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Verlag:
Diplomica Verlag
Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH
Hermannstal 119 k, D-22119 Hamburg
E-Mail: info@diplomica.de
Erscheinungsdatum: 06.2008
AuflagenNr.: 1
Seiten: 162
Abb.: 7
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback
Das Mittelalter scheint heute allgegenwärtig. Sei es unter dem Begriff 'Lebendige Geschichte', 'Reenactment', 'Kultur', oder schlicht neudeutsch 'Event' - die Angebote, sich dem Mittelalter zu nähern sind zahlreicher denn je. Und während sich die einen Holzhäuser im Museumspark für lebendige Geschichtsdarstellung bauen und dort ihre Wochenenden als Hexen, Bildhauer, Seifensieder, Schmied oder Seiler verbringen, holen sich andere blaue Flecken beim Versuch neue Abwehrtechniken beim Bühnenkampf mit dem Schwert zu erlernen. Wiederum andere genießen einfach die Atmosphäre eines mittelalterlichen Marktes und tauschen in der Taverne oder an der Schenke ihre Silberlinge gegen einen Humpen Met oder Gerstensaft. Seit den ersten Versuchen Ende der Siebziger Jahre das Mittelalter darzustellen, als man noch auf Ballettausstatter angewiesen war, um sich in mühevoller Handarbeit die passenden Beinkleider für die Darstellung eines mittelalterlichen Spielmanns zusammenzunähen, hat sich im Laufe der Jahre eine wahre Industrie entwickelt, die von mittelalterlichen Gewändern, über Waffen, bis hin zu Ritterrüstungen nahezu alles anbietet, was auch nur im Entferntesten mit dem Mittelalter zu tun hat. Mit der Entstehung der Mittelalter-Szene Ende der Siebziger Jahre ist parallel eine Musik-Szene herangewachsen, die heute zu den stilistisch am breitesten gefächerten Musik-Szenen gehört. Die Musik der Mittelalter-Szene entwickelte sich von den eher folkloristisch geprägten Versuchen mittelalterliche Texte akustisch zu vertonen, über die Wiedergabe mittelalterlicher Musikstücke auf historischen Instrumenten, bis hin zur Generierung völlig eigener Stile mit E-Gitarren, Synthesizern und Schlagzeug. Die Musik der Mittelalter-Szene ist im Laufe der Jahre über die Grenzen der Mittelaltermärkte hinaus mittlerweile auch sehr erfolgreich in den CD-Verkaufscharts angekommen. In dieser Studie soll der Frage nachgegangen werden, was die Musik der Mittelalter-Szene ausmacht, wie eng sie an die Mittelalter-Szene geknüpft ist und welche Formen und Facetten sie von ihren Anfängen bis heute angenommen hat. Welche Stilrichtungen sind in der Musik der Mittelalter-Szene vertreten, welches Repertoire wird verwendet, wie werden mittelalterliche Originale bearbeitet, welche Verbindungen gibt es zu anderen Musik-Szenen und gibt es gegenseitige Beeinflussungen? Zur Klärung dieser Fragen wurde die vorliegende Studie aus einem Mix von drei Methoden konstruiert, angefangen von der literarischen Forschung, also das Sammeln und Auswerten von Literatur, sowie Zeitschriften, Internetseiten und CDs, über Interviews mit Bands aus der Szene, bis hin zur Auswertung einer eigens erstellten Musikdatenbank, bestehend aus knapp 400 aktuellen Musiktiteln aus der Mittelalter-Szene.
Kapitel 3.1.5, Spielmann vs. moderner Urheber: Die bisherigen Kapitel haben deutlich gemacht, dass die Musik der Mittelalter-Szene nicht dem musikwissenschaftlichen Terminus der mittelalterlichen Musik gerecht wird. Im Kapitel über die Mittelaltermärkte wurde unter anderem an den Aussagen und Werbetexten der Veranstalter deutlich, dass diese ebenfalls keinen Anspruch auf historische Korrektheit erheben. Diesen Anspruch erheben auch so gut wie keine der Szene-typischen Bands, wie sich auch in den Interviews gezeigt hat. Diese Tatsache soll an dieser Stelle nicht als Ausgangspunkt einer Kritik oder einer Wertung gesehen werden. Viel mehr knüpft dieses Kapitel daran an, dass die Musiker sich dennoch als Teil einer mittelalterlichen Szene sehen, und dass es durchaus andere Ansätze und Anleihen an der mittelalterlichen Spielmannsmusik innerhalb der Musik der Mittelalter-Szene gibt. Für viele moderne Spielleute dient der historische Spielmann nicht aus musikalischer Hinsicht als Vorbild, sondern in seiner kultursoziologischen Funktion innerhalb der Gesellschaft und durch seine dort erzeugte Wirkung. Walter Benjamin betonte, dass sich innerhalb großer geschichtlicher Zeiträume die Sinneswahrnehmungen der Menschen verändern, deshalb kann analog dazu, der Versuch, die Musik des Spielmanns zu rekonstruieren, von vornherein als zum Scheitern verurteilt angesehen werden, da die Kunst (bzw. in diesem Falle die Musik) stets unmittelbar verknüpft ist mit der Geschichte und der Struktur einer Gesellschaft. Benjamin sieht das Kunstwerk eingebettet in den Zusammenhang der Tradition, die wiederum außerordentlich wandelbar ist. Mit Hilfe dieser Argumentation scheint der konzeptionelle Ansatz von Bands wie Saltatio Mortis daher konsequent und logisch, den Spielmann vor allem in seiner Wirkung zu betrachten, und diese auf die heutige Zeit zu übertragen (Zitat aus dem Interview mit Saltatio Mortis: Wir versuchen die Aussage der Musik zu treffen. Wenn Du liest, dass Spielleute in die Stadt kommen mit donnerlauten Säcken und Trommeln, dass es einem das Ohrenfell zerreißt, dann ist es das, was wir machen. ). Dass der mittelalterliche Spielmann dabei häufig als Stereotyp für die gesamte weltliche Musik des Mittelalters herhalten muss, zeigt sich u.a. an dem Umgang mit Minne- oder geistlichen Liedern. So findet eines der populärsten mittelalterlichen Stücke der Szene, das Palästinalied, genauso seinen Platz auf dem Mittelaltermarkt wie Stella splendens, obwohl diese Stücke freilich alles andere als die Musik der Spielleute darstellen. Harald Peinzke, ehemaliges Mitglied der Gruppe Kurtzweyl, schildert die Anfangsjahre der Mittelalter-Szene unter anderem wie folgt: Holländische, flämische, französische und deutsche Spielleute musizierten gemeinsam, und tauschten das noch spärlich vorhandene Repertoire aus. Damit ist bereits in den frühen Jahren der Szene fortgeführt worden, was unter musikwissenschaftlicher Betrachtung als mündliche Überlieferungskultur mittelalterlicher Spielleute bezeichnet werden kann. Die Weitergabe, der Austausch und die Bearbeitung von Melodien, sind wesentliche Aspekte der modernen Spielleute, die zur Bildung eines mittelalterlichen Repertoires geführt haben. Anders ist es z.B. nicht zu erklären, warum dieses Repertoire, das viele Bands beherrschen so relativ klein ist, verglichen mit den vorhandenen Handschriften und Übersetzungen. Als Beispiel seien an dieser Stelle nur die über 400 Stücke der berühmten Cantigas de Santa Maria genannt, oder die nicht minder berühmte Carmina Burana, aus denen jeweils nur einige wenige rezipiert werden. Zudem fällt auf, dass es wenig neue Bearbeitungen in das Repertoire der Szene schaffen, womit die These gestützt wird, dass die Repertoirebildung mittelalterlicher Stücke innerhalb der Mittelalter-Szene im Wesentlichen abgeschlossen ist, und zudem nur von wenigen Gruppen vorangetrieben wurde. Der Austausch dieser Stücke innerhalb der Gruppen scheint stärker vorangeschritten zu sein als die Auseinandersetzung mit ‚unentdeckten‘ mittelalterlichen Originalen (u.a. zu Beobachten an den vielen ‚Coverversionen‘ der Einspielung Thomas Binkleys des Stückes Tempus est iocundum). Die Repertoirebildung ist ein Phänomen, das es in dieser Form in anderen Bereichen der Popmusik nicht gibt, denn die Weitergabe, Übernahme oder Bearbeitung vorhandener Melodien wird dort zumeist unter dem Begriff des ‚Melodieklaus‘ negativ gesehen. Die Ausnahme bilden einzelne Coverversionen zumeist älterer Titel, die jedoch nicht zu einem Repertoire zu zählen sind. Ein in dieser Hinsicht nicht zu vernachlässigender Vorteil der Mittelalter-Szene besteht freilich in der Tatsache, dass die mittelalterlichen Melodien ‚GEMA-frei‘ sind. Diese Form der Fortführung der mündlichen Kultur geschieht in der Mittelalter-Szene sowohl bewusst, als auch unbewusst (Zitat Die Streuner: Die Stücke kommen zu einem irgendwie. ). Während viele Musiker diese Tradition als ein Teil der gesunden Kultur der Mittelalter-Szene ansehen, und das Übernehmen von Liedern beispielsweise als eine gängige und legitime Praxis ansehen, reift innerhalb der Szene durchaus auch eine Art ‚Urheberrechtsgedanke‘ heran, der bisher vor allem in der Pop-Szene häufig zu beobachten war (man denke allein an die zahlreichen Anklagen Dieter Bohlens wegen ‚Melodiediebstahls‘). Dies wurde im Interview mit der Gruppe Fabula deutlich, die diese Praxis mit dem Begriff Kopie eher negativ konnotieren und feststellen, dass dies in keiner Szene schlimmer sei. Dieser neuerliche Urheberrechtsgedanke scheint vor allem dadurch begründet, dass die bearbeiteten mittelalterlichen Originale immer häufiger einer Mehrfachzuschreibung unterliegen. Tanja Weiß belegt dies am Beispiel des Palästinalieds, das auf dem Album Weckt die Toten von In Extremo, der Band, und nicht Walther von der Vogelweide zugesprochen wird. Sowohl auf deren Webseite, in Musikzeitschriften und in den Charts wird dieses Lied zum Lied In Extremos, obwohl sie nicht der eigentliche Urheber sind. Ob dieser allmähliche Wandel der Zuschreibungen von Stücken einen Einfluss hat auf die neuere Repertoirebildung mittelalterlicher Stücke, kann hier nicht analysiert werden. Es ist jedoch anzunehmen, dass die Repertoirebildung gebremst wird aufgrund von ‚Beanspruchungen‘ von Titeln einzelner Musikgruppen. Als Beispiel sei an dieser Stelle der Streit zwischen Die Streuner und der Folkgruppe Sangesfolk genannt, denen vorgeworfen wird das Copyright für das Stück Wilde Gesellen zu verletzen, obwohl dieses Stück ein anonym überliefertes traditionelles Volkslied ist, und keine Eigenkomposition der Streuner darstellt.
Iwen Schmees, Abschluss des Magisterstudiums in Musik und Soziologie 2007 an der Carl von Ossiietzky Universität in Oldenburg.
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