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Kunst & Kultur

Andreas Reithofer

Pilgertourismus an der Via Sacra: Eine Chance für die regionale Entwicklung?

Pilgerwege als touristische Modellprojekte für eine nachhaltige Regionalentwicklung

ISBN: 978-3-8366-7358-7

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Produktart: Buch
Verlag:
Diplomica Verlag
Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH
Hermannstal 119 k, D-22119 Hamburg
E-Mail: info@diplomica.de
Erscheinungsdatum: 04.2009
AuflagenNr.: 1
Seiten: 178
Abb.: 53
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback

Inhalt

Die Einfachheit, die Langsamkeit und die Einsamkeit üben in einer materiell übersättigten, aber oberflächlichen und unter notorischer Zeitknappheit leidenden Lebensumwelt eine starke Anziehung aus. Der Pilger, der auf dem Rücken das trägt, was er tragen kann und will, wird durch die Reduktion beschenkt. Er begibt sich dafür in eine Auszeit, in der er nicht produzieren muss: keine Worte, keine Projekte, keine Leistung. Die Grenzen zwischen Wall- und Pilgerfahrt auf der einen Seite und jener zwischen Pilgern und Touristen auf der anderen Seite verschwimmen dabei oft, im Unterschied zum Tourismus im herkömmlichen Sinn dient diese Auszeit jedoch nicht der reinen Erholung oder dem Vergnügen, sondern der Weiterentwicklung des eigenen Ichs. Im Unterschied zu den Bitt-, Dank- und Strafwallfahrten des Mittelalters, bei denen auch der Reliquienkult eine gewichtige Rolle spielte, aber auch zu den Pilgerreisen während der ersten Jahrhunderte nach Christus, die einerseits der persönlichen Überzeugung über die Zuverlässigkeit der biblischen Quellen dienten und andererseits das Ideal der asketischen Heimatlosigkeit verkörperten, basiert der Pilgertourismus als eine spezielle Ausprägung dieses postmodernen pirituellen Tourismus somit auf gänzlich anderen Ausgangsbedingungen: Die Pilgerschaft ist nicht Ausdruck des Glaubens, sondern dient der Suche nach diesem. Es ist die uralte Frage nach dem Sinn, nach dem woher und dem wohin, die sich umso mehr aufdrängt, als die Gesellschaft ihren Puls beschleunigt, die viele Menschen unter verändertem Vorzeichen (mit dem Weg als eigentlichem Ziel) alte Wege neu entdecken lässt. Als Geburtshelfer fungiert hierbei wiederum eine weitgehend säkularisierte und pluralistische Gesellschaft, deren konsum- und leistungsorientierte Grundhaltung ein Defizit an allgemein gültigen Werten und Glaubenssätzen mit sich bringt. Der einzelne Mensch ist auf der Suche nach sich selbst, und wählt dabei aus dem 'Markt an Sinnangeboten' das für sich attraktivste Angebot aus. Tatsächlich erfährt das Phänomen des 'Pilgertourismus' nun schon seit einigen Jahren mit dem Flagschiff und medienwirksamen Zugpferd des spanischen Jakobswegs eine langsam, aber stetig wachsende Bedeutung sowohl in der Tourismuswirtschaft als auch in der Regionalentwicklung. So auch im Falle eines traditionsreichen österreichischen Wallfahrerwegs, der 'Via Sacra' von Wien zum Marienwallfahrtsort Mariazell. Anhand dieses konkreten touristischen Modellprojekts wird dessen Eignung, zur nachhaltigen Entwicklung einer ganzen Region beizutragen, untersucht.

