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- Von blinden Flecken und logischen Fehlschlüssen: Die konstruktivistische Pädagogik in der Kritik
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Verlag:
disserta Verlag
Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH
Hermannstal 119 k, D-22119 Hamburg
E-Mail: info@diplomica.de
Erscheinungsdatum: 12.2014
AuflagenNr.: 1
Seiten: 124
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback
Zur Begründung der These von der Konstruktion aller Kognition bedienen sich die Konstruktivisten eines Experimentes, welches dem Nachweis des blinden Fleckes auf der Retina dient. Die Tatsache, dass das Sichtfeld trotz nachweisbarer Unterbrechung zusammenhängend wahrgenommen wird, gilt ihnen als Beweis für den selbstreferentiellen Aufbau kognitiver Strukturen. Bereits auf der Ebene der empirischen Bezugswissenschaften schleicht sich jedoch eine Unschärfe in das konstruktivistische Denken ein, die den Grundstein für die sich anschließenden Erklärungsnotstände der Erkenntnistheorie und ihrer pädagogischen Indienstnahme legt. Die Unmöglichkeit, die gehirninterne Hervorbringung individueller Wahrnehmungsresultate durch die Verknüpfung gegenwärtig erlebter und in der Vergangenheit bereits verarbeiteter Sinneseindrücke nachzuzeichnen, beschreibt ein Nichtsehen, das dem blinden Fleck insofern ähnelt, als sich auch diesem nur durch die entkräftende Überlagerung mit dem Sichtbaren begegnen lässt. Die Verabsolutierung der These der strukturdeterminierten Kognition wird so zur zwingenden Notwendigkeit einer Neurophysiologie, die ihr Sehen der Sichtbarkeit materieller Spezifik verdankt. Im ersten Teil dieses Textes werden sowohl die neurobiologischen Grundlagen als auch die sich aus ihnen ableitenden konstruktivistischen Thesen dargestellt. Das Kompensationsverhalten setzt sich auf der Ebene des Pädagogischen in einem zugespitzten Modus fort. Um pädagogische Handlungsfelder in die konstruktivistische Theorie aufnehmen zu können, müssen inhärente Setzungen durch inkonsistente Zugriffe umgedeutet werden. Die terminologisch erneuerte Verabsolutierung eines selbstgesteuerten Lernprozesses führt die konstruktivistische Pädagogik jedoch in die Affirmation der Zugriffsstrukturen einer ökonomisierten Gesellschaft. Welche Gestalt die konstruktivistische Pädagogik unter diesen Bedingungen annimmt und welche pädagogische Relevanz dem konstruktivistischen Denken zukommt, wird im zweiten Teil dieses Textes analytisch- kritisch beurteilt.
Textprobe: Kapitel 4, Konstruktivistische Pädagogik: Die konstruktivistisch motivierten Erkenntnistheoretiker begreifen ihre Interpretationen der neurologischen und kognitionsbiologische Modellierungen menschlicher Wahrnehmung als Grundlage eines interdisziplinären Paradigmas, welches grundsätzlich auf allen Wissenschaftsgebieten zu fruchtbaren Erneuerungen traditioneller Forschungsansätze führen soll. Die Hoffnung auf interdisziplinäre Wirksamkeit speist sich aus der einheitsstiftenden Wirkung des konstruktivistischen Beobachterbegriffs. Der überkommene Subjekt-Objekt-Dualismus soll konstruktivistisch aufgelöst werden durch die Einsicht in die absolute Beobachterabhängigkeit jeder Beschreibung (vgl. Diesbergen 1998, S. 63f.). Die spezifische Individualität der Beobachtungsperspektive und der damit einhergehende Verlust allgemeingültiger Objektivität bedeuten nicht nur im Kontext der pädagogischen Wissenschaft neben der Aufforderung zur ‘pragmatischen Gelassenheit’ (Arnold/ Siebert 1999, S. 21) zugleich einen umfassenden Methodenpluralismus. Entsprechend des utilitaristischen Zugriffs auf die Wirklichkeit bestimmt einzig die Wirksamkeit individueller Modellierungen in ihrem spezifischen Anwendungsbereich die Gültigkeit der Erklärungsansätze. Die konstruktivistische Ablehnung der überkommenen Versuche linear-kausaler Wirklichkeitsbeschreibung, die Aufdeckung der Unmöglichkeit einer Übereinstimmung zwischen subjektiv erfahrbarer und objektiv existierender Realität und die Betonung der realitätserzeugenden Bedeutung des Subjekts kennzeichnen daher die wesentlichen Neuerungen, durch die sich der Konstruktivismus gegen das geltende Wissenschaftsverständnis abzugrenzen sucht. In dieser herausfordernden Rolle versteht sich die konstruktivistische Erkenntnistheorie als gegenwartsbezogene Konzeption. Funktionalistische Wirklichkeitsentwürfe ersetzen die Suche nach letztgültigen Begründungszusammenhängen und ermöglichen so die