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- Postmoderne Genialität – zum Scheitern verurteilt? Die verkannten Genies der Romane „Das Parfum“ und „Schlafes Bruder“
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Verlag:
disserta Verlag
Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH
Hermannstal 119 k, D-22119 Hamburg
E-Mail: info@diplomica.de
Erscheinungsdatum: 01.2015
AuflagenNr.: 1
Seiten: 152
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback
Der Geniegedanke ist Thema aller Jahrhunderte gewesen. Wie aber gestaltet sich die Geniekonzeption in der Postmoderne? Dieser Frage soll am Beispiel der beiden Protagonisten Jean-Baptiste Grenouille und Elias Alder aus den Romanen Das Parfum und Schlafes Bruder nachgegangen werden. Beide sind anders als gewöhnliche Genies – ihre Genialität bleibt weitgehend unentdeckt oder gerät schnell in Vergessenheit. Trotz oder gerade wegen ihrer Spezialbegabung sind sie gesellschaftliche Außenseiter und weisen eine generelle Lebensunfähigkeit auf. In diesem Zusammenhang sind ihr gestörter Bezug zu existentiellen Themen wie Liebe und Tod, Gott und Religion wie auch die ihnen eigene Disposition zu Krankheit und Irrsinn spannende Untersuchungsfelder. Darüber hinaus bietet sich eine Analyse von Analogien zu bekannten Künstler- und Geniedarstellungen der Vergangenheit an, welche in beiden Romanen teilweise spielerisch bis parodistisch desillusioniert werden.
Textprobe: Kapitel C. 2, Postmodernes Liebesleid: Obwohl beide Protagonisten sie niemals erfahren durften, ist die Liebe sowohl in Schlafes Bruder als auch im Parfum ein zentrales Thema, auch wenn sie hinsichtlich Elias Alder zwingender ist und offensichtlicher die Handlung dominiert. Elias hegt scheinbar eine eher typisch romantische Liebesvorstellung, der er sich mit ganzer Kraft widmet, weshalb er letztlich – aber nicht nur – an seinem eigenen Absolutheitsanspruch verzweifeln muss. Hingegen besitzt Grenouille eine befremdliche, nämlich objektbezogene Idee von Liebe, die ebenfalls zum Scheitern verurteilt ist. Weil er zudem eine extreme Ichbezogenheit aufweist, wird darüber hinaus seine Wertschätzung der eigenen Person nachvollzogen. In beiden Fällen jedoch trägt der Aspekt der Liebe zur Prägung der Figuren wie auch ihrer genialen Begabung bei, auch wenn sie letztendlich ohne Erfüllung bleiben muss. 2.1, Grenouilles Sehnsucht nach Liebe: 2.1.1, Duftverzauberung: Bereits bei seiner Geburt entscheidet sich Grenouille nach Ansicht des Erzählers durch seinen ‘reiflich erwogene[n] Schrei […] gegen die Liebe’ (P, 28) zumindest muss das postmoderne Genie lange Zeit auf die Liebe der Menschen verzichten – und selbst als diese aufkommt, scheint der Begriff Liebe in diesem Kontext äußerst fragwürdig angewandt bzw. den Gegebenheiten nicht recht angemessen. Grenouilles Kindheit ist geprägt von völliger Lieblosigkeit. Zuneigung und Wohlwollen darf er nicht erfahren, doch dem Anschein nach akzeptiert er diese Entbehrungen um des Lebens willen, wie der Erzähler meint: Für seine Seele brauchte er nichts. Geborgenheit, Zuwendung, Zärtlichkeit, Liebe – oder wie die ganzen Dinge hießen, deren ein Kind angeblich bedurfte – waren dem Kinde Grenouille völlig entbehrlich. Vielmehr, so scheint uns, hatte er sie sich selbst entbehrlich gemacht, um überhaupt leben zu können, von Anfang an (P, 28). Innerlich ‘verkapselt’ er sich wie ein ‘Zeck’ (P, 29), verschließt