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Gesellschaft / Kultur
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disserta Verlag
Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH
Hermannstal 119 k, D-22119 Hamburg
E-Mail: info@diplomica.de
Erscheinungsdatum: 08.2015
AuflagenNr.: 1
Seiten: 132
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback
Kosovo, Libyen, Syrien und aktuell die Ukraine: Das Ende des Ost-West-Konfliktes war nicht das Ende der Geschichte. Auch 2015 ist die Frage von ungeminderter Bedeutung, wie sich eine Weltgemeinschaft zu innerstaatlichen (Herrschafts-)Konflikten und Menschenrechtsverletzungen verhalten soll. Interventionen sind in diesem Zusammenhang ein strittiges Mittel, um vermeintlich ungerechtfertigter innerstaatlicher Gewalt international zu begegnen. Gerechter Krieg? Humanitäre Intervention? Schutzgewalt? Ganz gleich, wie kontrovers in Politik, Gesellschaft und Wissenschaft gestritten wird – vor die (Interventions-)Entscheidung gestellt bleibt oft nur Ratlosigkeit. Intervenieren oder nicht intervenieren – was ist hier die Frage? Abseits des gängigen Für und Wider zu Interventionen sucht das vorliegende Werk nach einer grundlegenderen Problemstruktur. Die politisch stets konfliktbehaftete Legitimierung von Gewalt zur Limitierung von Gewalt ist hierbei Ausgangspunkt. Mit Blick auf die konzeptionellen und praktischen Entwicklungen der letzten beiden Jahrzehnte wird erörtert, was die Grundbedingungen der Legitimität von Interventionen sind.
Textprobe: Kapitel 2.3. Die Legitimierung von Gewalt zur Limitierung von Gewalt: Um die ethische Antinomik von konkreten humanitären Interventionsentscheidungen und darüber hinaus jene Antinomien, die sich mit Blick auf die Stellung von Interventionen innerhalb der politischen Ordnung der Staatenwelt ergeben, aufzeigen zu können, bedarf es einer Rückbesinnung auf die neue Stoßrichtung, die dem konzeptuellen Interventionismus spätestens seit den 1990er Jahren in Abgrenzung zu früheren Interventionsbegründungen zu Grunde liegt. Die spezifische Idee, die sich mit dem postbipolaren Begriff der humanitären Intervention verbindet, bringt Michael Walzer auf den Punkt wenn er herausstellt, diese seien nicht um der Demokratie, der freien Marktwirtschaft, der ökonomischen Gerechtigkeit, freiwilliger Vereinigung oder irgendwelcher anderer gesellschaftlichen Praktiken oder Einrichtung willen erlaubt, die wir für die Länder anderer Leute erhoffen oder sogar fördern können. Ihr Ziel ist seinem Charakter nach durch und durch negativ: Es soll ein Tun beendet werden, das, um den alten, aber zutreffenden Ausdruck zu verwenden, das ‚Gewissen der Menschheit schockiert‘. Diese Grundidee darf dem Begriff der humanitären Intervention nicht durch den regelmäßigen (und teils leichtfertigen) Vorwurf der rhetorischen Kosmetik entzogen werden, wenngleich dieser Vorwurf – bezüglich seines Verweises auf das Instrumentalisierungs- bzw. (Selbst-) Täuschungspotential des Begriffs – auch den wichtigen Hinweis auf die notwendige Gewaltförmigkeit einer Interventionshandlung beinhaltet. Diese ist der zentrale Ausgangspunkt der vielfältigen ethischen Fragestellungen, die sich aus dem thematischen Zusammenhang von Interventionen ergeben und von welchem aus sich dementsprechend die weiteren Problemstellungen erschließen und beurteilen lassen. Zwei Sätze bringen die grundlegende Interventionsproblematik diesbezüglich auf den Punkt: First, through the use of military force it [Intervention, T.G.] is tantamount to war, which disrupts international order, destroys human life, and inevitably brings about human suffering. Second, humanitarian intervention may be morally desireable insofar as it is the only way to rescue innocent people from gross mistreatment by abusive authorities. Dieser Problematik kann sich das negative Ziel der humanitären Intervention ebensowenig entziehen, wie dies vorangegangene Konzepte vermochten, denn [d]as größte Problem war und ist dabei, dass sich nicht eindeutig festlegen lässt, ob es sich bei den Instrumenten der Gewaltnormierung eher um eine Legitimierung oder doch stärker eine Limitierung der Gewalt handelt. Münkler bezieht diese Dichotomie auf die, mit