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Gesellschaft / Kultur


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Produktart: Buch
Verlag: disserta Verlag
Erscheinungsdatum: 12.2014
AuflagenNr.: 1
Seiten: 120
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback

Inhalt

Psychoanalytische Interpretationen haben immer wieder versucht, herauszufinden, was Werther hätte retten können. Obwohl menschlich verständlich, führen diese Fragestellungen nicht allzu weit. Interessieren kann allerdings, warum der Protagonist in Goethes Werther-Roman von einer so starken Todessehnsucht getrieben wird, die letztlich dazu führt, dass er scheitert. Was ist es also, das Werther das Leben so unerträglich macht, dass er Selbstmord begehen will und diese Tat schließlich auch ausführt? Diese Frage wird in der vorliegenden Arbeit eingehend untersucht. Dazu wird Werthers Charakterstruktur über seine Anschauungen zu den Bereichen Gesellschaft, Kunst, Natur und Religion analysiert. Des Weiteren wird Werthers Vorstellung von der idealen Liebe diskutiert, die sich ihm als einzige verbliebene Möglichkeit bietet, der Isolation des Ich zu entkommen und einen Ausgleich in einer ansonsten defizitär erlebten Welt zu erlangen.

Leseprobe

Textprobe: Kapitel 3, Werther und die Kunst: Der Status von Werthers Familie in der Gesellschaft hat es ihr einerseits ermöglicht und andererseits wohl auch von ihr gefordert, ihn mit den Erzeugnissen der abendländischen Kultur vertraut zu machen, denn Bildung gilt seinerzeit als das Mittel des Bürgertums zur Emanzipation. Der Umgang mit klassischen griechischen Denkern und Schriftstellern wie Homer ist Werther ebenso vertraut wie der mit den zeitgenössischen Schriftstellern sowie philosophischen und theologischen Denkern. Selbstverständlich ist ihm auch Klopstock kein Unbekannter, und die Dramen Ossians kennt er so gut, dass er sie sogar aus dem Original ins Deutsche übersetzt. Es stellt sich die Frage, ob Werther die Beschäftigung mit Kunst, sei es nun die Malerei, die Literatur, die Gespräche mit anderen Menschen über Kunst oder seine zwar recht dilettantische, doch immerhin vorhandene eigene künstlerische Betätigung, in die Lage versetzt, Isolationsgefühle zu überwinden, und ob ihm die Kommunikation mithilfe von Kunst gelingt. Dies soll im Folgenden erörtert werden. 3.1, Erste Annäherung an Lotte mittels Literatur: Schon auf der Fahrt zum Ball, am Tag ihrer ersten Begegnung, stellen Werther und Lotte im Gespräch über Literatur Gemeinsamkeiten fest. Lotte erzählt von ihrer Vorliebe für das Lesen und für bestimmte Autoren. Werther vermag nachzuvollziehen, warum Lotte einem bestimmten Autor nichts abgewinnen kann. Die ebenfalls anwesende Cousine Lottes, die ihr ein Buch empfahl und auslieh, kann über ihre Kritik daran nur spöttisch die Nase rümpfen. Diese Unterhaltung dient zum einen zur Verdeutlichung der Vorlieben beider für die gleiche Lektüre, stellt also eine Gleichgestimmtheit beider heraus, zum anderen grenzt es beide gegen andere ab und macht sie so zu seelisch Verbündeten gegenüber der Außenwelt. Lotte lobt ausdrücklich Oliver Goldsmiths Roman ‘Der Landpfarrer von Wakefield’, in dem die Geschichte des wechselvollen Lebens einer Pfarrerfamilie geschildert wird, die immer dann, wenn sie glücklich und zufrieden ist, von Schicksalsschlägen heimgesucht wird. Werther findet großen Gefallen an dem, was Lotte darüber