sich vor der äußeren Welt, wird resistent gegen jegliche Form von Grausamkeit, sei sie physisch oder psychisch, und orientiert sich allein an seinem olfaktorischen inneren Reich (vgl. P, 34f). Mit fünfzehn Jahren, also in der Phase, die bei Normalsterblichen für gewöhnlich als Pubertät angesetzt wird, begegnet Grenouille dem ‘Kompaß für sein künftiges Leben’ (P, 57), dem Duft des Mirabellenmädchens, der ihn völlig in den Bann zieht (vgl. P, 52), ihn willenlos macht (vgl. P, 53) und gar sein Herz quält (vgl. P, 50), das derart niemals zuvor in Anspruch genommen wurde. Die deutlichen Anzeichen einer Verliebtheit werden hier geschildert: ihm wird ‘fast schlecht vor Aufregung’ (P, 51), ‘sein Herz pochte’ infolge seiner ‘erregte[n] Hilflosigkeit vor der Gegenwart dieses Geruches’ (P, 52) und er meint, ‘nie so etwas Schönes gerochen’ (P, 54) zu haben. Grenouille spürt, dass er sich diesen Geruch aneignen muss, weil er ‘der Schlüssel zur Ordnung aller anderen Düfte’ (P, 50) ist. Er will ihn nicht allein aus der für ihn charakteristischen Gier, ‘nicht um des schieren Besitzes, sondern um der Ruhe seines Herzens willen’ (P, 51). Der Geruch ist ‘das höhere Prinzip’, ‘die reine Schönheit’ ohne seinen ‘Besitz’ hat Grenouilles ‘Leben keinen Sinn mehr’, weshalb er ihn sich ‘ins Kuddelmuddel seiner schwarzen Seele pressen’ (P, 55) will. Während er den Duft des Mädchens förmlich in sich einsaugt, überkommt ihn ein unbeherrschter, gieriger Trieb und so erwürgt er es ohne jeden Skrupel. Die folgende Schilderung erinnert an eine Vergewaltigung ohne jedoch den Akt der sexuellen Vereinigung: Als sie tot war, legte er sie auf den Boden […], riß ihr Kleid auf […]. Er stürzte sein Gesicht auf ihre Haut und fuhr mit weitgeblähten Nüstern von ihrem Bauch zur Brust, zum Hals, in ihr Gesicht und durch die Haare und zurück zum Bauch, hinab an ihr Geschlecht, an ihre Schenkel, an ihre weißen Beine. Er roch sie ab vom Kopf bis an die Zehen, er sammelte die letzten Reste ihres Dufts am Kinn, im Nabel und in den Falten ihrer Armbeuge. Als er sie welkgerochen hatte, blieb er noch eine Weile neben ihr hocken, um sich zu versammeln, denn er war übervoll von ihr (P, 56). Demnach lässt sich Grenouille definitiv nicht als asexuelles Wesen interpretieren, vielmehr liegt eine pervertierte Form von Sexualität vor, die jenseits aller Norm steht, indem sie nicht körperlich, sondern olfaktorisch stattfindet. Freudenthal beruft sich diesbezüglich gar auf Freud und meint, dass ‘Grenouilles Psyche menschenanalog auf einer ausdifferenzierten Sexualität basiert’, aber ‘statt phallozentrisch wird sie hier – durchaus als Ironie gedacht – nasozentrisch verortet’. Das Aussehen des Mädchens ist ihm gleichgültig, er nimmt es kaum wahr und hat es bald ganz vergessen, einzig ‘das Prinzip ihres Dufts’ (P, 60) ist entscheidend und wird für die Ewigkeit in seinem Geruchsgedächtnis bewahrt. Dennoch steht Wohlgeruch offensichtlich auch in enger Verbindung mit äußerlicher Wohlgestalt, da alle weiteren Opfer ebenfalls ‘von ausgesuchter Schönheit’ (P, 258) sind. Die Aneignung, die Inbesitznahme des Duftes erfüllt Grenouille zum ersten Mal mit Glücksgefühlen, übermittelt ihm das Prinzip für Schönheit und beendet seine animalische Existenz (vgl. P, 57) damit impliziert der ‘Initiationsmord’ auch die Erkenntnis, ‘daß sein Leben Sinn und Zweck und Ziel und höhere Bestimmung habe: nämlich keine geringere, als