den Interventionskonzepten auf Seiten ihrer jeweiligen Autoren verbundene, Intention der Gewaltlimitierung und den nicht seltenen Fällen, in denen diese Konzepte im faktischen Gebrauch die Funktion einer Legitimationsgrundlage mächtiger Akteure für ein Eingreifen in die politischen Fragen ihrer Peripherie erfüllt haben. Mit dieser Kontrastierung von Intention und Missbrauch, die erst auf anderer Ebene bedeutend wird, verfehlt Münkler allerdings die wesentliche Pointe, die gerade in der negativen Zielbestimmung humanitärer Interventionen besonders bedeutend wird und offen zu Tage tritt. Denn jede Gewaltanwendung bedarf der Legitimation. Folglich auch diejenige Gewalt, deren Ziel die Gewaltlimitierung darstellt. Ein Konzept der Anwendung gewaltlimitierender Gewalt muss indes bereits unterstellen, dass es grundsätzlich möglich ist, Gewaltanwendung zu legitimieren. Der besondere Spagat, den Interventionskonzepte und speziell ein humanitäres Interventionskonzept vollziehen müssen, liegt zunächst also nicht in einer Abwägung von Intention (als Limitierung von Gewalt) und Missbrauch (als Legitimierung von Gewalt) hinsichtlich ihrer inhaltlichen Bestimmungen, sondern ganz grundsätzlich in der ihr inhärenten Problematik der Legitimierung von Gewalt zur Limitierung von Gewalt. In diesem Satz liegt die ethische Antinomik von Interventionen begründet und mit dem Begriff der Legitimierung wird bereits ihre Verknüpfung zu den Bedingungen ihrer Rechtfertigung deutlich, wie sie mit Habermas herausgestellt wurden. Doch zunächst zur formalen Bestimmung der Umstände, unter denen diese Antinomik wirksam wird. Gerade in der deutschen Literatur ist (v.a. im Zusammenhang der Kosovo-Intervention) der Bezug zwischen humanitären Interventionen und dem Gedanken der Nothilfe vielfach hergestellt worden. Gegenüber einer Herangehensweise über die Denkfigur des gerechten Krieges oder allgemeiner moralphilosophischer Erörterungen, wie es in der englischsprachigen Literatur gebräuchlicher ist, liegt der Vorzug des Nothilfemodells darin, dass ihm die Denkfigur der Legitimierung von Gewalt zur Limitierung von Gewalt als solche bereits zu Grunde liegt das mit dem Gedanken der Nothilfe verfolgte Ziel seinem Charakter nach durch und durch negativ ist. Der nachfolgende Rückgriff auf das Modell der Nothilfe zur formalen Bestimmung der Kernantinomik von humanitären Interventionen ist hierdurch kein beliebiger, sondern von paradigmatischer Bedeutung für die Erörterung der ethischen Antinomik humanitärer Interventionen. Er ermöglicht eine, von Altlasten vorgängiger Konzepte vorerst befreite, Konzentration auf die ethische Stoßrichtung humanitärer Interventionen und eröffnet darüber hinaus zugleich die Perspektive auf die Bedingungen einer (Rück-) Übertragung der ethischen Kernproblematik in einen Rechtsbegriff. 2.3.1 Interventionen als Nothilfe: Bei humanitären Interventionen geht es um die gerechtfertigte Anwendung von Gewalt, deren Ziel die Unterbindung bzw. Verhinderung ungerechtfertigter Gewalt ist. Prinzipiell beschreibt dies eine klassische Nothilfesituation, in der ein Helfer einen Täter daran hindert, einem Opfer (weiter) Schaden zuzufügen. Der legitimierende Grund für eine Gewalthandlung verweist zugleich auf Ziel und Grenzen derselben. Dementsprechend geht es um die Legitimierung von Gewalt zur Limitierung von Gewalt. Für das Modell der Nothilfe sind drei charakteristische Merkmale wesentlich: 1. Es wird ein positiver ethischer Wert zu Grunde gelegt, dessen (ungerechtfertigte) Gefährdung oder Verletzung inakzeptabel ist. 2. Die Situation, in der dieser Wert gefährdet oder verletzt wird, ist eine Notlage. 