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- Der Tod als existenzielles Phänomen bei Lev Nikolaevic Tolstoj und Anton Pavlovic Cechov
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Verlag:
Diplomica Verlag
Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH
Hermannstal 119 k, D-22119 Hamburg
E-Mail: info@diplomica.de
Erscheinungsdatum: 01.2016
AuflagenNr.: 1
Seiten: 76
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback
Der Tod ist eines der zentralen Themen der russischen Geistesgeschichte. Das russische Verständnis der Opposition von Leben und Tod unterscheidet sich stark von dem westlichen. Dies resultiert aus der besonderen Identität der russischen Kultur, die aus westlichen, östlichen, vor allem aber byzantinischen Einflüssen amalgiert wurde. Das folkloristische Verständnis des Todes lässt, auch wenn es durch die Christianisierung Russlands in den Hintergrund gedrängt wurde, den russischen Menschen in dem Glauben, dass die Toten in eine Welt gehen, die der der Lebenden ähnlich ist und dass die Verstorbenen das irdische Leben mitbestimmen können. Bei Lev Nikolaevic Tolstoj steht der Tod unmittelbar im Zusammenhang mit der Frage nach dem Sinn des Lebens. Einerseits: Wer aus dem Leben auszuscheiden wünscht, hat nach Tolstoj den Glauben an den Sinn des Lebens verloren. Anderseits: Man stirbt, wie man lebt. Nach den Werken Tolstojs geht es nicht einfach um den Tod, sondern um eine Abrechnung. Die Abrechnung mit dem gelebten Leben findet statt, indem die dem Tod geweihten Helden ihr Leben neu bewerten und so eine erlösende geistige Wahrheit finden. Für den religiös wenig motivierten Literaten Anton Pavlovic Cechov ist der Tod ein Teil des natürlichen Prozesses. Oft kommt der Tod in seinen Erzählungen vor, in vielen seiner späteren Werke wird die Todesthematik zum Hauptthema. Als Arzt hat Cechov, der selbst an Tuberkulose erkrankt war und mit 44 Jahren daran starb, ständig mit dem Tod zu tun. Im Gegensatz zu Tolstoj hat er seinen Frieden mit dem Tod geschlossen, der für ihn nicht moralische Besserung, sondern Erlösung von menschlichem Leid verspricht. In der vorliegenden Studie werden ausgewählte Texte Tolstojs und Cechovs unter der zentralen Fragestellung untersucht, wie der Tod als existenzielles Phänomen literarisch ganz ausgestaltet werden kann.
Textprobe: Kapitel 2.1.3 Die Verdrängung der Todesangst: Eng verwandt mit dem Topos des Todes ist die Angst, die als Todes- und Versagensangst den gesamten Erzählzyklus durchzieht. Deutlich wird dies beispielsweise an dem jungen Offizier Volodja, ein so angenehmer, hübscher Jüngling . Er betet: Wenn ich sterben muss, wenn es sein muss, dass ich vergehe, lass es geschehen, Herr, dachte er, lass es schneller geschehen bedarf es aber der Tapferkeit, bedarf es der Standhaftigkeit, die ich nicht habe, so gib sie mir, aber rette mich vor Schmach und Schande, die ich nicht ertragen kann, und lehre mich, was ich zu tun habe, um deinen Willen zu erfüllen. Der junge Offizier hat Angst zu versagen, ?????? ???????? . An der Front überkommt Volodja Todesangst: Wolodja bekam plötzlich furchtbare Angst: es schien ihm ständig, jeden Augenblick könnte eine Kanonenkugel oder ein Bombensplitter geflogen kommen und ihn gerade am Kopf treffen. Dieses feuchte Dunkel, alle diese Geräusche, besonders das grollende Plätschern der Wellen, schienen ihm zu sagen, er solle nicht weitergehen, ihn erwarte hier nichts Gutes, sein Fuß würde den russischen Boden jenseits der Bucht nie wieder betreten, er möge auf der Stelle umkehren und fliehen – weit, weit weg von dieser furchtbaren Stätte des Todes . Die Angst, als Feigling zu gelten, beschäftigt auch Praskuchin. Angesichts des Todes erschreckt