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- Kaleidoskopisches Erzählen: Die gegenseitige Durchdringung von Fotografie und Prosa bei W.G. Sebald
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Verlag:
Diplomica Verlag
Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH
Hermannstal 119 k, D-22119 Hamburg
E-Mail: info@diplomica.de
Erscheinungsdatum: 04.2013
AuflagenNr.: 1
Seiten: 108
Abb.: 13
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback
Der beeindruckende Ton von Sebalds Prosa, die zwischen Fakt und Fiktion ebenso changiert wie zwischen fotografischem Erzählen und akribischer Geschichtsschreibung hat besonders nach dem Unfalltod des Autors im Dezember 2001 viele Menschen in seinen Bann gezogen. Den größten Verdienst daran trägt die aus dem Text entstehende Forderung an den Leser, sich als Teil einer sensiblen Erinnerungskultur persönlich angesprochen zu fühlen. Die Fiktion als Gedächtnisort erweist sich bei diesem Projekt als die der Zerbrechlichkeit des Individuums Raum gebende Form eines Erzählens, das sich auch als eine Kontemplation der Menschheitsgeschichte der Zerstörung und als ein Festhalten an der Hoffnung auf Einsicht und Umkehr versteht. Für die Entstehung dieses Impulses spielen die unübersehbaren Fotografien in Sebalds Texten eine entscheidende Rolle. Ihrem ursprünglichen Kontext entrissen und so in einen neuen Zusammenhang gestellt funktionieren sie gleichzeitig als Vektoren für Figuren und Handlung innerhalb des Gesamtwerkes und als Verknüpfungspunkte mit der außertextlichen und unbeschriebenen Welt. Sie aktivieren im Leser das persönliche Text-Bild-Gedächtnis, das für die Stiftung der Koinzidenzen durch Sebalds fiktionales Erzählen maßgeblich ist. Die vorliegende Studie beleuchtet zunächst die in der Erzählstruktur sich manifestierenden fiktionalen und fiktiven Strategien, die zur Unsicherheit über Faktizität bzw. Fiktionalität der Texte beitragen. Dabei wird das für den Autor typische geweitete und beschreibende Erzählen als eine wichtige Voraussetzung für die Aufbrechung der genannten Kategorien erkannt. Der zweite Teil der Studie beschäftigt sich zunächst mit den Eigenschaften des Mediums Fotografie und den Besonderheiten der in den Text eingewebten Fotos. Wie Sebald ihnen eine neue Relevanz als Medium der Erinnerung im literarischen Text zuweist, wird anschließend anhand einiger prägnanter Beispiele aus Austerlitz und Die Ausgewanderten erläutert.
Textprobe: Kapitel 3.2, Fiktive Strategien des Erzählens: 3.2.1, Reise und Exil bei Sebald: 'Sebalds Buch ist zu gleichen Teilen Reisebericht, lokalhistorische Forschung und eine literarische Sammlung von Merkwürdigkeiten' [...] Zu Beginn von Sebalds Erzählungen steht fast immer eine Reise, sie ist handlungsmotivierend und Voraussetzung für die Diegese. Dieses Kapitel untersucht die Bedeutung der Reisen in Sebalds Werken als eine textinterne Strategie, um Fiktivität zu erzeugen. Sebalds Texte zeichnen sich durch den Bogen einer weiten Analepse aus, die die Reise des Erzählers bzw. die Reisen der Protagonisten mit einem großen enzyklopädischen Fachwissen verwebt. Somit bildet die Erinnerung an diese Reisen den Schlüssel zum Erzählen vom Leben in der Vergangenheit. Die ganze Sebaldsche Prosa baut auf diesem Schema auf. '[Sebalds Ich-Erzähler] ist der Wanderer, der Getriebene, der Wallfahrer, der Spurensucher, der alle literarischen Bücher Sebalds bestimmt, eine zugleich diskrete und verschwiegene, aber dennoch mächtige Figur, die Sebalds Prosa mit sich und ihrer Weltsicht imprägniert. Sein Erzähler kennt zwei Gründe, eine Reise anzutreten: die Zerstreuung und die Anfertigung von Studien bzw. Niederschrift von Erlebnissen. Zunächst wird aufgezeigt, warum der Zerstreuungsversuch nahezu immer im Scheitern endet und warum diese Sinnkrise des Individuums dem fiktionalen Erzählen als Ausgangspunkt dienlich ist. Der zweite Punkt wird maßgeblich im Kapitel Erzähler und Autor: Die Erfindung des Ich analysiert, da Passagen über das Schreiben in Sebalds Erzählungen vor allem im Verwechslungsdiskurs Erzähler/Autor von Interesse sind. 3.2.2.1, Sebalds Reisen – Ortswechsel als Grundvoraussetzung der Fiktion: Eine Reise ist ein Sich-Begeben an einen anderen Ort. Viele glauben, in der Ferne sich selbst begegnen zu können – sie meinen damit, dass sie an einem anderen