die Welt der Düfte zu revolutionieren’ (P, 57). Ähnlich verhält sich Grenouilles zufällige Begegnung mit dem Duft Laure Richis, der per ‘Geruchsattacke’ (P, 215) Jahre später seine Nase dirigiert (vgl. P, 214). Laure ist ein blutjunges Mädchen, bei dem gerade ein Ansatz von Geschlechtsreife vorhanden ist. Deshalb sind offenbar Unschuldigkeit und Kindlichkeit zu seinen Auswahlkriterien des Begehrens zu zählen (vgl. P, 216), welches dadurch eine höchst anstößige Note erhält. Erneut werden zahlreiche Symptome jungenhaften Verliebtseins und Erregtheit erkennbar: ‘das Blut stieg ihm zu Kopfe’, völlige Hilflosigkeit durchfährt ihn, ‘Tränen der Glückseligkeit’ (P, 215) überkommen ihn, ‘Leidenschaft’ (P, 219) erfasst ihn. Wieder möchte er diesen Duft besitzen, aber nicht ‘auf so vergebliche, täppische Weise’ wie beim Mirabellenmädchen, deren Duft ‘er nur in sich hineingesoffen und damit zerstört’ (P, 218) hat. Er weiß, dass er seine Gier bezwingen muss, bis Laure bzw. ihr Duft gereift ist. In der Zwischenzeit will er seine technischen Fertigkeiten perfektionieren (vgl. P, 219) und ‘die Duftgewinnung diesmal mit äußerster Umsicht’ betreiben. Reisner verweist darauf, dass für die Zeit seines Wartens oftmals die ‘Sprache der Brautwerbung’ verwendet wird: der hier offensichtlich allwissende Erzähler spricht u. a. vom ‘Glücksgefühl des Liebhabers, der seine Angebetete von fern belauscht oder beobachtet und weiß, er wird sie heimholen übers Jahr’ (P, 241f), vom ‘Verlöbnis’, von einem ‘seinem künftigen Duft gegebenen Treueversprechen’ (P, 242) und von Grenouilles nächtlicher Liebkosung vermittels seines Erinnerungsvermögens (vgl. P, 242). Tatsächlich scheint Grenouille tiefe Liebe und Leidenschaft zu diesem Geruch zu empfinden (vgl. P, 242), doch auf Grund seiner abnormen Veranlagung und der nicht erfahrenen Zuneigung anderer wirkt die Schilderung seines Verhaltens und Denkens vielmehr wie die eines besonders gewieften, methodisch vorgehenden und deshalb ausnehmend perversen Triebtäters, der sich zunächst in seinem Begehren zügelt und mit stoischer Ruhe auf sein Opfer lauert: Ein Jahr noch, nur noch ein Jahr, nur noch zwölf Monate, dann würde diese Quelle überborden, und er könnte kommen, sie zu fassen und den wilden Ausstoß ihres Duftes einzufangen. (P, 241). Seine Liebe ist nur objektbezogen, auf ganz besondere Düfte ausgerichtet zeitlebens wird er ohne ein personales Du auskommen müssen und zu Menschen keine Liebe entwickeln können. Wie jeder Mensch verspürt auch Grenouille Verlustängste – nur grotesker Weise hinsichtlich eines Duftes, von dem er weiß, dass er realiter irgendwann ‘aufgebraucht sein wird’ (P, 243). Er zweifelt, ob er dieses Verlieren – ‘wie ein langsames Sterben’ (P, 243) – in Kauf nehmen soll. Hierin gleicht er jenen Menschen, die Angst haben, sich auf jemand anderen einzulassen, weil sie schon im Vorfeld das Ende der Beziehung fürchten. Doch Grenouille entscheidet sich für den schmerzlichen Verlust, will ihn allerdings möglichst lange hinauszögern. Um den Duft länger zu konservieren, braucht es ‘Ingredienzen’ (P, 246), Düfte ‘gewisser Menschen: jener äußerst seltenen […], die Liebe inspirieren’ (P, 240). Die vierundzwanzig weiteren Opfer, neben dem Mirabellenmädchen und der später folgenden Laure, sind allesamt ‘von exquisiter Schönheit’, ‘blutjung’ (P, 247), jungfräulich, ‘solche, die gerade erst begonnen hatten, Frauen zu sein’ (P, 250). Stets