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Gesellschaft / Kultur

Silke Wedemeyer

Systemimmanente Gewalt in der Altenpflege - Ursachen und Präventionsmöglichkeiten

ISBN: 978-3-95425-668-6

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Produktart: Buch
Verlag:
disserta Verlag
Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH
Hermannstal 119 k, D-22119 Hamburg
E-Mail: info@diplomica.de
Erscheinungsdatum: 09.2014
AuflagenNr.: 1
Seiten: 212
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback

Inhalt

Gewalt in der Pflege alter Menschen ist systemimmanent, da Gewalt nicht nur personell, sondern auch strukturell und kulturell wirksam wird. Die vorliegende Studie liefert eine ausführliche Übersicht zu den Ursachen und Präventionsmöglichkeiten auf den verschiedenen Ebenen. Vertiefend werden fehlende Fähigkeiten im Bereich der Personalkompetenz als beteiligter Faktor an der Entstehung von personeller Gewalt untersucht. Als relevante Fähigkeiten wurden dabei Reflexions- und Empathiefähigkeit sowie Kreativität identifiziert. Auf der Grundlage konstruktivistischer Überlegungen wurde ein Unterrichtsprojekt mit Altenpflegeschüler/innen im dritten Ausbildungsjahr durchgeführt, welches diese Fähigkeiten steigern sollte. Die Ergebnisse werden hinsichtlich ihrer Bedeutung für Gewaltprävention und ethische Entscheidungsfindung in der Altenpflege, sowie für die theoretische und praktische Altenpflegeausbildung interpretiert.

