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- Professionalität und Autorität in der psychiatrischen Pflege: Eine empirische Studie zum Verhalten von psychiatrischen Pflegefachkräften in Konfliktsituationen
Gesellschaft / Kultur
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Verlag:
disserta Verlag
Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH
Hermannstal 119 k, D-22119 Hamburg
E-Mail: info@diplomica.de
Erscheinungsdatum: 04.2015
AuflagenNr.: 1
Seiten: 180
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback
Warum tun Pflegende das, was sie tun (Orem, 1997) - diese Frage an Pflegende in der Praxis gerichtet, wird sehr häufig damit beantwortet: Weil der Arzt es angeordnet hat. Diese Aussagen sind weitgehend unabhängig vom Ort der jeweiligen Pflegepraxis. Selbst in Einrichtungen der Altenpflege oder Wohneinrichtungen für chronisch psychisch kranke Menschen, in denen keine Ärzte präsent sind, bleibt die Antwort gleich. Wenn ärztliche Anordnung dann auch noch als nicht gut oder gar als schlecht erlebt bzw. erkannt werden, verändert sich die Antwort nur insofern, dass sie lautet: Weil der Arzt es angeordnet hat und ich dagegen nichts machen kann. Bei der Beschäftigung mit der jüngeren Geschichte der Pflege, vor allem der Pflege im Nationalsozialismus, entsteht bei solchen Antworten, wenn sie heute noch gegeben werden, ein ungutes Gefühl. Für mich stellte sich die Frage: Ist es auch heute noch möglich, dass Pflegende, gegen das eigene Wissen und gegen die eigene Überzeugung, nur aufgrund einer ärztlichen Anordnung, von ihnen abhängigen Menschen Schaden zufügen oder diesen in Kauf nehmen würden? Auf diese Frage, die sich im Grunde genommen auf das gute und richtige Handeln in der Pflege bezieht, stand lange Zeit ein JEIN als Antwort im Raum. Um etwas mehr Klarheit darüber zu bekommen, wie Pflegekräfte in der Psychiatrie sich bei Problemen, auch ethischer Art, entscheiden und argumentieren, wurde diese empirische Studie durchgeführt.
Textprobe: Kapitel 2.4.2, Ethische Prinzipien und moralisches Handeln in der psychiatrischen Pflege: Die Psychiatrie hat in der allgemeinen Gesundheitsversorgung einen Sonderstatus. Die meisten Menschen, die in ein Krankenhaus gehen, tun das freiwillig, weil sie sich krank fühlen, oder ihnen gesagt wurde, dass sie krank seien und professioneller Hilfe bedürfen. Sie haben in der Regel eine Krankheitseinsicht und erwarten für sich von der Krankenhausbehandlung Hilfe. Dies trifft für die Mehrzahl der Menschen, die eine psychiatrische Abteilung an einem Allgemeinkrankenhaus oder ein psychiatrisches Krankenhaus aufsuchen, ebenfalls zu, aber nicht für alle. Es gehört nun einmal zum Wesen mancher psychotischen Erkrankung, dass dem Erkrankten die so genannte Krankheitseinsicht fehlt. Dies ist als Symptom und nicht als böser Wille oder Verweigerungshaltung des Betroffenen zu sehen und zu verstehen (Finzen 1991, Bock 1997). Dies bringt es mit sich, dass psychiatrisch Tätige immer wieder vor der Frage stehen, ob das, was der Mensch uns mitteilt oder zeigt, seine persönliche und freie Entscheidung, der Person zugehörig oder möglicherweise ein Symptom seiner psychiatrischen Erkrankung ist. Wenn Frau Meier aus dem vierten Stock springen will, weil sie der festen Überzeugung ist, sie könne fliegen, so ist das noch relativ einfach beurteilbar. Es ist aber nicht unbedingt Eifersuchtswahn, wenn Frau Müller glaubt, ihr Mann würde sie mit seiner Sekretärin betrügen. Mit einer ausreichenden Dosierung an Neuroleptika können allerdings beide Vorstellungen für einige Zeit oder dauerhaft unterdrückt werden. Im ersten Fall wird damit möglicherweise das Leben gerettet, im zweiten Fall möglicherweise, nicht zuletzt wegen der Nebenwirkungen der Neuroleptika, gegen die Menschenwürde verstoßen. Hinzu kommt, dass es auch bei Menschen in einer akuten Psychose immer wieder Momente gibt, in denen die Betroffenen sehr wohl zu klaren Entscheidungen fähig sind (Zehentbauer 1992, Dörner 1996, Schädle – Deininger 1996, Bock 1997). Gerade weil dies so ist, ist verantwortungsvolles psychiatrisches Handeln, im Sinne eines professionellen Handelns, ohne ethische Reflexion nicht denkbar. Eine erste Orientierung hierzu lässt sich aus den genannten ethischen Prinzipien ableiten, wobei allerdings nicht selten einzelne Prinzipien, wie nachfolgend beschrieben, im Widerspruch zueinander stehen. Prinzip 1: Wert des Lebens/Achtung vor dem Leben: In der psychiatrischen Arbeit haben wir es öfter auch mit Menschen zu tun, die aus unterschiedlichen Gründen keinen Sinn mehr in ihrem Leben sehen und die Selbsttötung dem Weiterleben vorziehen. 