Ort einen neuen Blick auf die eigene Rolle in der Welt bekommen, und hoffen, nebenbei Gelassenheit zu gewinnen. Mit der eigenen Standortverschiebung sollen verborgene Zusammenhänge sichtbar werden was vorher undenkbar schien, rückt in den Bereich des Möglichen. Andererseits wird so aus dem erwachsenen Menschen, der sich auskennt und in seiner Welt gefestigt ist, auf einer Reise in unbekanntes Gebiet ein leicht zu verwirrendes, zerbrechliches Individuum: Er wird wieder zum Kind, das sich allein auf seine Sinne verlassen muss. Schritt für Schritt muss er sich seine Topografien neu entdecken. So gesehen ist die Reise das greifbare Pendant zur Fiktion, die Fiktion eine 'Reise in die Fantasie'. Die Menschen in Sebalds Büchern reisen nie in Gesellschaft das 'immer wiederholte Reisen und Wandern ist eine Art mit sich allein zu sein.' Häufig verspricht sich der Sebaldsche Erzähler nämlich eine therapeutische Wirkung von der Reise. So macht er sich in Schwindel. Gefühle. auf, 'um über eine besonders ungute Zeit hinwegzukommen' und 'nach dem Abschluß einer größeren Arbeit' will er in Die Ringe des Saturn der 'in mir sich ausbreitenden Leere' entkommen. In Die Ausgewanderten lassen ihn die in seiner Familie verschwiegenen Todesumstände seines Großonkels bzw. die Gründe für den Freitod seines Volksschullehrers nicht los. Der Ich-Erzähler in Austerlitz schließlich verreist 'teilweise zu Studienzwecken, teilweise aus anderen, mir selber nicht recht erfindlichen Gründen [...]'. So wird vom Ich-Erzähler zu Beginn jeder Erzählung ein intimer Rahmen hergestellt, in dem er dem Leser meist seine Veranlassung zur Reise erläutert. Die folgende Erzählung wird dadurch legitimiert. Der Ich-Erzähler und die reisenden Figuren begeben sich an real existierende Orte, die Reisewege sind in logischen Zusammenhängen beschrieben und teilweise bis ins kleinste Detail nachvollziehbar. Bei Sebald wird jedoch oft nur die Hinreise beschrieben sie beginnt mit der Ankunft am fremden Ort und endet mit der Flucht oder der Rückkehr ins Hotel. Nie fährt der Ich-Erzähler los, nie kommt er zu Hause an. Folgerichtig spricht Öhlschläger von einer 'Heimat- und Ortlosigkeit': Wer keinen Ort hat, wohin er zurückkehren kann, der kann auch nicht 'in die Fremde' reisen, denn die Fremde ist für den Heimatlosen überall. Der offene Schluss der Werke Sebalds korrespondiert mit dieser Feststellung und nähert den Reisebericht der Gegenwart an, er versetzt ihn stärker ins Mögliche. Der Ich-Erzähler lässt los, der Leser muss übernehmen. Nicht nur der Erzähler begibt sich auf Reisen, auch die Menschen, die er trifft, verreisen oder erzählen von Reisen anderer. So überlagern sich Orte des Erzählens mit Orten der Reise: Reiseziele werden zu Orten des Erzählens, die mit Schicksalen verknüpft werden. Eine vorab gehegte Vorstellung von der Fremde wird bei Sebald nur selten festgehalten. Wenn dies der Fall ist, so sind die Vorstellungen des Reisenden voller Hoffnungen und durchweg positiver Projektionen, wie bei Max Aurach: 'Ahnungslos, wie ich war, glaubte ich, […] ein neues, voraussetzungsloses Leben beginnen zu können, aber gerade Manchester hat mir alles in Erinnerung gerufen, was ich zu vergessen suchte [...]' Die Fremde ist also bei Sebald kein neues Territorium, das durch das Ich neu erschlossen und beschrieben wird, es sind dort im Gegenteil Linien Anderer bereits vorhanden, die ihm einen Weg vorzeichnen, der es zu sich selbst zurückführt. Diese 'Beschriebenheit' von Orten stellt die Folie für die Fiktionalisierungsstrategie in Sebalds Werk dar. Wenn der Ich-Erzähler auf einen so beschriebenen Ort trifft, ergibt sich in Sebalds fiktionaler Welt immer eine zusätzliche Dimension. Orte als Bedeutungsträger 'erinnern' sich bei Sebald an das, was an ihnen geschehen ist: ''Places seem to me to have some kind of memory, in that they activate memory in those who look at them,' says Sebald. 'It's an old notion - this isn't a good house because bad things have happened in it.'”
Julia Kraushaar (30) ist Freie Lektorin und lebt in Berlin. Sie studierte Neuere Deutsche und Französische Literaturwissenschaft in Berlin und Paris. Schwerpunkte ihrer Forschung liegen in den Bereichen Intermedialität, Zeitgeist und Sprache, verknüpft mit Gedenk- und Erinnerungskultur.
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