zu sagen hat. Während Lotte jedoch vorzieht, in Romanen ihre eigene kleine Welt gespiegelt zu sehen, also im eigentlichen Sinne Literatur schätzt, die identifikatorische Angebote macht und in der von ihr gelebten Realität bleibt beziehungsweise diese nachzuzeichnen vermag, empfindet Werther diese Lektüre zwar ebenfalls als angenehm und bevorzugt auch einen identifikatorischen Umgang mit Dichtung, doch begibt er sich auch aus seiner Alltagsrealität hinaus und sucht identitätsstiftende Momente in der Literatur über antike, archaische Gesellschaftsformen wie in der Odyssee Homers, sodass deutlich wird, dass beide von völlig anderen Voraussetzungen ausgehen. Darüber spricht Werther allerdings nicht, er stützt Lotte in all ihren Ausführungen und zieht den Schluss, dass Lotte ihre Ansichten so vergnügt vor ihm ausbreite ‘weil sie an mir fühlte, dass ich sie verstand’. 3.2, Werther als Leser: Zu den von Goethe nicht explizit genannten Autoren, die im Werther aber unterschwellig präsent sind, gehört zweifellos Rousseau. Seine Philosophie, die in der Zusammenfassung seines Wollens in dem Ausruf ‘Zurück zur Natur’ im Frankreich der Aufklärung für Furore sorgt, ist gleichzeitig Kritik an den Auswüchsen der zivilisierten Gesellschaft und verfolgt das Ziel der Umkehr zu einem natürlichen Leben. Rousseau ist in etlichen Ausführungen Werthers spürbar, etwa in seiner Kritik an den gesellschaftlichen Konventionen, in seinem Plädoyer für Natürlichkeit, Einfachheit und Menschlichkeit, in seinem Begreifen der Natur als Zufluchtsort oder in seiner Antipathie gegen klassizistische Kunsttheorien. Ein Buch, das ebenfalls nicht explizit genannt wird, dessen sich Werther aber immer wieder in Anspielungen und Zitaten bedient, ist die Bibel. Neben der latent vorhandenen Literatur gibt es auch solche, zu der sich Werther entweder direkt äußert oder sich aber als ihr Leser präsentiert. Andererseits gibt es aber auch Bücher, mit denen er sich offenbar nicht mehr beschäftigen will. So lehnt er das Angebot Wilhelms, ihm seine Bücher zu schicken, schroff ab. Er schreibt am 13. Mai 1771: ‘Du fragst, ob du mir meine Bücher schicken sollst? – Lieber, ich bitte dich um Gotteswillen, laß sie mir vom Halse! Ich will nicht mehr geleitet, ermuntert, ange-feuret sein braust dieses Herz doch genug aus sich selbst ich brauche Wiegengesang und den habe ich in seiner Fülle gefunden in meinem Homer.’ Aus Werthers Wahl der Partizipien ‘geleitet’, ‘ermuntert’ und ‘angefeuert’ lässt sich schließen, dass es sich bei den Büchern, die er um keinen Preis haben will, um sogenannte Erbauungsliteratur handeln könnte, der Werther nun offensichtlich nichts mehr abgewinnen kann, oder aber um wissenschaftliche, theoretische oder philosophische Literatur. Wenn er sagt, er brauche Wiegengesang, findet sich hier zum einen der Hinweis auf das Verlangen nach Beruhigung, die Homer ihm zu geben vermag, zum anderen zeigt sich hier die erste Anspielung auf seinen Wunsch zur Regression in eine kindliche Phase des Daseins, den er im weiteren Verlauf seiner Briefe immer wieder thematisieren und variieren wird. Doch nicht nur den Büchern, die Wilhelm für immerhin so wichtig erachtet, dass er sie ihm nachschicken will, sondern auch akademisch gebildeten Zeitgenossen steht er mit einem Hang zum Skeptizismus und einem Überlegenheitsgefühl gegenüber. Einem jungen Akademiker, der -offenbar erfreut darüber, dass