1989 kamen auf 100 000 Einwohner in der BRD 16,35 Suizide. Die Zahl der Suizidversuche war zehnmal so hoch, die Dunkelziffer ist unbekannt (Dörner/Plog 1996, S. 336). Nicht selten, eher ist es die Regel, werden Menschen nach einem gescheiterten Suizidversuch in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Die Gründe, die dazu führen, dass ein Mensch den Tod dem Leben vorzieht, sind sehr unterschiedlich. Verzweiflung, Ausweglosigkeit, Angst, Hoffnungslosigkeit, Verlust, missglückte Altersadaption, Schmerzen durch Krankheiten und psychiatrische Erkrankungen, insbesondere Depressionen und Neurosen, seltener Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis werden für suizidale Handlungen am häufigsten genannt (Ringel, 1976). Nach Ringel ist der Mensch das einzige Lebewesen, dass die Möglichkeit besitzt, sich absichtlich selber umzubringen (vgl. ebd. S. 12). Die gesellschaftliche Bewertung einer suizidalen Handlung ist kulturell sehr unterschiedlich. In Japan wird der Suizid als heroische Tat verehrt, im eher katholisch geprägten Irland als Verbrechen betrachtet (vgl. Dörner/Plog 1996, S. 337). In der deutschen Psychiatrie wird eine suizidale Handlung als absolute Zuspitzung einer Krise betrachtet, in der der betroffene Mensch seine Handlungsalternativen (bis auf eine) verloren hat. Zugleich aber wird auch angenommen, dass sich nach einer Überwindung der Krise wieder Handlungsalternativen eröffnen. Psychiatrisches Handeln ist somit darauf ausgerichtet, den Suizid zu verhindern und gleichzeitig mit dem Patienten andere Bewältigungsformen zu entwickeln. In akuten suizidalen Krisen kommt es vor, dass ein Mensch oft über Tage fixiert und medikamentös sediert sowie rund um die Uhr überwacht werden muss, um am Leben zu bleiben. Der Wert des Lebens an sich steht hier über allen anderen Prinzipien. In den meisten Fällen wird dies von den psychiatrisch Tätigen als notwendiger Teil der Arbeit gesehen, in dem Wissen, dass es andere Wege der Krisenbewältigung geben wird. Es kommt aber auch vor, dass psychiatrisch Tätige vor der Frage stehen, welchen Sinn das Leben eines Menschen für ihn denn noch haben kann und ob seine Entscheidung, seinem Leben ein Ende zu setzen, verständlich ist und von ihnen nur hinausgezögert werden kann. Hierzu ein Beispiel: Herr Müller, 38 Jahre alt, von Beruf Kraftfahrer, verschuldet in angetrunkenem Zustand einen Unfall, bei dem seine Ehefrau, seine beiden Kinder und zwei weitere Menschen ums Leben gekommen sind. Er selber ist nur leicht verletzt und versucht, sich in der chirurgischen Klinik zu erhängen. Er wird bewusstlos aufgefunden, muss reanimiert werden und wird nach zwei Wochen Intensivstation in die psychiatrische Klinik verlegt. Aufgrund des Sauerstoffmangels durch die Strangulation sind bleibende Störungen der Koordination, der Sprache sowie epileptische Anfälle (grand-mal-Anfälle) aufgetreten. Sein Denken ist nicht beeinträchtigt und sein Wunsch, dem Leben mit allen Mitteln ein Ende zu setzen, führt im psychiatrischen Team zu kontroversen Diskussionen. Wir wissen, dass es uns wahrscheinlich gelingen wird, einen Suizid während des Aufenthaltes in der psychiatrischen Abteilung zu verhindern. Gleichzeitig sehen aber auch wir keine Perspektiven für ihn. Er wird nie wieder selbständig leben können, und er hat alles, was für ihn bedeutsam war, verloren. Für ihn hat das Leben keinen Wert mehr, der für uns aber handlungsleitend ist. Dabei sind wir ziemlich sicher, dass wir den Suizid nur hinauszögern können. Wir haben und mussten uns für den Wert des Lebens entscheiden. Herr Müller wurde nach acht Wochen psychiatrischer Behandlung in die geschlossene Abteilung eines Pflegeheimes verlegt. Er starb bei einem epileptischen Anfall (status