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- Heimliche Lust. Verborgene Tabubrüche in Otto Ludwigs Erzählung „Zwischen Himmel und Erde“
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Verlag:
Diplomica Verlag
Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH
Hermannstal 119 k, D-22119 Hamburg
E-Mail: info@diplomica.de
Erscheinungsdatum: 08.2016
AuflagenNr.: 1
Seiten: 108
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback
Spannungsreich geschrieben und psychologisch vielschichtig bricht Otto Ludwigs Erzählung des poetischen Realismus alle ehemaligen und aktuellen Tabus – ohne dass der Leser es unmittelbar merkt. Die vorliegende Studie untersucht die Rechtfertigungsstruktur und Zuverlässigkeit dieser fiktiven Jugenderinnerungen und stellt die Frage, ob der vermeintliche 'Held' der Geschichte nicht vielmehr als Antiheld begriffen werden muss. Ausgehend von der Analyse des Erzählverfahrens durchleuchtet die Autorin die komplexen Beziehungen und Motive der Hauptfiguren. Insbesondere auf der Basis der Theorien von Girard und Lacan offenbart eine detaillierte Textbetrachtung schließlich die Wirkungsweise des stellvertretenden Begehrens, in dem keiner der Rivalen ein echtes Interesse an der angeblich sehnlichst Begehrten hegt und die sorgsam gewahrte bürgerliche Fassade tiefe Risse bekommt.
Textprobe: Kapitel 2.5, Poetischer Realismus: Ein gewisses Maß an ‚ideeller Durchdringung‘, wie sie Otto Ludwig bezeichnete, ist kennzeichnend für den poetischen Realismus und macht es unausweichlich, dass sich alles Störende in Zwischen Himmel und Erde nur indirekt vermittelt, also in Geistern, Spinnweben, Architektur oder vermeintlichem Wahnsinn, äußern kann. Die Neigung zu einer Synthese zwischen Wirklichkeitsbezug und Verklärungstendenz betrifft in unterschiedlichem Maße die gesamte Literatur des Realismus, insbesondere aber den poetischen Realismus, als dessen programmatischer Begründer Otto Ludwig nach wie vor weithin gilt. Im poetischen Realismus sollte mit dem Dargestellten immer auch eine leitende Idee abgebildet werden, die sich indirekt in der Komposition widerspiegelt. Ludwig entwarf dazu das Konzept eines ‚Romans des Nebeneinander‘, in welchem die widerstreitenden Pole einander gegenüberstehen, während das Ideal ‚unsichtbar in der Mitte‘ liegt. Es ist unmittelbar einsichtig, dass Dichtung, die einer solchen Konzeption des ›Idealrealismus‹ folgt, nicht zweckfreie Nachahmung sein kann, sondern die fiktionalen Fakten in besonderer Art und Weise auswählt und mit einer gezielten Perspektivierung versehen wiedergibt. Die realistische Erzählweise tritt somit nur als ein Hilfsmittel in Erscheinung, um ein erhöhtes Spiegelbild der Wirklichkeit zu erschaffen, das dem Leser leicht zugänglich ist. Diese Überhöhung erfolgt, die nackten Stellen des Lebens überblumend , in Zwischen Himmel und Erde nicht zuletzt mithilfe der nachgewiesenermaßen unzuverlässigen Erzählweise. Der mit realistischen Mitteln verwirklichte idealistische Ansatz zeigt sich auch an der Leserführung. In seiner Programmatik war es Otto Ludwig ein Anliegen, dass Literatur einen neutralen Standpunkt einnehmen müsse, über den Parteien schwebend , um die übermäßige Identifikation des Lesers mit einem der Protagonisten zu verhindern. Dies sollte indirekt bewerkstelligt werden, indem die widerstreitenden Positionen durch die geschickte Gegenüberstellung einander relativierten: »Diese Polyphonie ist das Mittel, das Subjektivste objektiv zu machen, indem die eine Subjektivität immer der andern als Objekt dasteht, und indem der Zuschauer gehindert ist, seine eigene Subjektivität in die Schale einer der sich vor ihm auslebenden Subjektivitäten zu werfen«. Das Ziel war also eine unparteiische Gesamtschau der unterschiedlichsten Charaktere. Diese Konzeption gelingt in Zwischen Himmel und Erde nur begrenzt. Die Figurenzeichnung unterliegt zwar keiner völligen Polarität, doch bei aller Relativierung von Apollonius‘ Tugenden durch seine übertriebene Genauigkeit und aller positiv zu wertenden Einsicht vonseiten Fritz‘ in sein zerstörerisches Verhalten, dominiert bei einer unkritischen Lesart letztlich das Bild, der ‚rechtschaffene‘ Bruder habe sich durchsetzen können, während der ‚niederträchtige‘ Gegenspieler den selbstverschuldeten Tod gefunden habe. Statt die Ausgangssituation der Rahmenhandlung nur zu erläutern, rechtfertigt die Binnengeschichte sie, indem sie die Sympathien für die Protagonisten unter kleinbürgerlichen Gesichtspunkten lenkt. In inhaltlicher Hinsicht ist es aufschlussreich, dass der poetische Realismus den Anspruch erhebt, Allgemeingültiges, allgemein Menschliches im Gewand einer detailliert geschilderten Gegebenheit wiederzugeben. Mit den Worten Otto Ludwigs: Der Realist nennt wahr, »was immer geschieht«, hält sich an den »Typus« und die »typische Geschichte solcher Menschenart, wie