sind die Leichen ‘nackt und geschoren’ (P, 249), das Haar geraubt, was der Beschreibung nach an einen abartigen, verrückten Triebverbrecher erinnert, doch bleiben sie unberührt, was dem Sexualmord auf erstem Blick widerspricht. Wird Grenouilles Duftbesessenheit jedoch als sexuelle Abnormität gewertet, so wäre die Parallele, nur auf anderer Ebene, wieder hergestellt. Zudem werden für die Darstellung der Jungfrauenopfer ‘alle Spielarten der seit der Romantik gängigen Blumentopik’ verwendet, weshalb Frizen und Spancken präzise schlussfolgern: ‘Frau und Blume sind identisch: beide dienen als Material zur Herstellung von Parfum’. Wie Liebrand darüber hinaus richtig deutet, ist es Grenouilles einzige Absicht, ‘die Blumenfrauen nicht zu deflorieren, sondern zu ‚enfleurieren’, ihnen ihren Duft zu rauben’. Mädchen wie Blüten sind nur als ‘Geruchsträger’ relevant, sie werden ‘welkgerochen’ (P, 56). Auch am Tag des geplanten Mordes an Laure wird eine Blumenmetaphorik verwendet, als Grenouille zu seinem furchtbaren Entsetzen feststellen muss, dass scheinbar jemand anderes ‘[s]eine Blume abgerupft und ihren Duft an sich gebracht’ (P, 268) hat. Das übergroße Verlustgefühl zeitigt ungeahnte Emotionen: Einen Schrei brachte er nicht heraus, dazu war seine Erschütterung zu groß, aber zu Tränen reichte es, die in seinen Augenwinkeln schwollen und plötzlich beiderseits der Nase herabstürzten (268f). Als er merkt, dass er sich in seinem Verdacht getäuscht hat, setzt er alles daran, seinen Duft wiederzugewinnen und ihn endgültig an sich zu bringen. Mit ‘Konzentration und Eile’ wendet er die kalte Enfleurage auf sein Geruchsopfer an, sein Begehren kann er problemlos unterdrücken (vgl. P, 275). Sein ‘begleitendes, sinnvolles, gewissermaßen […] tätiges Warten’ erfüllt ihn mit großer Glückseligkeit. Er fühlt sich dabei ‘so eins und einig mit sich selbst’ (P, 277) und erlebt die ‘einzigen Momente, da sich in seinem düsteren Hirn fast heitere Gedanken bildeten’ (P, 278). Das Mädchen, ‘tot, abgewelkt, blaß und schlaff wie Blütenabfall’ (P, 280), ist ihm völlig gleichgültig körperlich existiert Laure für ihn nicht mehr, hat er sie doch äußerlich überhaupt kaum wahrgenommen. Alles, was er wollte, besitzt er nun: den immateriellen Duft, losgelöst von seinem Trägerobjekt. Degler wertet die Darstellung von Grenouilles Vorgehen in seinem Liebesverlangen als zitierend und ironisierend, indem hierin eine ‘(Re-)Konstruktion bürgerliche[r] Liebesideale eines kontrollierten Begehrens der Frau als Belohnung für ökonomische Anstrengungen’ vorliegt, wobei die Leidenschaft des Protagonisten aber ‘gerade nicht auf die Frau als Subjekt, sondern nur auf ihre ideale Aura’ abzielt. Für Degler stellt Grenouille darin die ‘rationalisierte Variante des romantischen Helden’ dar. So weist die Skizzierung des postmodernen Genies in amourösen Angelegenheiten verschiedene Konzepte auf und vereint sie bruchstückhaft miteinander – beispielsweise den anbetenden, romantischen Liebenden mit dem geisteskrank berechnenden Duft-Triebtäter.
Christin Borgmeier wurde 1980 in Minden geboren. Nach ihrem Lehramts-Studium an den Universitäten Oldenburg und Bielefeld, Examen 2006, und absolvierten Referendariat ist sie als Lehrerin für die Fächer Deutsch und Ev. Religion an einem Gymnasium im Kreis Minden-Lübbecke tätig. Sie ist verheiratet und hat ein Kind.
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