Praskuchin und sieht mit egoistischer Befriedigung, daß Michailow […] unbeweglich und an ihn gedrückt, dicht zu seinen Füßen auf dem Bauche lag. Jedoch als er begreift, dass die Bombe gleich explodieren würde: Entsetzen – kaltes, alle anderen Gedanken und Gefühle lähmendes Entsetzen – ergriff sein ganzes Wesen er bedeckte das Gesicht mit beiden Händen und sank in die Knie. Der Schrecken des Todes streift den Mantel der Eitelkeit ab und der blanke Mensch, allen gesellschaftlichen Status beraubt, beugt sich vor ihm nieder. Die Angst … vor dem Tode ist ein angeborenes Gefühl des Menschen… liest ein Soldat aus dem Buch auf der Bastion. Das erinnert den aufmerksamen Leser an den vom Erzähler suggerierten Selbsterhaltungstrieb, mit dem er im ersten Teil des Erzählungszyklus konfrontiert wurde. Der Trieb wird plötzlich wach, aus dem Bewusstsein heraus, sich in der vordersten Linie zu befinden. Das nahe Pfeifen einer Kanonenkugel oder Bombe, gerade da wir den Berg zu besteigen beginnen, überrascht uns unangenehm. Wir begreifen auf einmal, und ganz anders, als wir es vorher begriffen, die Bedeutung der Kanonenschüsse, die wir in der Stadt gehört haben. […] unser eigenes Ich beginnt uns mehr zu beschäftigen als die Wahrnehmungen die Aufmerksamkeit für alles, was uns umgibt, nimmt ab, und da überkommt uns plötzlich ein unangenehmes Gefühl der Unentschlossenheit . Dieser Selbsterhaltungstrieb wird in der Kriegssituation zugunsten der großen Sache unterdrückt und sublimiert: Aber wir hören nicht auf diese schändliche Stimme, die sich plötzlich beim Anblick der Gefahr in unserem Innern vernehmen lässt, und bringen […] diese Stimme zum Schweigen. Angst – gerade Todesangst – dient sozusagen als natürlicher Schutzmechanismus dem Überlebensdrang des Menschen. Tolstoj hat diese Regung poetischer formuliert: Aber der Anblick des klaren Himmels, der strahlenden Sonne, der schönen Stadt, der offen stehenden Kirche und des Militärs, das sich nach allen Richtungen hin bewegt, versetzt unsern Geist schnell in den normalen Zustand des Leichtsinns, der Alltagssorgen und des Genusses der Gegenwart . Die Konzentration auf die Alltagsroutinen drängt die Angst – auch die Angst vor dem Tode – in den Hintergrund. Ohne diese Verdrängungsleistung ist normales Leben schlechterdings unmöglich. Nur so läßt sich die lähmende Angst überwinden, indem man die tödlichen Gefahren ausblendet. Während sich bei Tolstoj die aristokratischen Offiziere selbst am Vorabend des Tod bringenden Kampfes Mut zu sprechen, wächst der junge Offizier Volodja an der Herausforderung: Seine kindliche, eingeschüchterte, bedrängte Seele ward plötzlich von Mannesmut erfüllt. Dieser Reifeprozess angesichts von Todesgefahren ist ein Emanzipationsprozess im wörtlichen Sinne. Die kindlich abstrakte Angst weicht der konkreten Gefahr der Erwachsenenwelt: Die Angst vor der wirklichen Gefahr hatte die geheimnisvolle Angst vor Finsternis verdrängt . 2.1.4 Das große Vergessen: Die Geschichte eines Krieges wird immer von den Überlebenden geschrieben. Die Toten fallen dem Vergessen anheim. Tolstoj hat diese unumstößliche Wahrheit in einen Kontrast gebettet: Während die Überlebenden auf der Promenade spazierend über das Gefecht des Vortages und mit ihren meist frei erfundenen Heldentaten prahlen, scheinen die Gefallenen nahezu vergessen. Eindringlich erinnert Tolstoj dagegen den Leser: Nur Praskuchin, Neferdow und noch einige fehlten, an die hier wohl kaum jemand dachte und sich erinnerte, jetzt wo ihre Körper noch nicht gewaschen, geschmückt und unter die Erde gebracht waren, und die einen Monat später von ihren Vätern, Müttern, Frauen und Kindern genau so vergessen sein werden, falls sie sie hatten, und nicht