Leseprobe

Textprobe: Kapitel 1.2, Ursachen von Gewalt in der Pflege alter Menschen: Die Erscheinungsformen gewalttätigen Handelns sind in der Altenpflege analog der Definition der WHO ebenso variabel wie die Gründe. Diese sind in den institutionellen Rahmenbedingungen ebenso zu finden wie in den Persönlichkeiten der Pflegekräfte oder der zu Pflegenden. Dabei tritt Gewalt eher auf, wenn Pflegekräfte situationsbedingt überfordert sind, kaum oder keine Hilfs- und Entlastungsangebote vorhanden sind und die soziale Kontrolle fehlt. Zusätzliche Faktoren sind auf Seiten der Pflegenden die tatsächlich oder vermeintlich fehlende soziale Anerkennung oder Unterstützung (auch im familiären Umfeld), Schlafmangel, Überlastung, psychische Erkrankungen und unzureichende Selbstkontrollkompetenzen. Insbesondere psychische Erkrankungen oder das Empfinden von Überlastung mit den entsprechenden Versagensängsten sind ein hoher Risikofaktor. Auf der Seite der Pflegebedürftigen stellen geistige oder körperliche Einschränkungen und ein Alter von über 80 Jahren ein erhöhtes Risiko dar, Opfer von Gewalt zu werden. Weitere Erklärungsmodelle und Begriffsdefinitionen liefern die Bezugsdisziplinen der Pflegewissenschaft wie Medizin, Soziologie und Psychologie. Obwohl aufgrund der unterschiedlichen, wissenschaftlichen Zugänge der Gewaltbegriff nach wie vor nicht generalisierbar ist, werden in allen Disziplinen Konnotationen wie Herrschaft, Macht, Zwang, Aggression oder Autorität deutlich. Daran lässt sich die Komplexität der Thematik ablesen: ‘Beinahe alle genauen Untersuchungen des Phänomens Gewalt zeigen, dass dieses nicht nur extrem vielgestaltig ist, sehr unterschiedliche Qualitäten besitzen kann und es nicht nur eine beträchtliche Spannweite an (gängigen) Definitionen gibt, sondern auch vielfältigen Auseinandersetzungen um die mögliche Definitionshoheit dessen, was Gewalt jeweils ist oder sein soll’. Eine weitere Herausforderung stellt die Abgrenzung der Gewalt von Aggression dar, die von der Schädigungsabsicht her definiert wird, die Gewalt dagegen von der Wirkungsabsicht. Die Aggressionsforschung liefert jedoch wichtige Erkenntnisse, da davon ausgegangen wird, dass Aggression eine grundlegende Entwicklungsstufe bei der Entstehung von Gewalt darstellen kann. In der Aggressionsforschung bietet die Psychologie mehrere Erklärungsmodelle aus dem Behaviorismus, der Instinkt- oder Triebtheorie sowie der Frustrations-Aggressionstheorie für die Entstehung aggressiver Handlungen. Diese werden in der internationalen und deutschsprachigen Literatur eingehend dargestellt, so dass an dieser Stelle nur exemplarisch die Motivationstheorie skizziert wird. Diese verbindet Erkenntnisse aus der medizinischen Forschung (neurophysiologische und hormonelle Grundlagen) und Soziologie (Bindungsverhalten, Helfen, Fürsorge) mit psychoanalytischen und lerntheoretischen Ansätzen aus der Aggressionsforschung. Berücksichtigt werden weiterhin Persönlichkeitsmerkmale, Biografie, erziehungsbedingte Entwicklungen, kulturelle Einflüsse, Motiv und Hemmung der aggressiven Gefühle. Interessant für die Erforschung der Gewalt in der Pflege ist dabei der Fokus auf der Erforschung des sozialen Verhaltens. Aus den Forschungsergebnissen der Motivationstheorie lassen sich individuelle Determinanten herausstellen, die an der Aktivierung, Konkretisierung, Ausführung und Kontrolle der Ausübung einer Aggressions-Handlung beteiligt sind. Menschen, die von professionellen Pflegekräften gepflegt werden, haben sowohl einen moralischen als auch gesetzlichen und vertraglichen Anspruch auf gewaltfreie Pflege in allen Lebensbereichen. Aufgrund der typischen, kognitiven Einschränkungen und biographischer Erfahrungen sind sie zwar häufig an der Entstehung von Konflikten beteiligt, doch sollten professionell Pflegende einen adäquaten Umgang mit Konfliktsituationen beherrschen. Das vorderste Ziel von Maßnahmen zur Gewaltprävention in der Pflege alter Menschen ist, vermeidbares Leiden der zu Pflegenden durch Handeln und Verhalten von Pflegekräften zu verhindern. 1.3, Formen von Gewalt in der Pflege alter Menschen: Sowohl Pflegekräfte, als auch zu Pflegende werden von Aspekten der kulturellen, institutionellen bzw. strukturellen und personalen Gewalt beeinflusst. Dabei stehen diese drei Formen in einem systematischen Zusammenhang. Zur kulturellen Gewalt zählen ‘jene Aspekte, die dazu benutzt werden können, direkte oder strukturelle Gewalt zu rechtfertigen oder zu legitimieren’. Als Beispiel seien hier ethische, religiöse oder tradierte Werte, Ideologien aber auch Theorien, wie z. B. Altersbilder in der Gesellschaft genannt. Gesellschaftlich weitgehend unreflektiert bleibt dabei die Rolle der Medien, die mit Wortschöpfungen wie ‘Alterslawine’ oder ‘Generationenkonflikt’ Ängste schüren. Kulturelle Gewalt stellt also eine Größe dar, die vom einzelnen Menschen durchaus als statisch erlebt werden kann, da sich Veränderungen nur langsam vollziehen. Der tatsächliche Einfluss