Orientierung an zeitnahen Problemstellungen. Dieser Aktualitätsbezug bestimmt natürlich auch die perspektivische Ausrichtung der konstruktivistischen Pädagogik. Orientiert an den Problemen konkreter Erfahrungswirklichkeit will sie viables Verhalten initiieren ohne dabei dem illusionären ‘Erlösungsanspruch der neuzeitlichen Pädagogik’ (Pongratz 2005, S. 22) zu erliegen. Folglich wird gerade aus pädagogischer Perspektive die Modernitätsbehauptung zu Legitimationszwecken wiederholt befestigt. Folgt man den Ausführungen der konstruktivistischen Pädagogen Arnold und Siebert, dann ist es vor allem das Potential, auf ‘die Krise der großen ‚Metaerzählungen‘‘ (Arnold/ Siebert 1999, S. 22) zu antworten, welches zur Aktualität konstruktivistischer Postulate beiträgt. Ein Potential, das aus konstruktivistischer Perspektive auf alle Wissenschaftsbereiche gleichermaßen übertragbar ist. Die Option, die energiebündelnde Unvorhersehbarkeit aller Dinge, als ‘die Erkenntnis, dass alles auch anders sein könnte’ (ebd.) in einer theoretischen Konzeption abzufangen und so die bohrende Ungewissheit einer heterogenen gesellschaftlichen Wirklichkeit durch eine beruhigende Ordnungsstruktur zu ersetzen, beschreibt konstruktivistisch gedeutet die befriedigende Auflösung ‘der anspruchsvollen Philosophien, Ideologien und Utopien’ (ebd.) durch die relativierende Theorie von der Konstruktion aller Kognition (vgl. Diesbergen, S. 152f.). In diesem fatalistischen Habitus wird die unterschiedslose Kontingenz alles Seienden zum Normalzustand und die spezifische Form der Gegenwart zum einzigen Bezugspunkt einer ansonsten bezugslosen Wirklichkeit. Diese Tendenz setzt sich in dem konstruktivistischen Anschluss an den ‘unumstrittenen Trend der Individualisierung als Vergesellschaftsprozess’ (Arnold/ Siebert 1999, S. 23) fort. Die konstruktivistisch zugespitzte These des subjektiven Weltzugangs wird als erkenntnistheoretische Bestätigung des gesellschaftlichen Zwangs zur individuellen Be- und Verarbeitung persönlicher Krisenzustände verstanden. Die Menschen müssten heute, so Arnold und Siebert, mit ‘ihren Identitätskrisen und ihren Zukunftsängsten alleine zurechtkommen’ (Arnold/ Siebert 1999, S. 23) und so in wahrgenommener Selbstverantwortung das System entlasten (vgl. ebd.). Der in der Postmodern diagnostizierte ‘Verfall ontologischer Wahrheiten, zentralistischer Einheitskonzepte und teleologischer Utopien’ (ebd.) benötige geradezu eine rahmende Erkenntnistheorie, die ihre Konzeptionen nicht länger an normativen Orientierungspunkten aufhängt, sondern sich gänzlich der Macht des direkt Wahrnehmbaren ergibt (vgl. ebd.). Die fühlbare Umgebungsqualität ersetze die metatheoretische Perspektive, denn ‘nicht die großen Ideen, sondern die Bilder verändern die Welt’ (ebd., S. 24). Der Konstruktivismus stimmt in diesem Zusammenhang mit den Behauptungen postmoderner Apologeten von der Dominanz individuell geprägten, differenzlogischen Denkens und dem Ende aller Wahrheitsansprüche überein. Gesellschaftliche Wandlungsprozesse, die sich unter dem Druck zahlreicher Einflussgrößen vollziehen, werden so in einem verdichtenden Begründungsansinnen durch die Ansätze konstruktivistischer Erkenntnistheorie eingerahmt. Es ist wohl nicht zuletzt dieser Funktionszuschreibung anzurechnen, dass in Verbindung mit dem dargestellten Rückbezug auf neuere und neuste Empirie der Anschein einer zeitgemäßen Erkenntnistheorie entsteht. Diese postulierte Aktualität und jene einheitsstiftende Funktion konstruktivistischer Erkenntnistheorie können als Gründe dafür angesehen werden, dass durch sie verschiedene Teilgebiete des Pädagogischen sowie die ihnen inhärenten Paradigmen zugleich herausgefordert werden. Diesbergen identifiziert drei konstruktivistisch angestrebte Paradigmenwechsel im Kontext pädagogischen Denkens und Handelns: ‘vom Behaviorismus über den Kognitivismus zum Konstruktivismus für die Lerntheorie und die Unterrichtsgestaltung, vom Positivismus […] zum Konstruktivismus für das Gebiet der […] Didaktik […] und schließlich die Auflösung der ergebnislosen Konkurrenz um Einheitsanspruch […] zwischen empirisch-analytischem, historisch- hermeneutischen und kritisch-emanzipatorischen Paradigma für die Erziehungswissenschaft bzw. für die Unterrichts-forschung’ (Diesbergen 1998, S. 64f.). In der Hoffnung, tiefgreifende Verbesserungen im Bildungswesen anzustoßen und sich dem diagnostizierten Machbarkeitswahn herkömmlicher Pädagogik zu entziehen, werden