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- Das Nibelungenlied als Volksbuch: Friedrich Heinrich von der Hagen und der moderne Mythos des ‚Nibelungenliedes‘
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Verlag:
Diplomica Verlag
Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH
Hermannstal 119 k, D-22119 Hamburg
E-Mail: info@diplomica.de
Erscheinungsdatum: 04.2013
AuflagenNr.: 1
Seiten: 108
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback
Der Begriff ‘Nibelungen’ ist weitgehend bekannt und nicht nur in akademischen oder anderweitig gelehrten Kreisen, sondern auch unter der breiten Bevölkerungsmasse. Die Vorstellungen, die sich hinter diesem Begriff verbergen, sind oft vage: Nibelungenlied, Nibelungensage, Nibelungenstoff Termini, die gerne in der allgemeinen Auffassung durcheinander geworfen werden. Doch wie steht es mit dem mittelhochdeutschen Text, dem Epos, dem eigentlichen Nibelungenlied? Forschungsliteratur zu der nicht-akademischen Rezeption und dem allgemeinen Bekanntheitsgrad des Liedes gibt es reichlich. Die Rezeptionsgeschichte des Nibelungenliedes ist vielseitig und dementsprechend auch die verschiedenen Deutungsmodelle, die seit seiner ‚Wiederentdeckung‘ 1755 entstanden sind. Die Stilisierung des Epos zum ‚deutschen Nationalepos‘ zieht sich gleich einem roten Faden durch seine moderne Rezeptionsgeschichte. In dieser Studie wird die These diskutiert, dass es keine Rezeption des Nibelungenliedes gibt, die nicht direkt oder indirekt beeinflusst ist durch seine eigene, semantisch aufgeladene Rezeptionsgeschichte. Diese ist maßgeblich gekennzeichnet durch die völkisch-nationale Deutung Friedrich Heinrich von der Hagens diejenige, die im Bewusstsein der Allgemeinheit überlebt hat und auch bis heute noch Echos in der wissenschaftlichen Bearbeitung findet, gewollt oder nicht.
Textprobe: Kapitel 3, Die Möglichkeiten einer kontextfreien Rezeption: Es wird in dieser Arbeit die These vertreten, dass eine Rezeption des Nibelungenliedes, die frei ist von seiner eigenen, bedeutungsträchtigen Wirkungsgeschichte, nicht möglich ist. In diesem Abschnitt soll darauf eingegangen werden, wie Bedeutungen überhaupt zustande kommen, und wie sie beim Interpretieren von literarischen Texten entstehen. Gibt es überhaupt die Möglichkeit einer textimmanenten, kontextfreien Rezeption des Nibelungenliedes? Dies soll erforscht werden durch einen Blick auf die Grundlagen der Rezeptionsforschung und der Theorien über das Verstehen von Texten. 3.1, Sinnzuweisungsstrategien im Prozess des Verstehens: Theorien der Bedeutungszuweisungen bei literarischen Texten: Es wurde im vorherigen Kapitel mehrmals darauf hingewiesen, dass das Nibelungenlied gewisse Bruchstellen in seinem Inhalt aufweist, die es relativ unmöglich machen, es auf befriedigende Weise zu deuten, besonders, wenn man als Rezipient eine textimmanente Interpretation anstrebt, wie es die Forschung nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges getan hat. Methodische Werkinterpretation vermutet ‘bei ihrem Forschungsgegenstand die Anlage zur Einheitlichkeit’ , und inhaltliche und formale Zusammenhänge sind nötig, denn wenn ‘Einzelteile nicht alle auf ein gleiches Bezugszentrum verweisen, sind sie sinnlos’ , besonders, wenn diese Einzelteile die Bausteine eines großen, epischen Werkes bilden. Bei einem inhaltlich homogenen Werk müssten sich methodische Interpretationsarten anwenden lassen, um zu einem mehr oder minder einheitlichen Ergebnis zu kommen, oder überhaupt zu einem Ergebnis. Wie bereits festgestellt wurde, trifft dies auf das Nibelungenlied nicht zu. Um zu begreifen, was passiert, wenn man einen Text liest, muss man sich erst einmal folgende Frage stellen: Was sind literarische Texte? Die Philologie des neunzehnten Jahrhunderts machte es sich zum Ziel, die gesamte Kultur zu erforschen. Literatur war das Medium einer Kultur, in den meisten Fällen der einzige Zeuge. Literatur, Kultur und Sprache bildeten in dieser Hinsicht eine Einheit, welche - in einem philologischen Sinn - den Geist einer Nation repräsentierte. In dieser Einheit hatte die Literatur einen Ehrenplatz, und die Erforschung der Literatur war der Weg zum Verstehen einer Nation. Seit dem Beginn der Entwicklung der modernen Literaturtheorien lassen sich Terry Eagleton zufolge grob drei Phasen ausmachen: Eine Beschäftigung mit dem Autor im neunzehnten Jahrhundert, eine mit dem Text (New Criticism), und eine Verschiebung der Aufmerksamkeit auf den Leser im letzten Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts. Diese Einteilung ist mittlerweile auch schon teilweise veraltet, da nicht nur der Leser im Mittelpunkt steht, sondern auch erneut der Text, jedoch nicht seine Strukturen, sondern das, was er möglicherweise über den Menschen preisgibt: Kultur, Klasse, Gender etc. Im Grunde genommen, wie Karlheinz Stierle behauptet, ‘ist die Literaturwissenschaft auf der Suche nach ihrem Gegenstand, und eher noch scheint es oft, als sei sie auf der Flucht vor ihm. Die Geschichte der Literaturwissenschaft ist die Geschichte