auf die Pflegekräfte und damit auch auf die zu Pflegenden findet über die Vorannahmen über Alter, Erwartungshaltungen an Pflegekräfte, das zugrundeliegende Menschenbild, das Selbstverständnis über die jeweilige Rolle und die durch die Sozialisation internalisierten Wertvorstellungen statt. Aspekte der strukturellen Gewalt sind z. B. gesetzliche Rahmenbedingungen, Heimordnungen, Dienstpläne, Verfahrensanweisungen, aber auch ‘ungeschriebene’ Gesetze wie intern festgelegte Handlungsabläufe. Diese Form von Gewalt ist also nicht sichtbar und nur indirekt spürbar, aber von großer Reichweite. Durch sie wird das Machtgefälle in der Beziehung zwischen Pflegekräften und zu Pflegenden, insbesondere in der stationären Altenpflege, manifestiert, weil ‘repressive Strukturen durch die summierte und konzentrierte Aktion von Menschen aufrechterhalten werden.’ Kennzeichnend ist also, dass zwar kein direkter Schaden zugefügt wird und keine direkte Subjekt-Objekt-Beziehung besteht, aber dennoch ein enormer Anpassungsdruck entsteht: Pflegekräfte sind durch Personalknappheit mit daraus resultierender Arbeitssituation und Dienstplangestaltung, baulichen Gegebenheiten, fehlende Ausstattung mit Hilfsmitteln etc. belastet, was sich wiederum auf adäquate Versorgungsmöglichkeiten und die Beziehungsgestaltung zu den zu Pflegenden auswirkt und somit auf deren Lebensqualität. Aspekte der personalen Gewalt sind Vernachlässigung oder Misshandlung, die von einer Person ausgehen, offen oder verdeckt auftreten können und eine andere Person zum Opfer machen. Diese Form von Gewalt wird i. d. R. von den an der Situation Beteiligten wahrgenommen und von einer situativen oder situationsübergreifenden Dynamik begleitet. ‘Personale Gewalt, die in größerem Maße von den Launen und Wünschen einzelner abhängig zu verstehen ist, zeigt im Allgemeinen weniger Stabilität als die strukturelle Gewalt. Infolgedessen ist personale Gewalt leichter festzustellen’. Vernachlässigung wird als Unterlassung von Handlungen bezeichnet, ‘die situationsadäquat wäre im Sinne des erkennbaren Bedarfs oder expliziten Wunsches des Adressaten dieser Nicht-Handlung, wobei die Unterlassung bewusst oder unbewusst aufgrund unzureichender Einsicht/unzureichenden Wissens erfolgt’. Die Möglichkeit des bewussten oder unbewussten Nicht-Handelns führt zur Differenzierung von passiver (Unterlassung aufgrund des Nicht-Erkennens des Hilfebedarfs) und aktiver (bewusste Handlungsverweigerung) Vernachlässigung. Als Beispiel sei unzureichende Pflege mit Folgen wie Mangelernährung, Dehydration, Decubiti, Kontrakturen oder fehlende Hygiene genannt. Unter Misshandlung wird ein ‘aktives Tun, das den Adressaten dieser Handlung in seiner Befindlichkeit in spürbarer Weise negativ berührt bzw. seinem expliziten Wunsch deutlich widerspricht’ verstanden. Misshandlung wird in vier Formen unterschieden: physische, psychische, finanzielle Misshandlung und die Einschränkung des freien Willens. Die Definitionen von Vernachlässigung und Misshandlung entsprechen in Ihrer Gesamtheit der Definition der WHO. Aus der Gesamtansicht der Formen von Gewalt, die auf Pflegekräfte und zu Pflegende einwirken, ergibt sich, dass auch mögliche Präventionsmaßnahmen auf den gleichen Ebenen ansetzen müssen, da Gewalt kein monokausales Geschehen ist. An dieser Stelle muss ein weiteres Kriterium für die Abgrenzung des Begriffs der Gewalt eingesetzt werden, nämlich das der ‘Vermeidbarkeit’. Viele Handlungen von Pflegekräften erfüllen die Kriterien für gewalttätiges Handeln, sind jedoch unvermeidbar, um Leben zu retten oder schlimmere Konsequenzen, die aus einem Nicht-Handeln entstehen würden, zu verhüten. Dennoch sind gerade die Aspekte der strukturellen Gewalt geeignet, eine scheinbare Unvermeidbarkeit der personalen Gewalt zu begründen, da sich Pflegekräfte, wie in diesem Kapitel sichtbar wurde, in dem Spannungsfeld zwischen kulturellen, strukturellen und personalen Einflüssen auf ihre Entscheidungsfindung im pflegerischen Handeln bewegen. 1.4, Prävention von Gewalt in der Pflege alter Menschen: Mögliche Präventionsmaßnahmen lassen sich anhand unterschiedlicher Modelle darstellen. An dieser Stelle soll die Einteilung der Gewaltformen aus dem vorherigen Kapitel fortgeführt werden. Obwohl sämtliche Aspekte der verschiedenen Formen von Gewalt sich gegenseitig beeinflussen, gleichzeitig auf Pflegekräfte und zu Pflegende einwirken und damit ein ganzheitlich erscheinendes Phänomen bewirken, werden die Ebenen auch in der Darstellung der Präventionsmöglichkeiten getrennt betrachtet. Es gilt also festzustellen, welche Maßnahmen bezüglich der Prävention kultureller, struktureller und personaler Gewalt als wirksam erachtet werden können. Die erste Notwendigkeit auf der kulturellen Ebene wäre eine gesellschaftliche Sensibilisierung für Gewalt gegen alte Menschen analog zu der bereits bestehenden Sensibilität für Gewalt gegen andere Gruppen schwächerer Menschen, z. B. Frauen und Kinder. Zur Entwicklung einer