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  • Funktion und Arrangement von Musik im Theater Christoph Marthalers: „Die schöne Müllerin“ und „Riesenbutzbach“

Kunst & Kultur


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Produktart: Buch
Verlag: Diplomica Verlag
Erscheinungsdatum: 03.2015
AuflagenNr.: 1
Seiten: 92
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback

Inhalt

Im Rahmen der vorliegenden Studie soll das Verhältnis zweier Kunstformen untersucht werden, deren Wege sich von Beginn ihrer Entwicklung an teils annäherten, teils weiter voneinander entfernten, sich aber vor allem immer wieder in fruchtbarer Weise kreuzten: Musik und Theater verbindet eine lange währende und unverbrüchliche Beziehung. Aus ihrem Zusammentreffen kann etwas Neues entstehen, das bisweilen sogar die Grenzen beider Künste zu sprengen und neu zu definieren in der Lage ist. Ein eindrucksvoller Beweis hierfür ist das Theater Christoph Marthalers. An seinem Beispiel soll (unter Einbeziehung der Arbeiten Riesenbutzbach und Die schöne Müllerin) aufgezeigt werden, welche Potenziale der Einsatz von Formen musikalischer Artikulation für das Theater bereithält. Hierzu soll zuvor ein systematisierender und zugleich problematisierender Überblick über die spezifischen Gegebenheiten musikalischer beziehungsweise allgemein akustischer Ereignisse im Zeichensystem Theater gegeben sowie die bestehenden Gattungsgrenzen zwischen Sprech- und Musiktheater hinterfragt werden.