ihrer Orientierungskrisen’ . Was verschiedene Literaturtheorien voneinander unterscheidet ist die Tatsache, dass sie divergierende Vorstellungen ihres Forschungsobjektes haben, d.h. was die zu erforschende Literatur eigentlich ist. In der Literaturforschung wird das Objekt durch den Forscher bestimmt, nicht umgekehrt. In dem Sinne scheint es naiv zu glauben, man könne Literatur erforschen auch wenn man der Theorie den Rücken kehrt, denn es kann keine Literatur außerhalb unser eigenen Konstruktionen geben wenn die Grundannahme lautet, dass literarische Werke nur zustande kommen als Resultat der Interaktion zwischen Text und Rezipient. In der Rezeptionsästhetik Wolfgang Isers und Hans Robert Jauß‘ wird argumentiert, dass ein literarisches Werk alleinstehend keine eigene Identität habe, sondern nur im Akt der Rezeption. Wo Jauß sich allerdings auf die Rolle der Rezeptionsgeschichte im Prozess des Begreifens von Literatur konzentriert, waren Isers Anliegen eher die Reaktionen auslösenden Strukturen eines Textes. Seine These war, dass ein literarischer Text das Wirkungspotential ist, welches durch die Interaktion zwischen Text und Rezipient entsteht. Dabei ist es wichtig, den Unterschied festzuhalten zwischen Wirkungstheorie und Rezeptionstheorie. Für Iser liegt der Hauptunterschied darin, das seine Theorie der Wirkung den literarischen Text untersucht, um den Effekt auf den Leser zu erklären. Eine Rezeptionstheorie beschäftigt sich mit dem konkreten Leser, dessen Reaktionen Zeuge sind gewisser historisch konditionierter Leseerfahrungen. Das Hauptanliegen der Wirkungsästhetik ist, die Besonderheit der Reaktion des Lesers auf den Text (die Wirkung) zu erklären. Was aber geschieht denn mit dem Leser, wenn er sich mit einem literarischen Text befasst? Wie lassen sich die Besonderheit dieser Wirkungen erklären? In der traditionellen Hermeneutik wird der Akt des Lesens verstanden als eine Suche nach den verschiedenen Ebenen der Bedeutung innerhalb eines Textes. Dies ist eine Betrachtungsweise, die Iser von sich weist, denn seiner Ansicht nach wird Bedeutung erst durch den Leser konstruiert und auf den Text projiziert, nicht umgekehrt. Bedeutung ist in diesem Sinne ein Effekt, der nur durch den Akt des Lesens zu erreichen ist. So gesehen gibt es keine ultimative Bedeutung, die zu erschließen ist, die sich im Text verborgen hält, sondern sie wird dem Text durch den Rezipienten zugesprochen sie ist ein Produkt der Interaktion zwischen beiden. Zu behaupten, die Bedeutung sei im Text selbst verborgen hieße laut Iser, einen Text auf eine bestimmte Bedeutung zu reduzieren . Die Grundidee lautet also, dass der Akt des Lesens keine Einbahnstraße von Text Richtung Leser sei, sondern in beide Richtungen gehe, was das Lesen zu einem dynamischen Prozess mache. Die kreative Rolle, die der Leser in diesem Prozess einnehme, käme von der Unbestimmtheitsstellen des Textes. Iser behauptet, dass der Leser diese Unbestimmtheitsstellen selbst ausfüllt, indem er sein eigenes Weltwissen hinein projiziert. Im Falle des Nibelungenliedes gibt es sehr viele Unbestimmtheitsstellen, die vom Leser ausgefüllt werden müssen, um diesem eine das ganze Werk umfassende Bedeutungsstruktur zuweisen zu können. Eine dem Text eigene Bedeutung ist nicht zu finden, allein schon wegen seiner inneren Widersprüchlichkeit, aber wenn Bedeutung erst im Prozess des Lesens entsteht, so wird klar, warum in den fast zweihundert Jahren von der Zeit seiner ‚Wiederentdeckung‘ im Jahre 1755 bis zum Ende der ‚nationalen‘ Rezeption 1945 es immer wieder möglich war, das Nibelungenlied als Mittel zum Zweck zu benutzen, es einzubinden in ideologische oder politische Absichten. Es scheint auch klar, warum es nach Zusammenbruch des Dritten Reiches nicht möglich schien, eine Deutung des Liedes zustande zu bringen, die textimmanent war und losgelöst von seiner eigenen Wirkungsgeschichte. Indem man versucht, keine Bedeutung in das Lied hineinzuinterpretieren, sondern es als Produkt seiner Zeit zu verstehen, kann man ihm keine Bedeutung abgewinnen, und es wird reduziert auf seine eigenen, internen Bruchstellen. Wenn man aber das Werk und seine Wirkung innerhalb des Kontextes seiner bekannten Rezeptionsgeschichte analysiert, so ist es stigmatisiert durch die zwei Jahrhunderte überspannende ‚nationale‘ Deutung, welche nicht komplett abgelegt werden kann, auch nur, wenn der moderne Interpret aktiv versucht, sich von ihr zu lösen.
Cristina Nissen, M.A., wurde 1983 in São Leopoldo, Brasilien geboren. Ihr Studium der deutschen und englischen Philologie an der Georg-August-Universität in Göttingen schloss die Autorin im Jahre 2012 mit dem akademischen Grad der Magistra Artium erfolgreich ab. Durch Ihre Arbeits- und Studienaufenthalte in Ländern wie England, Südafrika und den USA, entstand ihr Interesse an Wahrnehmung und kultureller Identität, welche maßgeblich das Verstehen und Interpretieren literarischer Werke beeinflusst. Die Autorin lebt zurzeit in Berlin und widmet sich ihrer Dissertation.
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