Kontinente. Im vierten Buch der ‘Historien’ findet sich eine in den skythischen Logos eingeschobene Beschreibung der Erde, für die Herodot vermutlich Hekataios und dessen Erdbeschreibung verwendet hat. Die Erde wird darin als Scheibe vorgestellt, die Herodot, entgegen des Hekataios’ Darstellung der Welt, als in drei Erdteile, Asien, Europa und Libyen eingeteilt beschreibt. II.1.4.3. Die Einteilung der Erdteile: Die bewohnte Welt teilt sich, so überliefert es Herodot, in eine nördliche und eine südliche Hälfte. In der südlichen Hälfte liegen Libyen und Asia, die durch einen Golf, der im Norden durch eine schmale Landbrücke begrenzt ist, getrennt sind. Im Norden liegt Europa, das in seiner Längsausdehnung gleich wie Asien und Libyen zusammen, sowie generell als größer als Asien und Libyen vorgestellt wird. Die Ost- und Nordausdehnung Europas sind allerdings nicht bekannt, ebenso wenig, ob es vom Okeanos umflossen wird: ‘Von Europa aber weiß offenbar niemand etwas Genaues, weder über den Osten noch über den Norden, ob es da vom Meer umgeben ist. Von seiner Länge wissen wir: Es übertrifft die beiden anderen Erdteile.’ Auch für den Westen Europas sind Herodots Angaben unsicher. Als Grenzen nennt er die ‘Säulen des Herakles’, sagt aber nicht, wo genau sich diese befinden. Ebenso bleibt die Frage, ob Europa eine Westküste hat und wie diese aussieht, unbeantwortet. Die Erdteile sieht Herodot in erster Linie als eine Landmasse. Als Grenzen zwischen den Erdteilen fungierten schon bei Hekataios Meere und Wasserstraßen. Das ist auch bei Herodot so. Hinsichtlich des Nils herrscht allerdings Uneinigkeit: Dieser werde, so Herodot, konventionell als Grenze gesehen. Herodot hingegen beschreibt den Verlauf von Nil und Istros (Donau) als symmetrisch von Westen – beide entspringen im äußersten Westen – nach Osten. Die Grenze zwischen Asien und Europa verläuft bei Herodot von den Säulen des Herakles grob von West nach Ost durch das Mittelmeer, das ‘hellenische Meer’ (??????? bzw. ??????? ???assa), den Hellespont, den Bosporus und den Pontos Euxeinos. Weiter östlich wird die Grenze dann vager: Als Referenzpunkte werden der Phasis, das Kaspische Meer und der ‘schon recht mirakulöse’ Araxes genannt. Dieser West-Ost-Verlauf der Grenze ist neu. In der nach Bichler / Rollinger älteren Umwelt-Schrift wird Asien als sich nach Osten erstreckend beschrieben (XII 3), die Nennung der Maiotischen See verweist auf eine nord-südlich verlaufend gedachte Grenze (XIII 1 XVII 1). Herodot nennt auch diese Variante, in der Asien nicht mit Libyen zusammen die südliche Hälfte der Erde bildet, sondern die östliche Hälfte. In diesem Bild teilen sich Europa (im Norden) und Libyen (im Süden) die westliche Hälfte der Erde. Der Tana?s / Don, der, wie Herodot berichtet, in dieser Konzeption als Grenze Europas zu Asien gesehen wird, bildet dabei eine Nord-Süd-Achse. Diese Variante wird sich in der antiken Tradition, vor allem in römischer Zeit, letztlich durchsetzen. II.1.4.4, Europa und Asien: Wie in der Umweltschrift, die allerdings keine präzise geographische Abgrenzung der Kontinente vornimmt, erscheint auch in Herodots Konzeption Europa als Gegenwelt zu Asien, zu dem er Libyen ebenso wie Ägypten hinzuzählt. Obwohl also Herodot im Gegensatz zur Umwelt-Schrift und zu Hekataios die Einteilung in drei Erdteile überliefert, läuft seine eigene Konzeption ebenfalls sehr stark auf eine ‘Bipolarität’ hinaus: Der Gegensatz zwischen Asien und Europa ist nicht nur geographisch bedeutsam. Zu sehen ist diese Konzeption im historischen und geistesgeschichtlichen Kontext. Literarisch lässt sich neben dem Einfluss des Hekataios auch der des Aischylos festmachen, insbesondere hinsichtlich der Idee von übermenschlichen Grenzen, deren Überwindung als Hybris bewertet wird. Nach Bichler ist es Herodots Eigenleistung, die Ereignisse als Übergriff des Herrschers Asiens auf Hellas als Zentrum Europas darzustellen. Die Erfahrung von Asien und Europa als Gegensatz war dabei für beide Autoren neu, da ‘Europa’ vorher nur als Bezeichnung für eine Region im Nordosten von Hellas diente, ‘Asien’ hingegen nur für die Festlandmasse Kleinasiens von der Ägäis aus. Letzterer Begriff erfährt bei den beiden Autoren ebenfalls eine Bedeutungserweiterung, nämlich die als Herrschaftsbereich des persischen Großkönigs. Bei Herodot taucht ‘Europa’ sowohl als Erdteil, als auch als Bezeichnung einer Region auf. Er lässt Xerxes den Begriff ‘Europa’ verwenden, wenn von seinen Plänen zur Ausdehnung seiner Macht die Rede ist: ‘Ich will eine Brücke über den Hellespont schlagen und mein Heer durch Europa nach Griechenland führen, um die Athener zu strafen für alles Unrecht, dass sie den Persern und meinem Vater angetan haben.’ Griechenland / Hellas dagegen wird, wie Sieberer zeigt, als Bezeichnung nicht nur für das griechische Mutterland verwendet, sondern auch für die griechisch besiedelten Gebiete Kleinasiens und Libyens sowie für Ionien, die Kyrenaika, Italien und Sizilien. Die Auflistungen der bei Salamis und Plataiai kämpfenden griechischen Gegner der Perser (VII 32 und 131f., VIII 43-48, IX 28 und 31) ‘lassen […] recht deutlich erkennen, dass Herodot die Landschaften des heutigen griechischen festländischen Staatsgebietes mit Ausnahme Thrakiens und Makedoniens und die diesem Gebiet im Osten und Süden umliegenden Inseln des ägäischen und Ionischen Meeres ‚Hellas’ zuordnet.’ Sieberer weist aber darauf hin, dass auch dieser Begriff von Herodot zuerst vor allem ‘siedlungsgeographisch’ und erst durch die persische Invasion politischer verwendet wird. ‘Die hellenische Präsenz in der weiten Welt, in Freiheit wie in Abhängigkeit von fremden Mächten, wird so nach und nach recht umfassend dokumentiert. Dabei decken sich Herodots Kategorien von Europa und Asien im Wesentlichen mit den Zonen bedrohter, aber bewahrter Freiheit und bestehender Abhängigkeit. Schon von daher gewinnen Herodots Überlegungen über die Umrisse der Kontinente und die Größenverhältnisse von Europa und Asien beachtliche historische Relevanz […].’ Bichler weist darauf hin, dass die schon bei Aischylos auftauchende und von Herodot weiterentwickelte Überhöhung von Hellespont und Bosporus ‘von einer geographischen zur geopolitischen und zur heiligen Grenze’ im zeitgenössischen Athen als geschichtspolitische Konzeption äußerst erfolgreich war, bot sie doch den ideologischen Unterbau für Athens realpolitische Überlegenheit. Denselben Zweck erfüllten die bereits erwähnten Konzepte vom Zusammenhang von Klima und zivilisatorischer Überlegenheit, wie sie auch in der Umweltschrift zu finden sind. II.1.5, Zusammenfassung: Hinsichtlich der geographischen Bedeutung bzw. Gestalt ‘Europas’ bleiben Aischylos und die Umweltschrift vage: Allein der Hellespont als Grenze zwischen den beiden Erdteilen taucht bei Aischylos auf. Dass die Frage nach den Grenzen doch diffiziler ist, wird bei Herodot deutlich, der die kontroversen Ansichten der Gelehrten referiert. So erscheint die Grenze zwischen den Erdteilen einmal mit den Fixpunkten Mittelmeer, Hellespont (Dardanellen), Phasis und Kaspisches Meer als West-Ost-, und einmal mit dem Tanais, dem Schwarzen Meer und dem Mittelmeer als Nord-Süd-Achse. Parallel dazu scheint die Bezeichnung Europa geographisch im alten Sinn, also für das Gebiet im Nordosten Griechenlands weiterhin verwendet worden zu sein. Ideologisch reflektieren Aischylos, Herodot und die Umwelt-Schrift die Konstruktion eines Gegensatzes zwischen Griechen und Barbaren, und wie dieser sich, zusammen mit dem ‘Barbaren’-Begriff in der Zeit der Perserkriege und unmittelbar danach in Griechenland stark ideologisierte. ‘Den’ Barbaren werden stereotyp gewisse Eigenschaften zugeschrieben, die im Lauf der Zeit zu einem eigenen Katalog an Eigenschaften wurden. Wie die bisherigen Beispiele zeigten (und die folgenden möglicherweise zeigen werden), wird dieser Katalog immer wieder zur Erklärung, Darstellung oder Argumentation verwendet. Europa und Asien, bzw. die Gegenüberstellung Europa-Asien stehen hierbei ganz klar in Zusammenhang mit der Konstruktion eines Gegensatzes von Hellenen und Barbaren. Sie dienen gewissermaßen als geographische ‘Schablone’. Es zeigt sich, dass der Begriff ‘Europa’ nicht statisch ist, sondern dass sich sein Begriffsinhalt im Laufe der Zeit ändert, geographisch ausweitet, aber auch je nach politischem Ereignisrahmen, Textart und Funktion unterschiedlich besetzt ist. Was genau ‘Europa’ in den Texten jeweils bezeichnet, ist nicht immer eindeutig und lässt Interpretationen einigen Spielraum.
Patrizia Kern, MMag. phil., studierte Geschichte, Alte Geschichte und Altertumskunde an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck und an der Università degli Studi di Perugia. Nach ihrem Studium war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Zeitgeschichte der Universität Heidelberg. Derzeit forscht sie im Exzellenzcluster Asia and Europe in a Global Context in Heidelberg. Ihre Forschungsinteressen umfassen u. a. europäische Geschichte, insbesondere deutsche und türkische Geschichte, des 19./20. Jahrhunderts sowie die Geschichte von Europakonzeptionen und Europadiskursen.
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