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- Fausts Weg zur Transzendenz oder Das Schicksal der Mütter: Geschlecht und Bewegung in Goethes „Faust“
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Verlag:
Diplomica Verlag
Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH
Hermannstal 119 k, D-22119 Hamburg
E-Mail: info@diplomica.de
Erscheinungsdatum: 08.2015
AuflagenNr.: 1
Seiten: 92
Abb.: 11
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback
Ausgehend von der Annahme, dass die letzten Verse des Dramas einen Zusammenhang zwischen Geschlecht und Bewegung intendieren, beschäftigt sich die Studie mit den verschiedenen Bewegungsabläufen des Dramas in Bezug auf die Geschlechterdifferenz. Bewegung wird dabei als Eigenbewegung, Bewegtwerden und Wahrnehmung von Bewegung verstanden. Unter Zuhilfenahme Goethes naturphilosophischer und poetologischer Konzepte, darunter die Spirale als Umschreibung für die Gesetzmäßigkeit einer Entwicklung des Lebens, wird die Frage aufgeworfen, ob eine Alternative zur bloßen Geschlechterdichotomie erkennbar ist. Untersucht werden dazu insbesondere die Beziehung zwischen Faust und Margarete sowie zwischen Faust und Helena. Deren jeweilige körperliche und seelische Bewegungen, aber auch ihre Lust-Bewegungen, stehen im Fokus. Dieses Vorgehen führt zu Erkenntnissen bezüglich der jeweiligen räumlichen und zeitlichen Bewegungen männlicher und weiblicher Figuren. Einen zentralen Platz nimmt zudem die Frage ein, weshalb die Frauen verschwinden, sobald sie zu Müttern werden. Die in der Forschung diskutierten unterschiedlichen Deutungen des Ewig-Weiblichen werden vor dem Hintergrund der Aufwärtsbewegung der letzten Szene neu beleuchtet. Mit Blick auf entstehungsgeschichtliche Zusammenhänge wird dabei nach Gründen für die späte Tilgung der ursprünglich geplanten Hochgerichtsszene gesucht. Schließlich werden die auf Zerstörung basierenden Bewegungen männlicher Lust reflektiert und mit der Aufwärtsbewegung der Szene Bergschluchten kontrastiert.
Textprobe: Kapitel 4.2, Liebe und Verlangen: In der Hexenküche betrachtet Faust einen Zauberspiegel, von dessen Anblick er regelrecht hingerissen ist, denn er entdeckt darin das ‘schönste Bild von einem Weibe’ (V. 2436). Aber er kann es nur in der Distanz sehen: ‘Wenn ich es wage nah zu gehn, / Kann ich sie nur als wie im Nebel sehn! –’ (V. 2434f.). Sichtbar wird die Schöne im Gedankenstrich. Faust will ihr möglichst schnell möglichst nahe sein und bittet deshalb um die schnellsten Flügel hier zeigt sich sein Drang, sich dem begehrten weiblichen Objekt in einer geradezu vorpreschenden Bewegung zu nähern. Die begehrte Frau ist schon ‘hingestreckt[]’ (V. 2438) sie erscheint erst, nachdem sie überwältigt wurde. Was der männliche Blick also einfängt, ist ein zur Hingabe gezwungener weiblicher Körper. Fausts Betrachtung im Spiegel ist sowohl eine Betrachtung seiner selbst als auch die der schönsten Frau. Beide Bilder überlappen einander, werden einander anverwandelt. Somit wird Fausts Begehren von Beginn an als narzisstisch geprägtes vorgeführt. Die Tragik des Narziss besteht aber in der Unfähigkeit zu lieben, da sich das Ich fortlaufend falsch beurteilt und jedes sinnliche Selbstgefühl verliert. Bevor sich Faust und Margarete zum ersten Mal begegnen, hat er in der Hexenküche einen Verjüngungstrank zu sich genommen, der ihn ‘Helenen in jedem Weibe’ (V. 2604) erkennen lässt. Er wird also einer Frau begegnen, die er für unwiderstehlich schön hält einer Frau, deren Schönheit so begehrenswert ist, dass sie Kriege verursachen könnte. Der Trank wird zugleich ein Begehren in ihm entfachen, welches zum Antrieb für die Handlung wird. Zum anderen zeigt der Vers, dass Frauen zuerst nach ihrer Schönheit beurteilt werden. Und es ist klar, dass alles in der nun folgenden Szene, was über Gretchen ausgesagt wird, nicht nur aus der Perspektive Fausts, sondern aus einem offensichtlich berauschten Blickwinkel dargestellt wird. Es bleibt völlig offen, ob Faust sie ohne die Wirkung dieses Tranks überhaupt bemerkt oder was er für sie empfunden hätte. Da er aber nun einmal den Zaubertrank zu sich genommen hat und Margarete begegnet ist, ist sein Begehren derart entfacht, dass er sich vollkommen triebhaft verhält: ‘Hör’, du mußt mir die Dirne schaffen!’ (V. 2619). Für Hans-Georg Pott ist er ein ‘erbärmlicher Triebtäter’, für Yvonne-Patricia Alefeld ein ‘Junkie’. Indem er Mephisto sogar droht (‘Wenn nicht das süße junge Blut / Heut Nacht in meinen Armen ruht, / So sind wir um Mitternacht geschieden.’ (V. 2636–2638)) gebraucht er seine Macht, um sein Begehren – schnellstmöglich – zu befriedigen. Alefeld weist außerdem darauf hin, dass Faust es ausnutzt, dass Margarete nur das religiöse Zeichensystem als Kommunikationscode kennt. Um zu verführen, untergräbt er deshalb Margaretes Glauben und baut ihn zugleich auf: Er selbst will für sie zum Gegenstand ihres Glaubens werden, Gott sein: Ja, mein Kind! Laß dieses Blumenwort / Dir Götter-Ausspruch sein. Er liebt dich (V. 3184f.)