entsprechenden Sensibilität gehört ein breiter gesellschaftlicher Diskurs, der die Pflege alter Menschen diskutiert. Solange nach dem Motto ‘es kann nicht sein, was nicht sein darf’ kaum valide Zahlen über die Gewalt gegen alte Menschen in der Pflege erarbeitet werden, bestehen weder ein Anlass noch eine Grundlage für eine solche Diskussion, die von der Gesellschaft wahrgenommen würde. Die fehlende politische Diskussion, die zurzeit ausschließlich von den Berufsverbänden unter der Fragestellung ‘Welche Pflege wollen wir?’ geführt wird, hat insbesondere für die Altenpflege in Deutschland zur Folge, dass sich die strukturellen Rahmenbedingungen nicht verbessern. Mögliche Präventionsmaßnahmen im Bereich der kulturellen Gewalt wären also die Verbesserung der Forschungslage, die Sensibilisierung der Öffentlichkeit und politischer Entscheidungsgremien, eine sachliche Berichterstattung der Medien ohne Skandalisierung und ein Abbau der Altersdiskriminierung. Die Folgen der kulturellen Gewalt lassen sich direkt auf der Ebene der strukturellen Gewalt ablesen. Das fehlende öffentliche Bewusstsein für die Arbeitsbedingungen und die Tabuisierung von Missständen in der professionellen Altenpflege führten in den letzten Jahren zu einer schlechten Position der Pflegevertreter in den Verhandlungen mit den Pflegekassen, mit der Folge viel zu niedriger Vergütungsvereinbarungen. Die fehlende finanzielle Ausstattung der ambulanten und stationären Altenpflegeinstitutionen hat eine zu geringe Personalausstattung zur Folge. Darüber hinaus stehen kaum Fachkräfte auf dem Arbeitsmarkt zur Verfügung, da über viele Jahre hinweg der Ausbildung von einer ausreichenden Zahl an Altenpfleger/innen keine Aufmerksamkeit von Seiten der zuständigen Stellen geschenkt wurde. Mögliche Präventionsmaßnahmen wären hier die transparente Darstellung der Missstände in den Institutionen, die Thematisierung der Probleme des Pflegepersonals, der zu Pflegenden und der Angehörigen. Auch die adäquate Ausstattung des pflegerischen Umfelds mit entsprechenden Hilfsmitteln, Schulungsmaßnahmen, die Implementierung von regelhafter Supervision, Fallbesprechungen und ethischer Konsile können zur Entlastung der Pflegekräfte beitragen. Ebenfalls beeinflussen die Organisationsform der Pflege-Einrichtungen, das Verhalten von Vorgesetzten und deren Kommunikation mit den Mitarbeitern/Mitarbeiterinnen, Verfahrensanweisungen, das Betriebsklima sowie die Umsetzung der Leitbilder Pflegekräfte in ihrem Handeln. Auf der personalen Ebene führt die strukturelle Gewalt zu schlechten Arbeitsbedingungen in der professionellen Altenpflege. Dienstzeiten am Rande der Legalität und Handlungs- und Verfahrensanweisungen, die die Belange der zu Pflegenden kaum berücksichtigen, sind eher die Regel als die Ausnahme. Die Arbeitsbedingungen führen häufig zu Gefühlen der Überforderung und Überlastung. Obwohl die gleichen Ausbildungsvoraussetzungen und die gleiche Ausbildungsdauer für die Altenpfleger/innen wie für die Gesundheits- und Krankenpfleger/innen gelten, sind das Prestige und die Bezahlung der Gesundheits- und Krankenpfleger/innen wesentlich höher. Die Erfahrung der Abwertung führt zu einer zusätzlichen In-Frage-Stellung der eigenen Tätigkeit und Wertigkeit und damit der eigenen Person. Die daraus resultierende Unzufriedenheit kann zu Demotivation führen, die sich schließlich in Gewalt äußert. Weitere Faktoren können direkt in der Persönlichkeit der Pflegekraft liegen: unreflektierte Motive des Helfens, Machtmotive und biografische Faktoren (z. B. eigene Gewalterfahrungen) können ebenso zur Entstehung von Gewalt beitragen wie fehlende Kommunikations- und Empathiefähigkeit. Überzogene Erwartungen an das eigene, pflegerische Handeln, unreflektierte Erwartungshaltungen gegenüber den zu Pflegenden und auch mangelnde Strategien zum Ausgleich des Erlebens von Leid und Sterben können zum emotionalen Rückzug beitragen, der empathisches Handeln ausschließt. Mögliche Präventionsmaßnahmen auf der personalen Ebene wären Deeskalationstraining, Gesundheitsförderung, Entspannungstraining, das Erlernen geeigneter Gesprächstechniken, Schulungen zur Steigerung von Reflexionsfähigkeit und Empathie.

Über den Autor

Silke Wedemeyer wurde 1962 in Siegen geboren. Sie war viele Jahre selbstständig als Dozentin im Bereich Gesundheit in Berlin und Hannover sowie als Heilpraktikerin tätig, bevor sie 2005 ihre Ausbildung als Gesundheits- und Krankenpflegerin in Braunschweig abschloss. Während ihrer Tätigkeit in der stationären und ambulanten Krankenpflege absolvierte sie eine Weiterbildung zur Fachkraft für Leitungsaufgaben in der Pflege und leitete einen ambulanten Pflegedienst, bis sie im Jahr 2010 eine Stelle als Lehrkraft an einer Berufsfachschule für Altenpflege in Braunschweig übernahm. Ihr berufsbegleitendes Studium als Master of Science in Gesundheits- und Pflegepädagogik an der Donau-Universität Krems schloss die Autorin 2013 ab.

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