Leseprobe

Textprobe: Kapitel 2.4.3.2, Pilgern in der Postmoderne: ‘Nachdem die großen, welterklärenden Erzählungen, wie beispielsweise die sozialistische Doktrin oder auch verbindliche Glaubensnormen, ihre Gültigkeit verloren zu haben scheinen, findet sich der postmoderne Mensch in einer Gesellschaft vor, in der alle Lebensanschauungen gleiche Gültigkeit haben (..) (und) kein Rekurs mehr auf die großen Erzählungen möglich ist, denn das Individuum zweifelt an der Gültigkeit der Metaerzählungen. Dort also, wo die Sicht auf das ganze aufhört und radikale Pluralität um sich greift, beginnt die Postmoderne.’ Wenn die sog. Postmoderne gekennzeichnet ist durch Pluralität, Mobilität, Flexibilität, Individualismus und Multioptionalität, so bedeutet dies einen radikalen Bedeutungsverlust traditioneller Institutionen (wie Kirche und Staat), Werte und Normen für jeden einzelnen. An deren Stelle treten Subkulturen (die sog. tribe-culture) mit jeweils eigenen, in sich stringenten Weltanschauungen mit dem Charakter einer Ersatzreligion. Dies kann eine Firmenphilosophie sein, eine bestimmte Jugendkultur mit ihren Codes und Werten, eine fundamentalistische religiöse Gruppierung oder eine Antiglobalisierungsbewegung. Sie füllen das entstandene Vakuum mit Sinn, Werten, Normen und Helden sie bilden einen neuen Rahmen, in dem sich die Welt in ihrer Unüberschaubarkeit plötzlich klar und übersichtlich darstellt: ‘Dort, wo der Mensch immer mehr den Überblick über sein Leben verliert, wo sich die Individualisierung als Vereinsamung erweist und wo er nicht mehr mit der Hochgeschwindigkeit der ihn umgebenden Realität mithalten kann, sucht er nach einem sinnstiftenden System’. Dabei kann dieses sinnstiftende System auf etwas ursprünglich profanes übergehen (‘Weihe des Profanen’), transponiert werden. Gleichzeitig ist der Wandel von der ‚Traditionsgesellschaft’ zur ‚Optionsgesellschaft’ mit einem ‚Optionsstress’ verbunden. Nach der Individualisierung bleiben viele im wahrsten Sinne des Wortes auf sich allein gestellt und suchen deshalb Anschluss in einer Gemeinschaft. Jedoch bietet der Pluralismus der heutigen Zeit derart viele Handlungsoptionen, dass die Hauptschwierigkeit der Individuen darin besteht, sich für eine zu entscheiden. Diesem Entscheidungszwang folgt ein Begründungszwang. Hat sich der Einzelne auf eine Option eingelassen, sucht er sogleich nach einer Bestätigung um diese zu rechtfertigen. Hinter all dem stehen eine Vergewisserungssehnsucht und die Frage nach einem tieferen Sinn. Woher komme ich? Wovor fliehe ich? Welche Richtung nimmt mein Lauf? Was oder wer wartet am Ziel auf mich? Die Frage nach dem Sinn, der ständige ‚Optionsstress’, der Zwang zu Flexibilität, Mobilität und Geschwindigkeit sowie der Verlust universell gültiger Deutungsrahmen führen uns zum Pilgern. Die Einfachheit, die Langsamkeit und die Einsamkeit üben in einer materiell übersättigten Welt eine starke Anziehung aus. Der Pilger, der auf dem Rücken das trägt, was er tragen kann und will, wird durch die Reduktion ‘beschenkt’. Aus rasanten Zeitabläufen und einengenden Terminplänen bricht der Pilger auf und macht sich zu Fuß auf den Weg. Für die Dauer von Tagen und Wochen begibt sich der Pilger in eine Auszeit, in der er nicht produzieren muss: keine Worte, keine Projekte, keine Leistung. Materielle Übersättigung, Sich-Getrieben-Fühlen durch Geschwindigkeit (‘wir wissen zwar nicht wohin, dafür sind wir schneller dort’), Leistung (‘Ich-AG’), Multioptionalität und die Sinnleere des Materialismus (‘wer Visionen hat, braucht einen Arzt’ – berühmter Ausspruch von Ex-Bundeskanzler Franz Vranitzky) führen also auf der anderen Seite zu einer Sehnsucht nach Einfachheit, Überschaubarkeit, Langsamkeit kurzum einer ‘Auszeit von der Postmoderne’. Man könnte sagen: Willkommen beim Pilgern. Gleichzeitig bedeutet das allerdings eine radikale Abkehr von den historisch-religiösen Motiven für eine Pilgerschaft. Im Vordergrund steht nicht die Bitte um Vergebung, der Dank für widerfahrenes Glück, die Huldigung eines Votivbilds oder die Anrufung der Gottesmutter Maria, sondern die Suche nach einem oft abstrahierten Gott (‘etwas höherem’), dem eigenen Ich, dem Weg zur geistigen Öffnung und Weiterentwicklung, nach dem