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  • Wolfgang Koeppens Roman „Tauben im Gras“ (1951): Schwierigkeiten bei der Bewältigung einer destabilisierten Gegenwart

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Produktart: Buch
Verlag:
Diplomica Verlag
Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH
Hermannstal 119 k, D-22119 Hamburg
E-Mail: info@diplomica.de
Erscheinungsdatum: 04.2015
AuflagenNr.: 1
Seiten: 116
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback

Inhalt

Wolfgang Koeppens Roman Tauben im Gras (1951) ist eine Momentaufnahme der jungen Bundesrepublik Deutschland und zeigt eine Gesellschaft zwischen Zusammenbruch, Neuanfang und Restauration. Die vorliegende Studie stellt die vielfältigen Schwierigkeiten bei der Bewältigung der unmittelbaren Vergangenheit und der als destabilisiert empfundenen Gegenwart heraus, wie sie an den Figuren und ihren Beziehungen untereinander sichtbar werden. Der erste Teil beleuchtet, das den Roman dominierende Grundgefühl der Angst in mehreren Aspekten (Kriegsgefahr, individuelle Ängste, zwischenmenschliche Folgen). Teil zwei befasst sich mit den sozialen Defiziten wie sie sich innerhalb der Paar- und Familienbeziehungen, aber auch in der Kommunikation manifestieren. Der dritte Teil zeigt die Suche nach Orientierung (Werte, Normen, Sinngebung), charakterisiert verschiedene Weltbilder und untersucht die Verfolgung persönlichen Lebensglücks sowie das Element der Psychotherapie bei der Bewältigung des Lebens. Das Scheitern all dieser Versuche verweist auf den vierten Teil, der sich mit den Folgen des Scheiterns für die Lebenseinstellung und das Geschichtsverständnis der Figuren befasst.

