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Verlag:
Diplomica Verlag
Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH
Hermannstal 119 k, D-22119 Hamburg
E-Mail: info@diplomica.de
Erscheinungsdatum: 11.2009
AuflagenNr.: 1
Seiten: 86
Abb.: 11
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback
Im 17. und 18. Jahrhundert, das sogenannte goldene Zeitalter des Kastratengesanges, wurden tausendfach Knaben aus dem einzigen Grund kastriert, um ihre kindliche Stimme zu erhalten. Bekannt sind uns heute noch die klangvollen Namen Farinelli und Caffarelli. Doch nicht jeder, der dieser Operation unterzogen worden war, erlangte solche Größe. Die Autorin wendet sich in ihrer Männlichkeitsstudie einer sozialen Randgruppe in Europa zu, welche sie aus einer historischen Perspektive beleuchtet.
Textprobe: Kapitel 3.6.2.2, Die organischen Besonderheiten der Kastratenstimme: Wenn ein Knabe vor der Geschlechtsreife kastriert wurde, so blieb als Folge und Hauptziel der Operation die typische Mutation zur tieferen Männerstimme aus und er erhielt eine Stimme mit einem seltsamen Klang. Um zu verstehen, was das Außergewöhnliche einer Kastratenstimme war, muss man erst mal wissen, wie die Stimme eines Menschen generell funktioniert und inwiefern sich der Stimmapparat eines Kastraten davon unterschied. Im Allgemeinen hängt die Höhe eines Tones von der Länge und der Spannung der Stimmbänder ab. Je kürzer die Stimmbänder sind, desto höher sind die Töne, die sie erzeugen. Die Stimmritze sitzt im Kehlkopf und verengt sich, wenn wir einen Ton erzeugen möchten zu einem schmalen Spalt. Hierbei spannen wir die Stimmbänder an. Der Atem wird durch die enge Ritze geführt, versetzt die Stimmbänder dabei in elastische Schwingungen und es entsteht ein Ton. Die Besonderheit der Kastratenstimme mit dem hohen Klang und dem langen Atem war auf drei organische Faktoren zurückzuführen: Eine verkürzte Stimmritze und Stimmbänder, einen kleineren Kehlkopf und eine vergrößerte Lunge und Brustkorb als bei einem erwachsenen Mann. Die Ausdehnung des Brustkorbes und der Lunge war eine Folge des verlängerten Körperwachstum und ermöglichte den Kastraten einen immens langen Atem. Zudem ähnelte der Aufbau des kompletten Stimmapparates in der Größe einer Frau bzw. Kindes und wies keine Alterungserscheinungen auf. So befand sich auch das Zungenbein in einem Zustand, ‘wie man ihn nur bei ganz jungendlichen Personen anzutreffen gewohnt ist’. Der Aufbau und Zustand der Stimme, der für einen erwachsenen Mann ungewöhnlich war, war auf die nicht eingetretene Pubertät und die nur gering ausgeschütteten Sexualhormone zurückzuführen. Die Folge war der eigentümliche Stimmklang und die hohe Stimmlage. Außerdem ermöglichte es die besondere Form der Stimme sehr schwierige Passagen mit Leichtigkeit zu bewältigen. Stimme ohne Geschlecht oder eine Stimme mit zwei Geschlechtern? Unter dieser Überschrift werden die Punkte 3.6.2.1. und 3.6.2.2. im Hinblick auf die Diskussion in 4. unter dem Aspekt der Geschlechtlichkeit eines Kastraten betrachtet. Sezierte man den Stimmapparat eines Kastraten, so fand man nicht die typischen Stimmorgane vor, die man bei einem Mann erwarten würde. Denn die Stimmorgane eines Kastraten ähnelten anatomisch gesehen keineswegs den Stimmorganen eines Mannes, sondern denen einer Frau bzw. eines Kind. Erstaunlicherweise drang jedoch durch diesen kleinen Stimmapparat eine enorme Kraft, die über die eines nicht kastrierten Mannes noch weit hinaus reichte. Diese abnormale Kraft war die Folge einer vergrößerten Lunge und Brustkorb. Diese Organe wuchsen aufgrund der Kastration stärker als bei einem nicht operierten Mann. Außerdem war ihr Stimmapparat äußerst langlebig und alterte nicht. Die meisten Kastraten traten noch bis zu ihrem Tod auf, was bei Sängern damals wie heute unüblich war bzw. ist. Folglich konnte sich ein Kastrat lebenslang durch seine Stimme einen kindlichen Teil bewahren. Doch nicht nur die Stimmorgane, sondern auch der Kastratengesang vereinte kindliche, weibliche und männliche Merkmale in einer Stimme. Denn die Kastraten konnten nicht nur in Registerlage und Tonhöhe ohne jeglichen Bruch wie ein Kind und eine Frau in die Höhe singen, sondern hatten zusätzlich die Tiefe