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Kunst & Kultur


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Produktart: Buch
Verlag:
Diplomica Verlag
Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH
Hermannstal 119 k, D-22119 Hamburg
E-Mail: info@diplomica.de
Erscheinungsdatum: 06.2012
AuflagenNr.: 1
Seiten: 152
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback

Inhalt

Wir wollen mit der Musik, die wir machen, die Menschen davon überzeugen, dass sich alle Menschen von ihren Unterdrückern befreien müssen erklärt Rio Reiser, Frontmann der Band Ton Steine Scherben 1970 in einem Interview. Die Band hatte sich kurz zuvor im West-Berliner Stadtteil Kreuzberg gegründet, im Zeichen der aufgeheizten Atmosphäre des Konflikts zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen. Mit ihrem selbst erfundenen Musikstil Agit-Rock und Titeln wie Macht kaputt was euch kaputt macht , Ich will nicht werden was mein Alter ist , Wir streiken oder Der Kampf geht weiter entwickelten sich in kurzer Zeit zu Hymnen von Hausbesetzern, politischen Aktivisten und Kulturrebellen. Der genaue Blick auf Ton Steine Scherben legt eine ungewöhnliche Mischung aus künstlerischer und Lebensradikalität frei: Als Teil der West-Berliner Gegengesellschaft lebten sie in Kommunen, beteiligten sich an Demonstrationen, Solidaritäts- oder Protestaktionen und standen in Kontakt mit Personen aus dem Umfeld der APO, Bewegung 2. Juni und RAF. Konzerte endeten oft in Hausbesetzungen, ihre Kommune wurde regelmäßig von Polizeikommandos gestürmt. Die Türen ihrer Wohn- und Arbeitsräume standen jedermann offen, gemeinsam hat man musiziert, diskutiert oder Drogen konsumiert. Die Bandmitglieder verstanden sich als Teil einer revolutionären Bewegung, deren politische Ausrichtung dem Kampf gegen Unterdrückung, Unfreiheit und Ungerechtigkeit dienen sollte, vor allem in ihrer direkten Umgebung in Kreuzberg/West-Berlin. Aber wie sollte die politische Arbeit einer Musikgruppe aussehen? Wieso verbreiteten sich ihre radikalen, schlagwortartigen Parolen blitzartig durch den deutschsprachigen Raum? Wie traten sie wofür ein, mit welchen Inhalten, Zielen und Methoden? Aus welchem Grund stieg die Band abseits klassisch-wirtschaftlicher Strukturen in kürzester Zeit zu einer der bekanntesten westdeutschen Gruppen auf - ohne Plattenlabel oder Vermarktungsstrategie? Woher stammte überhaupt die Idee oder der Glaube daran, mit Musik Politik machen zu können? Politik für oder gegen welche politischen, gesellschaftlichen oder kulturellen Ansichten und Gruppen - und vor allem weshalb? Diese Fragen werden im vorliegenden Buch beleuchtet und letztendlich beantwortet.