Leseprobe

Textprobe: Kapitel 2.1, Chor-Gesang: Konsonanz und kollektive Erinnerung: Der Chor bildet die Grundstruktur und den Kern der meisten von Christoph Marthalers Arbeiten, sowohl aufgrund einer oftmals durchgehenden Anwesenheit aller Figuren auf der Bühne, als auch im Sinne gemeinsamen, oft mehrstimmigen und immer technisch perfekten Gesangs im Kollektiv. Die chorische Form prägt so meist ‘eine gesamte Produktion, und, wenn man weiter blickt, das Gesamtwerk des Regisseurs.’ Eine so intensive Auseinandersetzung mit dem Chor auf der Bühne zeugt zum einen natürlich grundsätzlich von einem musikalischen Ansatz, beziehungsweise dem Bewusstsein um die erwähnte Auflösung der Gattungsgrenzen im Theater Marthalers und weist es als eine der oben bereits mehrfach erwähnten Hybridformen aus. Auf struktureller Ebene hat eine solche ‘permanente Ensemble-Konfiguration aus simultanen Arrangements von Einzelfiguren und Figuren-Gruppen’ zur Folge, dass Marthalers Arbeiten meist nicht aus herkömmlichen Konfigurationsfolgen bestehen, sondern durch ständige Verlagerungen des inszenatorischen Fokus mittels szenischer Arrangements geprägt sind. Der konkrete gesangliche oder sprachliche ‘Chor-Auftritt’ im Sinne einer ‘Nummer’ ist dadurch auch keine abgeschlossene Form, sondern stellt als (kleinerer) Gesangs- oder Sprech-Chor eine ‘zeitweise Verdichtung’ der Grundstruktur ‘großer Chor’ dar. Hans-Thies Lehmann bezeichnet diese spezielle Art des Chor-Kollektivs aus schweigsamtrostlosen und wartenden Marthaler-Kreaturen, als einen ‘sozialen Chor’, ‘der sich zwar aus Einzelstimmen zusammensetzt, aber nicht nur immer wieder im Chorgesang sich vereint, sondern auch schon im Wechsel der Stimmen durchgehend chorische Qualität behält.’ Die Figuren dieses Chor-Ensembles sind, wie Marthaler selbst sagt, ‘im Grunde Autisten’, die ‘gar nichts Gemeinsames machen können.’ Die technisch perfekte Mehrstimmigkeit ihres Gesangs ist dann umso mehr ein überraschender Effekt: ‘Wenn alle weit auseinander sitzen und diese verlorenen und nicht versöhnbaren Autisten plötzlich gemeinsam singen. Das ist eine starke Utopie, besonders wenn sie komplizierte Lieder schön singen können.’ In der Mehrstimmigkeit von Marthalers Chören entsteht also ganz grundlegend eine Konsonanz der Figuren, sowohl im übertragenen wie im Wortsinne. Diese ist Voraussetzung für kommunikative Interaktion. Dieser grundsätzlichen Kommunikationsfunktion entsprechend unterscheidet Susanne Schulz drei Arten des Chorgesangs bei Marthaler. Sie verwendet dabei Begriffe, die zunächst keinen musikalischen Bezug haben, sondern aus dem Analyseinstrumentarium dramatischer Rede stammen. So könne der Chorgesang rein monologisch sein, indem alle Figuren ‘wie aus einem Munde’ und mit der gleichen Blickrichtung singen. Dies kann einerseits freilich Einigkeit bedeuten, aber – im Sinne der Multifunktionalität musikalischer Artikulation – auch ‘das Hineinzwingen des Einzelnen in eine Gruppenstruktur’. Insofern können aus der vermeintlichen Harmonie des Chorgesangs auch komische Wirkungen entstehen, wenn beispielsweise das Ausscheren des Einzelnen aus der Gruppe ausgestellt wird und so ein Kontrast zur technisch perfekten Konsonanz des Gesangs entsteht. Zum zweiten können die Chormitglieder auch bewusst ‘aneinander vorbei reden’ (sprich: singen), indem sie sich beispielsweise mit unterschiedlichen Blickrichtungen positionieren, wodurch sie verträumt, isoliert und einsam wirken – auch dies in effektvollem Kontrast zum gesanglichen Einklang, durch den die Isolation und also partiell gestörte Kommunikation freilich noch deutlicher hervortritt. Zum dritten kann der Chorgesang dialogisch organisiert sein, indem die Figuren einander zugewandt singen und dabei szenisch ein Gespräch andeuten. Dadurch können sie singend in Kommunikation treten, obgleich sie im Grunde dasselbe singen und Gesang eine an sich monologische Struktur aufweist. Mit Blick auf diese unterschiedlichen Ausprägungen des Chorgesangs kann erneut das hohe kommunikative Potenzial einer musikalischen Artikulationsweise festgestellt werden: ‘Was die Sprache oft nicht vermag, kann bei Marthaler das Lied: es führt die einsamen, aneinander vorbeiredenden und -agierenden Figuren über die dialogisch-musikalische Struktur zu einer Gemeinschaft zusammen.’ Darüber hinaus ist es ein weiteres Charakteristikum des Chorgesangs bei Marthaler, dass er streckenweise durch den Kontrast zwischen der Trostlosigkeit der Bühne, sowie der auf ihr agierenden Figuren und der hohen technischen Qualität ihres Live-Gesangs verfremdende Effekte hervorrufen kann. Diese können zusätzlich auch dadurch entstehen, dass der Chor etwa durch typisch chorische Aufstellung als Gruppe mit gleicher Blickrichtung und ähnlicher Körperhaltung gewissermaßen aus der szenischen Realität fallen und als Gesangschor sozusagen eine konzertante Situation schaffen kann. Als letzter Aspekt zum Bereich Chor in Marthalers Theater sei schließlich ein Potenzial genannt, das im Grunde nicht nur auf den Chorgesang beschränkt betrachtet, sondern partiell sicherlich auch für Solo-Lieder geltend gemacht werden kann. Gemeint ist die Funktion des gemeinsamen Singens als ein Ort der kollektiven Erinnerung. Das Stichwort ‘Erinnern’ führt dabei zunächst zu einem anderen, für Marthaler entscheidenden Themenkomplex, nämlich dem Umgang mit Zeit und Zeitordnung. Was laut Stefanie Carp für das Theater generell gilt, trifft im Fall Marthalers umso mehr zu: ‘Theater muss seine eigene Zeitordnung setzen. Das hat es immer tun müssen. Das gehört zu seiner Eigenschaft, Theater zu sein.’ In dieser Theaterzeitordnung, so Carp weiter, sei Gegenwart nicht nur Gegenwart, sondern immer auch ‘mit Vergangenheit, mit Erinnerung, mit Gedächtnis angefüllte Zeit’, sei sozusagen ‘erinnerte Gegenwart.’ Der Chor nun kann in diesem Rahmen zur ‘Verkörperung eines Ortes des kollektiven Gedächtnisses’ werden: mit den vom chorischen Ensemble vorgetragenen Liedern werden sowohl schon in der Probenarbeit bei Auswahl und Einstudierung, als auch für den Zuschauer während der Aufführung Assoziationsräume geschaffen, die durch Ansprechen des Gefühls und/oder des Verstandes (beispielsweise durch Aufrufen historischer Konnotationen bei einzelnen Liedern) Erinnerungsarbeit anregen können. Marthaler selbst erklärt dies am Beispiel des gemeinsamen Aussuchens alten DDR-Liedguts auf den Proben zu Murx: ‘Diese Art von Probenprozess finde ich überhaupt ganz wichtig. Ist auch die Möglichkeit, sich an Dinge zu erinnern. [...] Dann kann man sich plötzlich an eine Zeit erinnern, die man gar nicht erlebt hat. Und das finde ich ganz wichtig, […] für mich ist Theater Erinnerungsarbeit.’ Darüber hinaus betont Marthaler an anderer Stelle auch mit Blick auf die Musik ganz allgemein deren Potenzial, Erinnerungsräume zu öffnen: ‘Man kann plötzlich 80 Jahre Geschichte abspielen, und das geht auch noch ganz rein, geht auf die Gefühle. Plötzlich findet man das doch schön, und dann erschaudert man, denn auf einer extrem sinnlichen Ebene kann man ganz unglaubliche Dinge darstellen. Das ist ein Privileg der Musik.’ Zusammenfassend lässt sich nun also, wie wir gesehen haben, allein schon für den Bereich des Chor-Einsatzes bei Marthaler eine Vielzahl von Variationen und Zielsetzungen beschreiben. Eine generelle Aussage, mit der die dramaturgische Funktion der Chorlieder eindeutig zu bestimmen wäre, kann daher nicht getroffen werden. Sie kann nur eingegrenzt und als changierend zwischen verfremdendem Einschub, Konsonanz stiftendem Traumgebilde und Assoziationsraum beschrieben werden. Als Kern und Grundgerüst der Marthalerschen Ästhetik wirken die Chorlieder durch ihre Musikalität darüber hinaus auf die Gesamtstruktur der Inszenierungen und bestimmen so auch die Musikalisierung alles Szenischen.

Über den Autor

Christoph Hetzenecker wurde 1989 in Regensburg geboren. Sein Studium der Theaterwissenschaft, Musikwissenschaft und Griechischen Philologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München schloss er mit dem akademischen Grad eines Magister Artium ab. Während seines Studiums hospitierte er unter anderem am Staatstheater Nürnberg sowie an der Bayerischen Staatsoper. Von 2011-2014 war er Regieassistent am Residenztheater München und arbeitete dort u.a. mit Regisseuren wie David Bösch, Martin Kušej und Amélie Niermeyer. Dort entstand mit Mefistocks. Eine musikalische Spekulation im Marstall auch seine erste Regiearbeit. Ab der Spielzeit 2015/16 ist er als Regieassistent und Abendspielleiter an der Staatsoper Hannover engagiert. Sein besonderes Interesse, das sich auch in der vorliegenden Arbeit niederschlägt, gilt den Grenzen zwischen Sprech- und Musiktheater und den Potenzialen musikalischer Figurenrede auf dem Theater.

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