! ‘Er’, der sie liebt, ist Gott, nicht Faust. Der Händedruck signalisiert, was er eigentlich meint, seine Worte sind taktisches Instrument. Als Widerspiegelung des Mannes, mangelt es der Frau an symbolischer Existenz. Sie ist ‘wie das Geld Äquivalent des Warentauschs’. Als solches reflektiert sie nur den Wert des anderen – das Bild der Mannes. Sie erhält ihren Wert erst durch das, was er in und auf ihren Körper einschreibt. Aber durch diesen Umstand wird auch das männliche Begehren entindividualisiert – indem er nicht eine, sondern gleich das Muster aller Frauen liebt, wird er zum Muster aller Verführer. Das erste, was Faust über Margarete sagt – ‘Bei’m Himmel, dieses Kind ist schön!’ (V. 2609) – lässt durch die Verknüpfung von Himmel und Kind ein engelhaftes Wesen assoziieren. Hinzu kommt ihre Weigerung, sich berühren zu lassen. Als Unberührbare nimmt sie den Status einer Heiligen an und erinnert sogleich an die Heilige Margarete. Gretchen hat mit ihr vieles gemein: das Bekenntnis zum Christentum, die Heimsuchung vom Teufel im Kerker, die Hinrichtung und die Rettung von oben. Gerade Gretchens Tugend und ihre anfängliche Zurückweisung erweisen sich als Teil von Fausts Vorstellung von einer schönen Frau, denn erst danach formiert sich das Bild seines Begehrens endgültig (V. 2610ff.). Ihr Widerspruch provoziert Faust und scheint seine Verführungslust erst zu entfachen. Er scheint zum Verführspiel dazuzugehören. Nur über ihren Widerstand kann er sich seine eigene Verführungskraft bestätigen. Damit erscheint sie von diesem Moment an für Faust ‘in einer doppelten Projektion: als schon Erhöhte und als schon Gefallene.’ Überhaupt lassen sich die Beziehungen Fausts zu den Frauen derart zusammenfassen. Auch die weibliche Erscheinung im Zauberspiegel wurde ja als Erhöhte und zugleich Erniedrigte dargestellt. In der Ballade ‘Der König von Thule’, die Margarete in der Szene ‘Abend’ singt, wird ihre Vorstellung von Liebe und von ihrem Liebespartner offenbar. Sie liebt die Möglichkeiten, die in Faust angelegt sind sie liebt denjenigen, der er als Liebender sein könnte. Das Lied handelt von Treue als einer Dimension der Liebe selbst. Der König zeigt ihre Idealvorstellung von Faust. Liebe als intensive Weise menschlicher Begegnung steht folglich im Kontrast zu Fausts Auffassung von Begehren als Grenzüberschreitung und Selbstverabsolutierung. Gerade in der Sprache werden die so unterschiedlichen Lebensvorstellungen und Handlungsweisen offen gelegt. Während Margaretes Sprache unmittelbar, konkret und intuitiv ist, bleibt bei Faust vieles verhüllt, mittelbar, verallgemeinernd und oberflächlich. Direkten Fragen weicht er aus, indem er umständlich und diskursiv-analytisch argumentiert und dabei abschweift. Während seine Sprache Zugriff ist, ohne selbst etwas preiszugeben oder sich Tatsachen zu stellen, ist Gretchens Reden Hingabe. Sie folgt ihrem Gefühl sie sagt, was sie denkt, ahnt und differenziert fühlt. Eine wichtige Szene, um etwas über Margaretes Persönlichkeit zu erfahren, ist die Szene ‘Gretchens Stube’, denn sie stellt einen Augenblick der Einsamkeit, Entbehrung und Fantasie dar. Das Kreisen des Spinnrads und die mehrfache Wiederkehr einer Strophe symbolisieren dabei das Kreisen ihrer Gedanken und Vorstellungen um Faust. Dabei ist es auch ein Kreisen innerhalb der nicht zu bewältigenden Probleme und ein Wechsel zwischen einem sehnsuchtsvollen Blick auf die von ihr überhöhte Gestalt des Geliebten und einem vergegenwärtigenden Blick auf sich selbst. Es ist somit der Wunsch, aus dem Kreislauf hinauszukommen. Sie ist sich ihres geistigen Bruchs, ihrer verrückenden Bewegung aus sich selbst heraus, bewusst. Ihr Entbehren ist nicht nur expressiv, sondern auch extrem, weil es bis an die eigene Zerstörung reicht. Margarete geht einen schmerzhaften Weg bis zur Selbstauflösung. Faust ist so egozentrisch, dass er alles an und in sich reißen will – auch Margarete und durch sie hindurch. Margarete ist für ihn vor allem Objekt des Begehrens. Deshalb verlässt und vergisst er sie auch, nachdem er sein sexuelles Begehren befriedigt hat. Indem er sie glorifiziert hat, hat er sich selbst die Möglichkeit genommen, sie als Mensch mit Fehler und Schwächen kennen und wirklich lieben zu lernen. Er ist schlicht berauscht vom Trank und der Vorstellung, die er sich von ihr macht. Aber auch Margarete sieht in ihm nicht denjenigen, der er wirklich ist (siehe hierzu Kapitel 4.4).
Gabriele Richardt, Jahrgang 1986, studierte in Heidelberg, Göttingen und Düsseldorf. Für ihre Abschlussarbeit im Fach Germanistik erhielt sie den Carl-Wambach-Preis.
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