Transzendenten. Flow-Erlebnis und Authentizität: ‘Flow’ und ‘Authentizität’ sind zwei populäre Begriffe in der Tourismusforschung, die ich beim Pilgern in besonderem Maße verorte. Der Begriff des ‘Flow’ (oder Negentropie) geht auf den Psychologen Mihaly CSIKSZENTMIHALYI zurück, der in einer Studie von 200 Tiefeninterviews die Motivation von sog. autotelischen (auto: selbst telis: Ziel) Tätigkeiten untersuchte. Die Probanden führten diese Aktivitäten scheinbar um ihrer selbst Willen durch ohne besondere Belohung durch außen, wie Geld oder Ansehen: Kletterer, Basketballer, Schachspieler, Chirurgen, Komponisten, Tänzer usw. Das Ergebnis war die Formulierung der Flow-Theorie, eines Modells der Freude am Tun. Im Zustand des Flows stehen alle Inhalte des Bewusstseins zueinander und zu den Zielen, die das Selbst der Person definieren, in Harmonie. Der Handelnde ist bei dieser genussbringenden Tätigkeit stark konzentriert, geht völlig auf in seinem Tun. Banale Sorgen und Probleme werden vergessen, das Zeitgefühl verschwindet oder verändert sich. Denken und Tun verschmelzen zu einer Einheit, man befindet sich in einem Gleichgewicht zwischen Anforderung und Können. Man taucht gewissermaßen ein in den Handlungsprozess, die Handlung ist ‘im Fluss’. In diesem Zustand vergisst der Ausführende sich selbst und seine Umwelt im Tun. Dieses völlige Aufgehen im Tun kann zur Erfahrung von Transzendenz führen. Man erlebt Momente der Erfüllung und des höchsten Glücks. Religiöse, metaphysische und ekstatische Gefühle überwältigen den Handelnden. Das kann für einen passionierten Bergsteiger das Erreichen des Gipfels, für einen Kletterer der gelungene Durchstieg einer schwierigen Passage, oder für einen Pilger das Ankommen am Ziel sein. Flow ist nur im Gleichgewichtszustand zwischen Anforderung und Können möglich. Zu den typischen Flow-Tätigkeiten zählen Sport und Spiel, die Entdeckung von Neuem und die Bewegung als solche, sofern sie durch einen selbst kontrolliert und ausgeführt wird. Auch beim Pilgern zu Fuß oder mit dem Fahrrad befindet sich die Bewegung im Fluss, und wird von einem selbst kontrolliert und ausgeführt. Das gemächliche Durchschreiten unterschiedlicher Landschaften kann die Gedanken bündeln und im aktuellen Tun vereinen, man gerät in einen Flowzustand. Authentizität meint im Allgemeinen die Echtheit von Erfahrungen und Erlebnissen. Der Soziologe Erving GOFFMAN benutzte ihn in seiner 1959 publizierten Untersuchung zur Eindruckssteuerung in alltäglichen Interaktionen zwischen Menschen. Dabei unterscheidet er zwischen ‘Vorderbühne’ und ‘Hinterbühne’: Während der Darsteller bemüht ist, seinem Publikum einen authentischen Eindruck zu vermitteln, achtet er gleichzeitig darauf, dass die Hinterbühne dem Adressaten verborgen bleibt. Dieser hingegen ist stets bemüht, die Präsentation auf der Vorderbühne auf ihre Echtheit zu überprüfen und einen Blick hinter die Fassaden zu erhaschen. Dean MacCANNEL übertrug dieses Konzept auf den Tourismus. Der Tourist ist demnach auf den besuchten Orten und Sehenswürdigkeiten, bei den mitgebrachten Souvenirs, den dargebotenen Tänzen sowie der Lebensweise der ansässigen Bevölkerung (und damit auch während der Interaktion zwischen Bevölkerung und Touristen) von einem unstillbaren Verlangen nach Authentizität getrieben. Die Suche des Touristen nach authentischen Erfahrungen vergleicht MacCANNEL mit dem nach Erlösung suchenden Pilger und sieht den Tourismus gleichsam als modernes Equivalent der Pilgerfahrt. Die Analogien sieht er in der Bewegung von einer Bühne zur nächsten, innerhalb derer drei Übergangsriten vollzogen werden: Erstens die Trennung von der gewohnten Umgebung und dem sozialen Umfeld, zweitens die Situation der Antistruktur mit einem veränderten Raum und Zeitempfinden, in dem das Besondere / Übernatürliche erwartet wird, und drittens die Rückkehr und Wiedereingliederung in die Herkunftsgruppe, jedoch auf einem höheren sozialen Status.

Über den Autor

Andreas Reithofer, Diplom-Geograph, Studium der theoretischen und angewandten Geographie an der Universität Wien. Abschluss 2008 als Magister der Naturwissenschaften. Zuletzt tätig im Bereich Trend- und Zukunftsforschung.

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