Werther die griechische Sprache beherrscht und zeichnet wie er selbst auch- auf dieser Basis geistige Verwandtschaft demonstrieren will, begegnet er mit Desinteresse. Sein Gesprächspartner kennt sich in ästhetischen Theorien aus, spricht von Batteux und Wood, von de Piles und Winckelmann und versichert ihm, er habe den ersten Teil von Sulzers Theorie ganz gelesen. Werther schließt diesen Bericht an Wilhelm lapidar: ‘Ich ließ das gut sein’, was einerseits eine gewisse Arroganz erkennen lässt, andererseits auch eine Spur von Langeweile zeigt. Auch in der Episode mit den beiden alten Nussbäumen zeigt Werther, dass er glaubt, sich aufgrund der Vorliebe eines Menschen für bestimmte Literatur -wenn auch nicht ausschließlich durch diese Neigung- ein Bild von dem jeweiligen Menschen machen zu können. So erfahren wir von Werther über die Frau des neuen Pfarrers, dass sie Schriften von Theologen wie Kennikot, Semler und Michaelis gelesen hat, über die Schwärmereien Lavaters aber nur die Achseln zuckt. Die weitere Charakterisierung der Pfarrersfrau als ‘hageres kränkliches Geschöpf’, das auf ‘Gottes Erdboden keine Freude’ habe, spricht ebenfalls zuungunsten der von ihr bevorzugten theologischen Schriften. Die Literatur soll Werther nicht Grundlage für abstrakte Diskussionen über menschliche Belange sein, sondern er erwartet von ihr, dass sie ihn gefühlsmäßig berührt. Um sich auf diese Weise ansprechen zu lassen, muss jedoch eine gewisse Fähigkeit zur Emotionalität vorhanden sein, eine Fähigkeit, die er der Pfarrersfrau abspricht. Doch auch seiner eigenen Imaginationskraft sind Grenzen gesetzt, wenn es darum geht, es als Tatsache anzuerkennen, dass schon vor ihm Menschen gelitten haben. Ihre beschriebenen Schicksale trösten ihn nicht, und Werther schreibt: ‘ Manchmal sag ich mir: Dein Schicksal ist einzig preise die übrigen glücklich – so ist noch keiner gequält worden dann lese ich einen Dichter der Vorzeit, und es ist mir als säh‘ ich in mein eignes Herz. Ich habe so viel auszustehen! Ach sind denn Menschen vor mir schon so elend gewesen?’ Auch hier wird ihm die Literatur zur identifikatorischen Plattform, doch verneint er den Trost, den er bei den antiken Dichtern zu finden vermag, im nächsten Augenblick wieder und bezweifelt, dass sein Leid mit dem anderer Menschen vergleichbar ist. 3.2.1, Klopstock: Wichtiger als die Tatsache, dass Werther liest, ist das, was er liest. Klopstock ist einer der von ihm favorisierten Autoren. Der Dichter Friedrich Gottlieb Klopstock wird vom Sturm und Drang als Begründer einer Dichtung gefeiert, in der sich eine neue Gefühlskultur offenbart, die sich in dichterischer Kraft aus der Tiefe des Gefühls und des persönlichen Bekenntnisses speist. Lotte und Werther haben sich gerade kennengelernt und befinden sich auf dem Ball, als dieser jäh von einem Gewitter unterbrochen wird. Um nachvollziehen zu können, warum dieses natürliche Ereignis eine solche Sensation darstellt und Angst und Schrecken auszulösen vermag, muss man versuchen, sich in die Lage eines Menschen im ausgehenden 18. Jahrhundert zurückzuversetzen. In dieser Zeit ist Gewitterangst auch bei erwachsenen und aufgeklärten Zeitgenossen eine selbstverständliche Angelegenheit. Nicht ohne Grund versucht Lotte, die offenbar ohne Angst ist, die Teilnehmer des Tanzvergnügens zunächst durch ein Spiel von ihrer Furcht vor dem Gewitter abzulenken. Es mehren sich etwa