epileptikus) in der ersten Nacht im Pflegeheim. Den Wert des Lebens zu achten, ihm oberste Priorität einzuräumen und alles daran zu setzen, Leben zu erhalten, ist auch in der psychiatrischen Arbeit zu Recht handlungsleitend. Ohne unbedingte Achtung dieses Prinzips wäre der Willkür, wie die jüngere Vergangenheit gezeigt hat (Steppe, 1993), Tür und Tor geöffnet. Prinzip 2: das Gute/das Richtige tun: An dieser Stelle könnte als erstes die Frage diskutiert werden, ob Psychiatrie überhaupt gut und richtig sein kann. Hierzu gibt es sehr kontroverse Aussagen und die Erkenntnisse aus der Soteria-Bewegung z.B. (Ciompi 1982, Bock/Weigand 1991, Watzlawik 1997, Bock 1997) zeigen, dass auch ohne unsere existierende Psychiatrie psychisch kranken Menschen, vielleicht besser geholfen werden kann(vgl. Watzlawik 1997, S. 369-420). Diese Frage kann hier aber nicht zu Ende diskutiert werden. Es gibt die Psychiatrie und oberstes Ziel muss es sein, die psychiatrische Versorgung so menschlich wie nur möglich zu gestalten. Dazu gehört es in erster Linie auch, sich das Prinzip des Richtigen und Guten zu eigen zu machen. Dieses Prinzip verlangt: (1) dass wir das Gute über das Schlechte stellen (2) dass wir weder Schaden noch Schlechtes verursachen (3) dass wir Schaden oder Schlechtes verhindern (Tschudin 1996, S. 45). Nicht selten stellt sich im psychiatrischen Alltag aber die Frage, was in dieser Situation das Gute, was das Richtige ist. Mitunter hat der Patient völlig andere Vorstellungen von dem, was gut und richtig für ihn ist, als die professionellen Helfer. Nicht immer haben die Professionellen dabei die besseren Argumente oder das größere Wissen, sondern die größere Macht. Diese Macht kann dazu verleiten, dass das, was sie für richtig und gut halten, dem Patienten in der Hoffnung übergestülpt wird, dass es sich im Nachhinein als richtig und gut erweist. Häufig ist es so und das Handeln wird durch den Erfolg legitimiert, solches Handeln darf aber nicht zur unreflektierten Regel werden. Beispiel: Petra S. wird wegen drohender Verwahrlosung, bei Verdacht auf eine schizophrene Psychose, richterlich eingewiesen. Sie lebt seit zwei Jahren in einer Sozialwohnung und wurde vom ambulant-psychiatrischen Dienst (APD) einmal pro Woche aufgesucht. Sie arbeitete stundenweise in einer beschützten Einrichtung und kam bisher ganz gut zurecht. Seit vier Wochen geht sie nicht mehr zur Arbeit und der Kontakt zum APD wurde abgebrochen. Seit einer Woche hat sie die Wohnung nicht verlassen, konnte aber durch die verschlossene Tür angesprochen werden. Der behandelnde Nervenarzt und der APD sahen eine Gefahr für Petra S. und erwirkten eine richterliche Einweisung in eine psychiatrische Klinik. Die Wohnungstür musste aufgebrochen und Frau S. mit der Polizei in die Klinik gebracht werden. Frau S. hat sich seit mindestens einer Woche nicht mehr gewaschen, sie roch sehr stark, ihre Haare waren verfilzt, sie zeigte Ausschläge am Hals, unter den Armen, am Bauch und im Genitalbereich. Ihr Ernährungszustand war hingegen gut. Auch war sie ansprechbar und bereit, ein paar Tage zu bleiben und auch Medikamente einzunehmen. Der Versuch, sie zu einem Bad zu überreden oder sie von einer Dusche zu überzeugen, löste panische Angst bei ihr aus. Nur mit Gewalt wäre dies möglich gewesen. Auf der anderen Seite war sie in einem Zustand, der für alle Beteiligten eine Zumutung darstellte.
Bernd Meyer: geb. 1961, Krankenpfleger, Pflegesachverständiger, Pflegepädagoge, Dipl. Pflegewirt, M.A., 30jährige Tätigkeit in der psychiatrischen Arbeit, Leitungs- und Lehrtätigkeiten in psychiatrischen/gerontopsychiatrischen Weiterbildungen, Studium der Erziehungswissenschaften sowie Pflege- und Gesundheitswissenschaften (Hagen, Osnabrück, Darmstadt). Seit 2001 in leitender Funktion in stationären und teilstationären Altenhilfeeinrichtungen mit gerontopsychiatrischen Schwerpunkten tätig. Lehrbeauftragter für Pflegewissenschaft, Gerontologie, Psychiatrie und Ethik (HFH, BAGSS). Diverse Veröffentlichungen zu berufspolitischen Themen, Ethik, Demenz und psychiatrischer Pflege, aktiv im DBfK. Aktiver Radsportler und Hobbybastler.
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