sie es treibt, wie es ihr ergeht und ergehen muß« . Mit diesem Anspruch entsteht eine Schnittstelle zwischen Realismus und antiker Tradition, in der Mythen beispielsweise durch Platon als fiktionale Erzählungen definiert wurden, die allgemeine Wahrheit enthalten. Trotz der Sonderstellung der Hebräer sind sich aufgrund des mediterranen Kulturraums viele Einflüsse der klassischen Antike auf die israelitische Kultur festzustellen, so dass auch biblische Mythen des Alten Testaments unter dem Gesichtspunkt dessen, was niemals geschah und immer ist betrachtet werden können und müssen. So gesehen ist die intertextuelle Bezugnahme des Textes auf Kain und Abel sowie die Parallelität zu Jakob und Esau von besonderem Interesse, denn sie ermöglicht, die Erzählung als Aktualisierung der alttestamentarischen Mythen feindlicher Brüder zu verstehen. Das Grundmuster der Rivalität um die Gunst des Vaters beziehungsweise um die Nachfolge wird im zeitgenössischen Gewand einer realistischen Erzählung neu aufgegriffen und interpretiert. Dieser Befund bestätigt zudem die zentrale Bedeutung, welche dem Konkurrenzverhältnis als Motor der Entwicklung zukommt. Zugleich steht dieser zweite Anspruch, allgemeingültige und folglich auch unangenehme Wahrheiten des menschlichen Daseins zur Sprache zu bringen, offensichtlich im Konflikt mit dem Wunsch, ein überhöhtes Spiegelbild der Wirklichkeit zu schaffen. Es ist der Zwiespalt zwischen der Orientierung am Inhalt und der Orientierung an den Erwartungen des Publikums: Hart reibt sich hier der kritische Impuls am gesellschaftlichen Auftrag, behaglich zu bleiben. Daraus ergibt sich die im Text nachweisbare Spannung zwischen der bürgerlichen Fassade einerseits und dem diese Ordnung herausfordernden stellvertretenden Begehren andererseits. Dass dieser Konflikt zu Verwerfungen im Text führt, ist unvermeidlich. Die nackten Stellen des Lebens , das Wilde und Ungeheure , Verwirrung und Monotonie , das entsetzlich Outrierte und Gequälte scheinen überall durch, jedenfalls bei Ludwig [...]. Der 'gesunde' Realismus produziert am Ende erst recht den Reiz des Verbotenen oder aber, wovon Ludwig weiß, den Drang zum Trivialen (RS, 552) . Dieser ‚Reiz des Verbotenen‘ kann leicht zu dem Eindruck führen, die offen präsentierten Ereignisse böten alles an skandalträchtigem Material, was im Text zu finden sei. Bei genauerem Hinsehen jedoch bieten sich weitere Zusammenhänge dar. Löst man sich von der trivialen Oberfläche, lässt sich gerade durch die Widersprüche im Text, in denen der versöhnliche[] Gestus, wie dieser vom Erzähler ausgeht, […] dessen Ton in Widerspruch zur Faktizität des Erzählten statt zum Vorzeichen des Textes [gerät] , Grundlegendes über die der Beziehungsdynamik, in Form der Ökonomie des stellvertretenden Begehrens, zugrundeliegenden Motivation der Protagonisten, und die Rechtfertigungsstruktur des Textes erfassen. Das viel mächtigere[] Tabu derjenigen Realität, die nicht im erhöhten Spiegelbild erscheinen soll versucht der Text mithilfe bestimmter Erzählverfahren zu kontrollieren. Wesentliche inhaltliche Fragen sind durch das für den Realismus charakteristische Verfahren der Verklärung der nachfragenden Kritik des Lesers entzogen . Dieser Befund kann für eine Textanalyse jedoch niemals der Schlusspunkt sein, sondern fordert dazu heraus, den Text noch einmal, diesmal auf die verschleierten Fakten der fiktionalen Welt zu befragen. Dies wird überhaupt erst möglich, weil die Erzählverfahren selbst zum Gegenstand der Erzählung werden, indem der Text sie in einer doppelten Struktur von use und mention reflektiert und transparent macht. Ausgehend von der Tatsache, dass der Text mit seiner Binnenerzählung das ‚eigene Zusammenleben‘ im Nettenmairschen Hause zu rechtfertigen versucht, ist dies der Punkt, an dem die Untersuchung ansetzen muss. Im Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen besteht der größte Erklärungsbedarf und folglich auch der meiste Anlass zur Verheimlichung. Hier lohnt sich der Rückgriff auf die psychoanalytische Forschung. Was sich bei genauerem Hinsehen eröffnet, ist der Blick auf die Ökonomie des stellvertretenden Begehrens.
Inken Marei Kolthoff studierte in Tübingen, Pisa und Moskau Literaturwissenschaft und Geschichte. 2012 schloss sie ihr Studium mit dem akademischen Grad der Magistra Artium erfolgreich ab. Schon vor Beginn und auch während ihres Studiums arbeitete sie journalistisch, was sie zunehmend für narratologische Strukturen sensibilisierte. Ihr Interesse an der Funktionsweise komplexer Systeme – seien sie literarischer, historischer oder soziologischer Natur – motiviert sie immer wieder, vordergründige Strukturen zu hinterfragen. Die beiläufige Art, mit der Otto Ludwig in seiner Erzählung Zwischen Himmel und Erde Tabus bricht, bietet dazu reichlich Anlass.
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