seit den Zwanzigerjahren des 18. Jahrhunderts die Gedichte und Musikstücke, die sich mit der Thematik des Gewitters befassen. Dies erklärt sich weniger aus dem Entstehen eines sogenannten Naturgefühls, sondern vielmehr aus dem Wert von Gefühlen, die den Erscheinungen einer bedrohlichen Natur abgewonnen werden können. Die Philosophie Kants fasst dieses Erleben unter der Kategorie des Erhabenen und schreibt ihm einen moralischen Wert zu. Die Angst des Menschen vor der Natur verwandelt sich so in Ehrfurcht vor der Schöpfung und ihrem Schöpfer. Dass Lotte und Werther die Einzigen sind, die ans offene Fenster treten, spricht dafür, dass diese neue Sichtweise, ein in gewisser Weise bedrohliches Naturschauspiel zum Genuss zu machen oder aber aus den gemischten Gefühlen zwischen Furcht und Lust einen Lustgewinn zu ziehen, noch nicht sehr weit verbreitet sein kann. Lotte ist aber ganz offensichtlich durch die Lektüre Klopstocks in einer Weise vorgebildet, die sie befähigt, das Gewitter als Schauspiel zu betrachten und zu genießen. Klopstock ist die Losung, über die Werther und Lotte ihre gemeinsamen Empfindungen angesichts des Gewitters erkennen. Das Gespräch über Literatur und Werthers Verstehen der Ansichten Lottes gipfelt im Höhepunkt in der Szene am offenen Fenster: Lotte spricht nur das eine Wort: Klopstock. Mehr ist nicht nötig, um in Werther eine Fülle von Assoziationen auszulösen und ihm gleichzeitig zu zeigen, dass ihm mit Lotte eine gleich gestimmte Seele gegenübersteht. Richard Alewyn gibt zu bedenken, dass es nur dieser eine Dichtername habe sein können. Man solle einmal versuchen, den Dichternamen Klopstock durch einen anderen, etwa ‘Gottsched’, ‘Opitz’ oder sogar ‘Horaz’ zu ersetzen, und weist auf das Groteske einer solchen Ersetzung hin. Allein mit der Nennung dieses Namens, aber verstärkt durch das Wie des Aussprechens (Lotte schaut nach draußen, dann himmelwärts, dann zu Werther als ihrem Seelenverwandten ihre Augen sind tränenfeucht.) und Werthers sofortigem Verstehen, was sie damit meint, zeigen beide ihre Neigung für empfindsame Lyrik an. Erst in der Zweitfassung von 1787 fügt Goethe Lottes Ausruf ‘Klopstock’ Werthers Erläuterung hinzu: ‘Ich erinnerte mich sogleich der herrlichen Ode die ihr in Gedanken lag und versank in dem Strome von Empfindungen, den sie in dieser Losung über mich ausgoß.’ Gemeint ist die Ode ‘Die Frühlingsfeier’, in der die Offenbarung Gottes im Gewitter gepriesen wird. In der überarbeiteten Fassung lässt Goethe Werther zwar jetzt den Hinweis auf eine Ode geben, sagt aber nicht explizit, welches Gedicht von Klopstock gemeint ist. Allen, die Klopstock nicht kennen oder nicht viel von ihm gelesen haben, muss diese Wendung ein Rätsel sein. Umso deutlicher ist die Nennung des Dichternamens für die Anhänger des Sturm und Drang, denn mit Werthers Reaktion auf dieses eine Wort markiert Goethe völlig eindeutig, wie sehr Werther und Lotte einander in ihren Empfindungen ähnlich, ja verbunden, sind. Das Reflektieren über Literatur und ihre Verfasser, insbesondere aber das Dichterlob, ist zu allen Zeiten ein bekannter literarischer Topos. Der Unterschied zur Anspielung auf die Ode durch Lotte liegt darin, dass sie hiermit nicht etwa eine Unterhaltung über Literatur beginnen will, sondern den Dichternamen ausspricht, um eine Seelenlage, eine Empfindung auszudrücken.

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