eines Bariton, also eines Mannes. Das Opernhaus machte sich schließlich die kindlichen, weiblichen und männlichen Stimmmerkmale in der Stimme der Kastraten zu Nutze. Denn die meisten Gesangskastraten debütierten in jungen Jahren in Frauenrollen, und wechselten erst Jahre später in das sogenannte männliche Heldenfach. Es wurde berichtet, dass sie die Frauenrollen nicht durch schauspielerisches Können, sondern durch ihre weibliche elegante Ausstrahlung gepaart mit ihrer hohen Stimme, perfekt verkörperten. Der italienische Komponist Filippo Vitali (1590-1653) z.B. lobte in seinem Vorwort zu der Oper L’Aretusa den Kastraten Guidobaldo Bonetti in der Rolle der Flora: ‘Flora stellte so wunderbar die edlen weiblichen Sitten einer Nymphe mit zarter und offener Stimme dem Publikum vor Augen, daß man glauben mochte, sie sei tatsächlich eine Jungfrau’. So mancher Kastrat konnte aus diesem Grund einen späteren Wechsel ins männliche Heldenfach kaum bewerkstelligen. Die barocken Heldenrollen, wie z.B. die Titelrolle des Kaisers, wurden in einer Oper im 17. und 18. Jahrhundert für hohe Stimmen geschrieben, dem Heldensopran. Dieser Stil war ein Charakteristikum der sogenannten opera seria und ein Stil, der sich mit dem Aufblühen der opera buffa veränderte. Ab der opera buffa war es zunehmend üblich, dass die klassischen Helden von einem Tenor gesungen wurden. Tenöre wurden in der opera seria selbst in Nebenrollen nicht gerne gesehen. Der Held war die Versinnbildlichung und der Inbegriff der Männlichkeit. Dieser Inbegriff von Männlichkeit wurde zu Zeiten der opera seria von hohen Stimmen, den Kastraten, und nicht wie heute üblich, von eher tiefen Stimmen verkörpert. Es gab auch durchaus Kritik an den hohen Kastratenstimmen, wenn sie die Helden sangen. Diese Kritik wurde vor allem von Männern geäußert. Somit sah nicht jeder die hohe Stimme als Ideal eines Helden an. Die meisten störten sich jedoch nicht daran, dass die Kastraten mit einer weiblichen Stimme und ohne Bart auftraten. Von der wenigen Kritik an den Kastraten in Heldenrollen abgesehen, war die hohe Stimmlage und somit die Stimme der Kastraten in Italien mit Heldentum, Jugend und Göttlichkeit verbunden. ‘Der Liebling der Götter, so will es das barocke Klangideal, soll überirdisch schön singen. Seine Stimme zeugt von einer anderen Welt. Sie ist himmelweit entfernt von der Erdenschwere eines Baritons oder gar eines Basses’. Diese Stimme war so berauschend, dass die Leute von den Rängen ‘Eviva il coltello – es lebe das Messerchen’ riefen. Ein weiteres Merkmal der opera seria war, dass die Partien der Kastraten, wenn sie die männlichen Helden darstellten, oftmals in einer höheren Lage arrangiert wurden als die Partien der Primadonnen bzw. der anderen Frauen. Das bedeutet, dass der Mann höher als die Frau sang. Ein Stil, den man häufig im 18. Jahrhundert antraf und sich wiederum erst in der opera buffa veränderte. Beispielsweise in Claudio Monteverdis ‘Krönung der Poppäa’ wurde der Kaiser Nero von einem Sopran(-Kastraten) gesungen, wohingegen die Frauenstimmen von einem Alt bzw. Mezzosopran gesungen wurden. Neben diesen Betrachtungen der Kastratenstimme auf der Bühne, darf man nicht vergessen, dass ebenso die Sprechstimme eines Kastraten infolge der Operation hoch war und sich sehr von einer gewöhnlichen männlichen Sprechstimme unterschied. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Aufbau und die Klangfarbe der Stimme eines Kastraten der eines Kindes bzw. einer Frau glich. Der Stimmapparat war bis ins hohe Alter jung wie der eines Kindes. Die Kraft mit der ein Kastrat sang, konnte wiederum nur ein Mann aufbringen. Die meisten Kastraten sangen die Partien von Frauen und seltener Männerpartien. Wenn sie jedoch den Wechsel in das männliche Fach schafften, so stellten sie nicht irgendeinen Männertyp dar, sondern ein Männlichkeitsideal.
Sibylle Unser, geboren 1982 in Nürnberg, studierte klassischen Gesang im Stimmfach Mezzosopran bei Ursula Cron und Gabriele Czerepan. Anschließend absolvierte sie ein Studium der Sozialen Arbeit mit dem Schwerpunkt Musiktherapie in Würzburg. In ihrer Studie sucht die Autorin die Verbindung zwischen ihren beiden Studiengängen.
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