Leseprobe

Textprobe: Kapitel 4.1.1, Kriegsangst und die Rolle der 'Seher': Das erste und das letzte Erzählsegment fungieren als Rahmen des Romans, der die Situation und die Atmosphäre verdeutlicht und dabei explizit auf die Bedrohung durch einen neuen Krieg eingeht. Die Steigerung dieser Bedrohung während des Romanverlaufs, dessen erzählte Zeit nur etwa 18 Stunden umfasst – vom Läuten zur Frühmesse (II 14) bis Mitternacht (II 218) –, ist im Vergleich beider Abschnitte unübersehbar. Die Kriegsangst als wichtige kollektive Befindlichkeit der Zeit speist sich aus dem Gefühl, in einem ‘Spannungsfeld’ (II 11) zu leben, in einer geopolitisch besonders prekären Lage eines geteilten Deutschlands in ‘östliche Welt, westliche Welt, man lebte an der Nahtstelle, vielleicht an der Bruchstelle’ (II 11). Dieses Gefühl wird verstärkt durch den Eindruck, dass die Gegenwart nicht mehr als eine ‘Atempause auf dem Schlachtfeld’ (II 11) ist, ein Krieg wie in Korea, einem ebenfalls geteilten Land, möglicherweise kurz bevorsteht und sich ein solcher aufgrund des Ost-West-Konflikts erneut zu einem Weltkrieg entwickeln könnte. Die mentale Bereitschaft für einen neuerlichen Krieg fehlt größtenteils, ‘man hatte noch nicht richtig Atem geholt’ (II 11), die im persönlichen Bereich erlittenen Verluste und einschneidenden Lebensveränderungen noch nicht bewältigt. Trotzdem wird bereits für den nächsten Krieg gerüstet das ‘verteuerte das Leben’ und ‘schränkte die Freude ein’ (II 11). Die Medien verkünden, täglich neu, heraufziehendes Unheil und tragen mit teils bedrohlichen, teils Hilflosigkeit und Verzweiflung andeutenden Schlagzeilen, im Roman auffällig durch typographische Hervorhebung, zur weiteren Verängstigung der Menschen bei: ‘Wie Blitzlichter erhellen sie die Situation und verweisen auf die geschichtliche Stunde, lassen die weltweite Bedrohung nicht vergessen. Die unpersönliche Übermacht der augenblicklichen Weltlage kontrastiert zur persönlichen Ohnmacht der kleinen Leute.’ Auch die Radionachrichten sorgen für Beunruhigung: ‘Josef verstand nicht, was der Mann sagte, aber manche Worte verstand er doch, die Worte Truman Stalin Tito Korea. Die Stimme in Josefs Hand redete vom Krieg, redete vom Hader, sprach von der Furcht.’ (II 67) Otto Lorenz spricht den Medien keine neutral informierende, sondern eine aktiv unterstützende Rolle zu: ‘Vor allem das Wirklichkeitsbild der journalistischen Medien [...] bereitet durch Herbeireden einer neuen Katastrophe das Ende der ‘Atempause’ vor. Die Tageszeitungen und Wochenzeitschriften (mit illustrierten Lebenserinnerungen, die Schuld verdrängen und solche Helden feiern, die sich gut als Werber für ein neues Heer eignen) bahnen den Weg für eine 'Wiederkehr des Gleichen'.’ Die Medien stellen sich damit in den Dienst der Staatsmänner und anderer gesellschaftlich Verantwortlicher, pressen ‘Geschrei und Lügen’ derer ‘in die Spalten’ (II 219) der Zeitungen, die vorsätzlich die Voraussetzungen für die Wiederaufrüstung der Bundesrepublik und einen neuen Krieg schaffen, die Angst der Menschen und die Hoffnung auf eine Abwendung der Bedrohung ignorierend: ‘[S]ie redeten von Aufbau und bereiteten den Abbruch vor’ (II 12). Politiker und Medien erweisen sich als die im Prolog genannten ‘Auguren’ die ‘die Flugzeichen der technischen Vögel zu deuten verstehen’. Im Gegensatz zur Bevölkerung sind sie davon überzeugt, dass Krieg und Wehrbeitrag unweigerlich kommen werden: Die Schlagzeilen nehmen den Charakter mythischer Weissagungen an. Diese sind keine Überraschung, schließlich sind die Auguren selbst daran beteiligt, die Zeichen zu schaffen: Als ‘professionelle Sinnproduzenten’ wissen sie nicht nur, was geschrieben steht, sondern auch, wie es hineingelesen wird, sie kennen ‘untereinander die Tricks’, ‘mit denen sie zum eignen Vorteil die Unwissenden betrügen.’ ‘Die Auguren in der Stadt lächeln. Weil das, was den einzelnen noch als unentschieden erscheint, in Wirklichkeit zwar nicht entschieden, aber doch vorprogrammiert ist.’ Der letzte Erzählabschnitt verweist darauf, dass die Hoffnung auf Abwendung der Bedrohung in letzter Minute vergebens, die Chance bereits ‘vertan’ (II 219) ist. Besonders im Vergleich von Anfang und Ende fällt durch modifizierte Wortfolgen die Verschärfung der Bedrohung und der Angst ins Auge: ‘Zum einen sind die im Druckbild hervorgehobenen Nomina ‘Spannung, Konflikt’ um zwei weitere, ‘Bedrohung, Verschärfung’, ergänzt worden, die eine Verschlechterung der weltpolitischen Situation signalisieren. In der Wendung ‘vielleicht an der Bruchstelle’ vom Anfang des Romans ist das einschränkende ‘vielleicht’ am Schluß fortgelassen, andererseits ist das Wort ‘Schlachtfeld’ am Ende um das Attribut ‘verdammten’ erweitert. Und schließlich hat der Autor das epische Präteritum (‘Flieger waren über der Stadt’) durch das ungewöhnliche Präsens (‘Am Himmel summen die Flieger’) ersetzt.’ Das Präsens entlässt den Leser der 1950er Jahre in seine eigene Gegenwart, ‘leitet hinaus in die leider nicht fiktiven Gefährdungen und Brüche und Beängstigungen in der realen Zeit und Welt.’ Gerade die Sonderstellungen des ersten und des letzten Erzählabschnittes weisen auf die starke Position des Erzählers hin, der sich in diesen Segmenten unumstößlich als Zeichendeuter etabliert, dabei nicht nur die Stimmung der Zeit und der Menschen einzufangen weiß, sondern auch die Machenschaften der Auguren durchschaut. Eine distanziert-gelassene Haltung ist ihm aufgrund der Brisanz der Lage unmöglich, zumal er sich selbst ‘zur bedrohten und angsterfüllten Allgemeinheit’ zählt, welche jedoch im Gegensatz zu ihm die Zeichen der Zeit in ihrer Deutlichkeit nicht sieht oder sehen will. Er rechnet sich damit ‘weder den lächelnden Auguren zu, noch denen, die nicht zum Himmel aufblicken. Weder vermag er die Ahnung des Unheils in positives Wissen oder in Macht umzuwandeln, noch versteht er es, seine Angst zu verdrängen [...] daß er die apokalyptischen Zeichen als einziger wahrzunehmen glaubt, bestätigt ihm nur seine Einsamkeit. Die Stimme des Erzählers ist die des Propheten in der Wüste.’ Dies gilt ebenso für den Autor selbst, der dem Erzähler seine Weltsicht zum großen Teil eingeschrieben hat. Christoph Haas erkennt in Koeppens Nachkriegsromanen ohnehin eine für die moderne Literatur ungewöhnliche Unmittelbarkeit, in der Erzähler und Autor gleichzusetzen sind. Da Koeppen in der von ihm dargestellten Gegenwart lebt, ist sein Standpunkt nahezu zwangsläufig der des ‘betroffenen Beobachters’ und der gelassene Blick aus einer zeitlichen Distanz, die das Wissen um den Ausgang der labilen Lage in sich trägt, bleibt ihm verwehrt. Die Fähigkeit des Zeichendeutens wird auch offenbar in seiner scharfen Kritik der ‘als verhängnisvoll erkannten gesellschaftlichen Verhältnisse’. Seine Befürchtungen bestätigen sich zum Teil im Fortgang der Geschichte der Bundesrepublik, doch die Romanrezeption Anfang der 1950er Jahre steht für die bittere Erfahrung des Desinteresses oder des Gegenangriffs: Er teilt das Schicksal der mythologischen 'Kassandra', ‘begabt mit der Kraft der Weissagung, aber auch geschlagen mit der Einsamkeit des Wissenden, auf den niemand hören will’, wohl weil er Unliebsames ausspricht: ‘Koeppen schreibt dem 'Dichter-Seher' die Fähigkeit zu, die Welt zu 'durchschauen'. [...] Daher muß das literarische Werk [...] stets erschrecken: weil es zu Tage fördert, was im Untergrund verborgen, was unausgesprochen bleiben soll.’ Auch Philipp, als Dichter und in biographischer Nähe zum Autor – wobei er ‘weder mit Koeppen gleichgesetzt, noch einfach von ihm völlig losgelöst werden’ darf –, vermag die Zeichen der Zeit zu deuten. Er durchschaut die ‘hohlen Phrasen’ der ‘offizielle[n] Welt’ (II 163), erkennt ‘die Dummheit der politischen Propaganda’, die ihn zu bitterem Lachen reizt und wundert sich über die Blindheit der Menschen, die nicht erkennen, ‘wie billig man sie kaufen wollte’ (II 164). Seine Außenseiterstellung lässt ihn klar sehen. Im Bewusstsein, als Schriftsteller eine zentrale Stellung in der Welt innezuhaben, betraut mit der Aufgabe, die Wirklichkeit, die Weltereignisse in ihrem Zusammenhang und Ganzen zu deuten und der Welt die Wahrheit zu sagen, ist Philipp jedoch im Unterschied zu den bisher genannten Sehern so von Selbstzweifeln erfüllt, dass er seine Einblicke nicht mitteilt, seine Aufgabe nicht erfüllt und damit eine 'Kassandra' verkörpert, die bereits resigniert hat: ‘'Überschaue ich es denn', dachte er, 'kenne ich die Rechnung der Politik? die Geheimnisse der Diplomaten?