schon früher von ihnen vergessen waren. Die Toten würden im Herzen der Überlebenden weiter leben – diesen Satz aus dem Repertoire eines jeden Trauerredners schenkt Tolstoj keinen Glauben: So ein Gestank! – das war alles, was unter den Menschen von diesem Menschen übriggeblieben war… . Der Tod stand dich daneben, als Michajlov und Praskuchin auf der Bastion von der Bombe überrascht werden. Richtig bemerkt Šklovskij, dass die Zeit durch Angst verdichtet ist, sie dauert jedoch nicht real an. In dem Moment als Praskuchin bewusst wird, dass die bald explodierende Bombe nur eine Elle von ihm entfernt ist und das kalte Entsetzen sein Wesen ergreift, heißt es, dass noch eine Sekunde verging – eine Sekunde, in der eine ganze Welt von Gefühlen, Gedanken, Hoffnungen und Erinnerungen im Geiste an ihm vorüberhuschte. Vor seinem inneren Auge huscht sein ganzes Leben in Form von nichtigen, unbedeutenden Dingen vorüber. Sogar angesichts des Todes verdrängt er die Angst durch Alltägliches, das in einem Fall um mit Šklovskijs Worten zu sagen aus kleingehacktem Müll besteht. Nach der Explosion, glaubt er nur eine Kontusion! zu haben. In seiner Wahrnehmung ziehen an Soldaten vorüber, erzählt sie. Tolstojs bedient sich einer besonderen Erzähltechnik, des inneren Monologs, um die Illusion des Lebens in der letzten Sekunde vor dem Sterben greifbar zu machen: Da fielen ihm die zwölf Rubel ein, die er Michailow schuldete, und noch eine Schuld in Petersburg, die er längst hätte bezahlen müssen ein Zigeunermotiv, das er gestern Abend gesungen hatte, huschte ihm durch den Kopf. Die Frau, die er liebte, stand vor seiner Phantasie in einer Haube mit lila Bändern der Mensch, der ihn vor fünf Jahren beleidigt und mit dem er für diese Beleidigung nicht abgerechnet hatte, fiel ihm ein, obgleich, untrennbar von dieser und tausenden anderen Erinnerungen, das Gefühl der Gegenwart – die Erwartung des Todes und das Entsetzen – ihn nicht einen Augenblick verließen . Geschickt reduziert Tolstoj das Auslöschen des Bewusstseins und aller Erinnerungen an früheres Leben auf den physiologischen Vorgang des Sterbens. Noch lebt Praskuchin: sein Mund war so trocken, daß ihm die Zunge am Gaumen klebte und ein schrecklicher Durst ihn quälte. Er fühlte, wie naß seine Brust war, - dieses Gefühl der Nässe rief ihm das Wasser in Erinnerung, und er hätte auch das trinken mögen, wovon seine Brust naß war. ‚Wahrscheinlich habe ich mich blutig geschlagen, als ich fiel’, dachte er. […] er nahm alle Kräfte zusammen und wollte schreien: ‚Nehmt mich mit’, aber statt dessen stöhnte er so schrecklich, dass es ihm fürchterlich war, es zu hören. Dann hüpften rote Flämmchen vor seinen Augen […] Er war durch einen Splitter mitten in die Brust getroffen und auf der Stelle getötet worden . Anders verhält sich mit ihn begleitenden Michajlov. Als er die Bombe erblickt, betet er zu Gott: Dein Wille geschehe! nach der Explosion ruft er ‘Herr, verzeih‘ mir meine Sünden! Der Mann scheint tot zu sein, fährt aber fort mit seiner Überlegung, gleich hier wird sein Tod widerrufen: ‘Nur das eine ist sonderbar’, dachte er, daß ich sterbend die Schritte der Soldaten und die Schüsse so deutlich höre’. Michajlov, der zu Beginn der zweiten Erzählung als ein Offizier geschildert wird, dessen niedrige Stirn […] geistige Beschränktheit, zugleich aber Besonnenheit, Ehrlichkeit und eine Neigung zu Anständigkeit verriet, hat aus Sicht Tolstojs durch die Nähe zu Gott einen ehrlicheren Zugang zum Leben und zur Realität. Daher kann er sich schnell in der lebensgefährlichen Situation orientieren, er hält sich nicht am Leben oder am verliehenen Orden, er erfüllt nur seine Pflicht.
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