konstruktivistische Ansätze als ‘Grundlagenpartner’ (Krüssel 1993, S. 36) erziehungswissenschaftlicher Ansätze angepriesen, durch den die simplifizierenden Input-Output-Modelle einer Pädagogik, die den kognitiven Entwicklungsprozess der Individuen missachtet, überwunden werden sollen (vgl. Diesbergen 1998, S. 70ff). Die Kritik an den herkömmlichen Konzepten richtet sich vor allem gegen das traditionelle objektivistische Denken und das aus diesem hervorgehende pädagogische Selbstverständnis. Von konstruktivistischen Theoretikern wird übereinstimmend betont, dass ein abbildtheoretisches Erkenntnisverständnis zu mechanistischen Wirkungsannahmen führt, welche die Komplexität der pädagogisches Handeln bestimmenden Intention-Wirkung-Relation künstlich beschneiden. Das technologische Erziehungsverständnis beruhe nach wie vor auf dem Glauben an allgemeingültiges Wissen und an die Möglichkeit und Aufgabe, dieses objektive Wissen unverfremdet weiterzugeben. Eine pädagogische Grundlegung, die aus konstruktivistischer Perspektive den manipulativen Reproduktionsprozessen der bestehenden gesellschaftlichen Formationen geschuldet ist. Die Dekonstruktion der ‘alten Mythen’ (Kösel 1995, S. 8) von einem linearen Bewusstsein und die Einführung eines vernetzten, ganzheitlichen Denkens werden zu pädagogischen Zielvorstellungen. Konstruktivistische Pädagogikkritik wird hier gar zur Gesellschaftskritik mit emanzipativer Ambition. Die staatlich organisierte Aufrechterhaltung der geltenden Machtverhältnisse könne die autonome kognitive Entwicklung der Beherrschten nicht dulden, würde doch die eigenständige Verarbeitung der Wirklichkeit zu subversiven Tendenzen beitragen. Schulisches Lernen werde demnach, aufgrund seiner Einflechtung in staatliche Institutionen, die konstruktivistischen Postulate niemals bewusst wahrnehmen können (vgl. ebd.). Unbescheiden wird die Übertragung konstruktivistischer Postulate auf pädagogische Kontexte vor diesem Hintergrund zu dem noch ausstehenden Schritt zu einer menschenwürdigen Pädagogik erhoben, die den Menschen aus seiner fremdbestimmten Instrumentalisierung befreit und darüber hinaus die Pädagogik von ihrem widersprüchlichen Auftrag im Spannungsfeld zwischen der Sicherstellung gesellschaftlicher Reproduktion und der Freisetzung des Menschen zu selbstbestimmtem Handeln löst (vgl. v. Glasersfeld 1987, S. 136 Siebert 2003, S. 102ff.). Wenn wir Psychologen und Erzieher dazu bringen könnten, einzusehen, dass das, was wir Wissen nennen, nie das Bild der wirklichen Welt ist, sondern eine spezifisch menschliche Konstruktion, die unter den einschränkenden Bedingungen einer unerkennbaren Welt überleben kann, dann können wir eines Tages doch noch ein menschenwürdiges Erziehungswesen erreichen (v. Glasersfeld 1987, S. 136). Konstruktivistische Pädagogik begreift sich folglich als Bezwinger einer verblendeten Pädagogik, die an einem überholten Verständnis von Wissen und seiner objektiven Vermittelbarkeit festhält und so sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene unerwünschte Entmündigungen hervorruft. Konstruktivistische Pädagogen betonen daher die Notwendigkeit des Umdenkens. Während das traditionelle pädagogische Handeln die Natur des Menschen negiere und einem mechanistischen Lernprozess den Weg ebne, welcher die Lernenden trivialisiere und ihnen untersage, selbständig zu denken, befreie die konstruktivistische Pädagogik den Einzelnen aus der Unfreiheit fremdbestimmter Einflussgrößen und überführe ihn mit der Botschaft: ‘Wenn es Dir schlecht geht, liegt das an Deiner Wirklichkeitskonstruktion’ (Arnold/ Siebert 1999, S. 23) in die Selbstbestimmung eigener Konstruktionsverantwortung. Ausgehend von derartig fundamentaler Kritik an den traditionellen pädagogischen Konzepten ist es nun von Nöten, die Grundlagen konstruktivistischer Stellvertreterkonzepte vorzustellen. Dabei soll vor der Darstellung der konstruktivistischen Lehr- und Lerntheorie und der konstruktivistischen Konzeptionalisierung didaktischer Arrangements ein kurzer Einblick in die konstruktivistische Anthropologie und Subjektmodellierung ermöglicht werden, welche den konstruktivistischen pädagogischen Konzeptionen als orientierende Bezugspunkte dienen.
Reinhard Keßler (Jahrgang 1980) lebt und arbeitet in Münster (Westf.). Dem Studium der Germanistik und Erziehungswissenschaften folgte der Berufseinstieg als Studienrat an einem Gymnasium im Münsterland.
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