[']’ (II 164) Damit einher geht ein ‘Gefühl der Hilflosigkeit’ (II 164), Philipp ist angesichts der bedrohlichen Entwicklungen ‘wie gelähmt, und seine Stimme war wie erstickt, und schon sah er mit Grauen, wie der verfluchte Schauplatz, den er nicht verlassen konnte, vielleicht auch nicht verlassen mochte, für ein neues blutiges Drama hergerichtet wurde’ (II 101). Angesichts dieser Aussichten verstummt er ganz und gar. Mr. Edwin, ebenfalls zugleich Dichter und Seher, richtet seinen Blick auf die gesellschaftlichen Entwicklungen. Er erwartet, die Menschen ‘geweckt vom Unheil’ und ‘voll Ahnung’ (II 44) zu erleben, doch bei seiner Fahrt durch die Stadt stellt er mit Grauen fest, dass die Menschen im Zuge einer raschen Restauration die Vergangenheit mit all ihren Zer- und Verstörungen bereits verdrängt haben: Alles ist ‘aufgeräumt, geordnet, verpflastert, schon wiederhergestellt’ (II 45). Mit einem die Fassade durchdringenden Blick sieht er die Stadt ‘in gefährlicher mühsamer Balance’ und fürchtet das Schlimmste: ‘Die Bühne war zur Tragödie hergerichtet, aber was sich im Vordergrund abspielte [...] blieb[..] vorerst possenhaft.’ (II 106) Mr. Edwin durchschaut die Interessen der ‘Sieger’, des ‘Geldes’ und der ‘Strategie’, die Machtpositionen, die sich hier verknüpfen und gemeinsam die ‘Fessel’ schlingen, die die Stadt in der labilen ‘Schwebe’ (II 106) hält. Doch statt seine Einsichten offen zu legen und den Blick der Menschen auf die Verdrängungen zu richten, rührt er nicht am Verborgenen. Der ausschlaggebende Grund ist darin zu sehen, dass Edwin an seiner Rolle des bewunderten und gefeierten Dichters übergroßen Gefallen findet und der Verführung durch Eitelkeit erlegen ist. Verstörende Aussagen brächten ihn um den Beifall des Abends, den Genuss der Anerkennung, um die er in seinem Leben mindestens ebenso gerungen hat wie um Erkenntnis. In der Eitelkeit der eigenen Bedeutsamkeit stellt Edwin sich auf die ‘Seite der Reichen, der Staatsmänner, der Arrivierten’ (II 43), der Auguren, auch wenn er ihre Haltung nicht teilt. Hielscher weist auf Edwins Distanz und seine Selbstgefälligkeit hin, wenn er schreibt: ‘Die ihn bedrohende reale Situation erscheint als ‘Bühne’, auf der ein schlechtes Stück gespielt wird, dessen Sinn Edwin selbstverständlich schon kennt, oder der nur Grauen bedeuten kann, weil er seine (Edwins) Funktion möglicherweise entbehren könnte’. Beide Dichterfiguren des Romans versagen im Gegensatz zu Koeppen, der seinen Lesern nichts vormacht, ihnen auch nichts erspart, indem sie – aus verschiedenen Gründen – davon Abstand nehmen, ihre Deutungen mitzuteilen und damit den Machenschaften der Auguren etwas entgegenzusetzen. Die Menschen verbleiben in einem unterschwelligen Gefühl der Bedrohung und versuchen, ihren Alltag zu bewältigen (II 27), was ihren Blick vom 'großen Ganzen' ablenkt. Die unmittelbaren Sorgen und Ängste des täglichen Lebens verdrängen die Angst vor einem zukünftigen Krieg oder anderen Bedrohungen, die aus den gesellschaftlichen Entwicklungen erwachsen könnten.

Über den Autor

Claudia Kollschen, M.A., wurde 1975 in Bremen geboren. Nach einer Ausbildung zur Buchhändlerin studierte sie Germanistik (Schwerpunkt Literaturwissenschaft) und Soziologie in Hannover und schloss ihr Studium im Jahre 2004 mit dem akademischen Grad der Magistra Artium erfolgreich ab. Heute arbeitet sie als freie Autorin, vor allem in den Bereichen Stadtgeschichte und Literatur. Ihr besonderes Interesse gilt Wolfgang Koeppen, einem zeitgeschichtlich bedeutsamen und zugleich noch immer zu wenig bekannten Autoren, der sich gerade in seinem Roman Tauben im Gras (1951) als ein großer Stilist der Moderne und inhaltlich ganz nah am Puls der Zeit erweist. Mehr zur Autorin: www.claudiakollschen.de.

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