Leseprobe

Textprobe: Kapitel 8.2.3, Entwicklung der Scherben zur linken Jukebox: Die erste Veröffentlichung als Band Ton Steine Scherben war der zweiseitige Beitrag Musik ist eine Waffe im links-anarchistischen Magazin Agit883, die u.a. von Lothar Binger ab 1968 herausgegebenen wurde, mit einer Auflage von bis zu 10.000 Stück. Darin erklärte die Band ihre Position: Man könne was verändern, wenn man wolle, dabei soll die Musik als Waffe eingesetzt werden, um zu agitieren. Ton Steine Scherben wollten ihren Teil zum Klassenkampf beitragen und unterstützten deshalb jede Aktion von jeder Organisation. Schon vor der Gründung der Band wurde der Text zu Macht kaputt was euch kaputt macht vollständig auf der Titelseite des Magazins abgedruckt. Diese ersten sehr konkreten Schritte der Band zogen ein Echo nach sich, innerhalb und außerhalb der Jugend- und Subkulturen Berlins. Dadurch wurden eine nicht unbeträchtliche Anzahl subversiver Journalisten auf die Band aufmerksam und eröffneten Ton Steine Scherben deutschlandweit ein größeres Publikum. Sogar die konservative Berliner Zeitung des Springer-Verlags veröffentlichte einen Beitrag des späteren Pop-Starfotografen Jim Rakete. Mit den ersten beiden Alben Warum geht es mir so dreckig und Keine Macht für Niemand bestätigten Ton Steine Scherben inhaltlich ihre radikal-politische und gesellschaftskritische Positionen, die nähere Behandlung der Texte erfolgt im nächsten Kapitel. Am Mariannenplatz besetzten Jugendliche unter Beteiligung von Mitgliedern der Roten Steine und Ton Steine Scherben im Juli 1971 eine leer stehende Fabrik. Für diese erste Hausbesetzung West-Berlins wurde nach Konflikten mit der Polizei letztendlich ein Kompromiss mit dem Berliner Senat gefunden und ein Geschoss des Gebäudes zu einem Jugendzentrum umgewandelt, unter der Leitung städtischer Pädagogen. Ein Teach-In für die Freilassung des Mitglieds des militanten Berliner Untergrunds Dieter Kunzelmann endete mit einem Konzert von Ton Steine Scherben in der TU Berlin, organisiert von 883-Redakteur Hans-Paul Zahl. Nach dem Konzert rief Rio Reiser dazu auf, das Schwesternwohnheim des leer stehenden Bethanien-Krankenhauses in Kreuzberg zu besetzen. Zudem verteilten Besetzer der Fabrik am Mariannenplatz Flugblätter. Etwa 600 Teilnehmer des Teach-Ins kamen der Aufforderung nach, nur etwa 200 konnten ins Wohnheim eindringen, die anderen lieferten sich Kämpfe mit der angerückten Polizei. Trotz massiven Widerstands der Polizei konnte das Gebäude verteidigt werden und existiert noch heute als freies Jugendzentrum. Das Haus wurde nach dem kurz zuvor von einem Polizisten erschossenen Mitglied der Haschrebellen Georg von Rauch benannt. Die Mitglieder von Ton Steine Scherben waren häufig anwesend in der Anfangszeit und verarbeiteten die Besetzung auch in ihrem Rauch-Haus-Song auf dem zweiten Album. Als 1972 in Tübingen der Lehrling Richard Epple, nachdem er betrunken zwei Straßensperren durchbrochen hatte, von einem Polizisten erschossen wurde, spielten Ton Steine Scherben ein Konzert. Im Anschluss besetzte die Band mit mehr als 400 Jugendlichen, Lehrlingen und Studenten ein altes Bankgebäude. Erst drei Wochen später verabschiedeten sich Ton Steine Scherben wieder nach Berlin. Später wurde das besetzte Gebäude zum öffentlichen Jugendzentrum umgebaut und existiert noch heute als solches. Auch in Ahrensburg besetzte die Band nach dem Konzert mit den Zuschauern ein leer stehendes Haus. Wie Reiser beschreibt, drehte sich langsam das Verhältnis zwischen Musik und Politik: Die Band wurde von Gruppen mit politischen Interessen engagiert, die sie mit dem durch die Scherben aufgebrachten Publikum nach dem Konzert umsetzten wollten. Durch aktive Beteiligung an Besetzungen und eindeutige Statements in Interviews hatten Ton Steine Scherben ihren Ruf als Hausbesetzer-Band. In dieser Funktion stürmten sie beispielsweise auch eine Opernvorstellung in Wuppertal und verlasen ihre politischen Positionen. Die Band reizte das Image weiter aus, indem teils zwischen den Songs Textpassagen aus der Mao-Bibel verlesen wurden. Bei Konzerten wurde auf der Bühne ein Banner angebracht mit Georg Büchner’s Parole Friede den Hütten, Krieg den Palästen. In den Folgejahren traten sie auf zahlreichen Demonstrationen, politischen Veranstaltungen, sowie Universitäts- und Hausbesetzung auf. Überwiegend waren die Anfragen für ‘Schülerstreik, Studentenstreik, zur Verhinderung angekündigter Fahrpreiserhöhungen, für geplante Hausbesetzungen, Knasthilfe, Rote Hilfe, Schwarze Hilfe oder anläßlich einer ASTA-Wahl.’ Da die meisten Anlässe im weitesten Sinne politischer Natur waren, wurde von Ton Steine Scherben häufig verlangt, aus Solidarität für niedrige Gagen oder lediglich Anfahrtskosten zu spielen. So manövrierte die Band sich in eine finanzielle Sackgasse, die durch die Wohnsituation – die Band fütterte schließlich die ganze Wohngemeinschaft durch – zusätzlich verschärft wurde. 8.2.4, Wohn- und Arbeitsgemeinschaft: T-Ufer: Die Oranienburg, eine leer stehende Fabriketage in Kreuzberg, wurde ab 1969 Wohn- und Arbeitsraum der Akteure aus dem Umfeld des HCT und der Roten Steine. Über den Kontakt zu dem SDS-Mitglied und Teach-In-Redner Jörg Schlotterer ergab sich die Möglichkeit eine neue Wohn- und Arbeitsgemeinschaft am Tempelhofer Ufer zu beziehen. Vorige Mitbewohner Schlotterers in der Wohnung waren unter anderem die RAF-Terroristen Holger Meins und Heinz Brockmann. Nach deren Untertauchen war die Wohnung ihr letzter gemeldeter Wohnort, was zahlreiche Razzien der Polizei zur Folge hatte und darum alle Mitbewohner ihren Personalausweis auch im Bett griffbereit haben mussten. ‘Nicht die Texte, sondern das ganze Auftreten und das soziale Umfeld machten eine Band zum Politikum’ Ton Steine Scherben nahmen vor allem die Lebenspraxis der Gegenkultur sehr ernst. Im T-Ufer wohnten neben der Band und Freunden auch zahlreiche Trebekinder, die aus Heimen oder von zuhause ausgerissen waren. Die Tür im T-Ufer stand jedem offen, Angehörige der Haschrebellen besuchten die Scherben hin und wieder, ebenso andere Bands wie Embryo, Sparifankal oder auch politisch Interessierte wie Paul Breitner, der selbst in Interviews teils mit Marxismus und Maoismus kokettierte. Nachdem die Besetzung des Rauch-Hauses zunehmend von Sozial-Arbeitern in Bahnen gelenkt und verregelt wurde, nutzten immer mehr Trebekinder und untergetauchte Kleinkriminelle das T-Ufer als Schlaf- und Essensstelle. Über die dadurch entstehenden und generell anfallenden Kosten kamen keine Konflikte auf, denn niemand wusste, wer eigentlich für Strom, Gas, Wasser und Telefon aufkam, ganz zu schweigen von der Miete. Trotzdem herrschte am T-Ufer immer Geldmangel, weshalb die große Gemeinschaft auf Spenden angewiesen war, oder einklauen gehen musste, was nahezu jeden Tag geschah. Das Tempelhofer Ufer platzte aus allen Nähten. Geld war nicht in Sicht und zu den kulinarischen Highlights der Scherben-Küche gehörte Salat mit Gummibärchen. Die Band hatte so erfolgreich allem Kommerz eine Absage erteilt, dass sie nun tatsächlich nichts verdiente. Die Szene aus der sie gekommen waren, war im Zerfall begriffen. Nicht nur politisch, auch musikalisch, künstlerisch war es eine Zeit der Stagnation. Die Zuspitzung der privaten Situation ging einher mit der immer stärkeren Einflussnahme von politischen Splittergruppen auf die Band, auch bezüglich der Songauswahl oder der Verkündung von poltischen Manifesten während der Konzerte. In Konsequenz davon löste sich die Band während einer Tour Ende 1972 zum ersten Mal auf. Trotzdem blieb die Wohngemeinschaft bestehen, gemeinsam veröffentlichte die Band 1973 das Songbuch Guten Morgen, unter Beteiligung aller Mitbewohner des T-Ufers. Erst 1974 begann die Band wieder an neuen Aufnahmen zu arbeiten, mit dem neuen Schlagzeuger und Mitbewohner Funky Goetzner. Dazwischen vertonten Rio Reiser und Lanrue unter Mithilfe der T-Ufer-Bewohner die Kinderplatte Herr Freßsack und die Bremer Stadtmusikanten.

Über den Autor

Florian Tobias Kreier ist Kulturaktivist, Musiker, Autor und Journalist. Der gebürtige Chiemgauer studierte in München Politologie, Philosophie und Literaturwissenschaften, widmete sich aber hauptsächlich seinem Steckenpferd Musik und sah die Universität deshalb eher selten von innen. Stattdessen arbeitete er für Stadtmagazine und Radiosender, trat mit verschiedenen Bandprojekten in halb Europa auf und veranstaltete Kulturhappenings, Konzerte und Festivals. Momentan ist Florian Kreier Mitglied der on3-Musikredaktion des Bayerischen Rundfunks, Herausgeber des Magazins für Fotografie und Literatur DER GREIF und veröffentlicht unter verschiedenen Pseudonymen Musik und Literatur.

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