3. Für die Rechtfertigung (u.a. des Mittels) einer Nothilfehandlung ist die Zurechenbarkeit einer Handlung bzw. die Verantwortung eines Täters für die Gefährdung oder Verletzung eines positiven ethischen Wertes relevant. Die notwendige Zugrundelegung eines positiven ethischen Wertes korreliert mit jenen Gründen, durch welche eine Gewalthandlung überhaupt erst einer Begründung bedarf resp. einem Rechtfertigungsdruck ausgesetzt ist, denn dies ist nur scheinbar eine Selbstverständlichkeit. Die notwendige Vorannahme hierfür ist der ethische Wert des menschlichen Lebens bzw. der Menschenwürde. Erst mit dieser Unterstellung wird eine willkürliche Gewaltanwendung als schlecht und i.d.R. auch falsch zu beurteilen sein. Im Falle von humanitären Interventionen ist dies zugleich auch der positive Wert, sprich das bestimmende humanitäre Kriterium , dessen Gefährdung oder Verletzung mit einer Gewaltanwendung unterbunden werden soll. Dies verdeutlicht die inhärente Antinomik des positiven ethischen Wertes des menschlichen Lebens. Seine Absolutsetzung müsste die Möglichkeit von Situationen, in denen es gerechtfertigt sein kann, Gewalt – auch mit der Perspektive des Tötens – anzuwenden, negieren. In der Regel verbindet sich jedoch gerade mit Nothilfesituationen der Anspruch, eine Abwägung zu vollziehen, aufgrund derer entschieden wird, zu wessen Lasten (Täter, Opfer, Helfer) eine Handlung durchzuführen ist. An dieser Stelle ist das Merkmal der Notlage von Bedeutung, denn nur in einer solchen Situation, in der sich ein Opfer selbst nicht wirksam einer ungerechtfertigten Gewaltanwendung durch einen Täter entziehen oder ‚zur (Not-)Wehr‘ setzen – folglich nur von einem Helfer verteidigt werden – kann, ermöglicht (verpflichtend?) bzw. rechtfertigt einen Akt der Nothilfe. Das Vorliegen einer Notlage kann bereits im Dreiecksverhältnis von Individualpersonen strittig bzw. lediglich uneindeutig sein, da einem potentiellen Helfer i.d.R. nur unvollständige Lageinformationen vorliegen und seine Perzeption derselben somit umso maßgeblicher wird. Im Interventionszusammenhang veranschaulicht der Begriff der humanitären Krise diese unauflösliche Verbindung von objektiver Faktenlage und subjektiver Lageperzeption. Dies verdeutlicht die Problematik einer Abwägung angesichts der inhärenten Antinomik des menschlichen Lebens. Denn in jenen drastischen Situationen, welche mit dem Terminus der humanitären Krise belegt werden, kann das Leben aller Beteiligten (sowie Unbeteiligter) gleichermaßen zur Disposition stehen. Im Zusammenhang von Interventionen ist dies die Regel. Hierbei wird das Kriterium der Zurechnung relevant: Während die Verantwortung eines Täters für die Herbeiführung einer solchen Situation seine Benachteiligung prinzipiell rechtfertigt, ist die Gefährdung von Helfer, Opfer oder Unbeteiligten, welche je nach den Umständen einer Hilfshandlung oftmals nicht ausgeschlossen werden kann, schwieriger zu rechtfertigen. Dies ist insbesondere bei kollektiven Handlungen von Bedeutung, in denen die Bestimmung der unmittelbaren physischen Urheberschaft bzw. die – auch von Willensfreiheit abhängige – Zurechenbarkeit einer Handlung im Verhältnis von Individuum und Kollektiv besonderen Schwierigkeiten unterliegen, die Zurechenbarkeit von Täterschaft und entsprechender Verantwortung folglich äußerst problematisch sein dürfte und gilt umso deutlicher, wenn verschiedene Gewaltakteure beteiligt sind. Gleichfalls ist in kollektiven Handlungszusammenhängen die Einschätzung der potentiellen Schadenswirkung auf Opfer, Helfer oder Unbeteiligte nur in begrenztem Maße möglich ist. Notlage und Zurechenbarkeit sind Faktoren, die für eine Abwägung der inhärenten Antinomik des Wertes des menschlichen Lebens von besonderer Bedeutung sind und deren wesentliche Schwierigkeiten gerade in kollektiven Handlungszusammenhängen zeigen. Die inhärente Antinomik des positiven ethischen Wertes des menschlichen Lebens ist die grundsätzliche und unhintergehbare ethische Kernantinomik der Legitimierung von Gewalt zur Limitierung von Gewalt, welche im übrigen in politischen Ordnung grundsätzlich wirkt. Die Schaffung eines staatlichen Gewaltmonopols und dessen Zivilisierung durch Machtbegrenzung ist nicht zuletzt auch eine Antwort auf eben diese allgemeine Problematik politischer Ordnung, die sich im Falle der für Interventionen charakteristischen Szenarien allerdings in besonders drastischer Weise zuspitzt. Gerade hier bedarf die Antinomik der Entscheidungssituation folglich einer sorgfältigen Abwägung innerhalb eines praktischen Diskurses. In diesem Zusammenhang ist aber ein weiterer, bisher vernachlässigter Aspekt der Notlage relevant. Denn innerhalb rechtsförmig organisierter sozialer Kollektive bestimmt sich ihre Feststellung an der (temporären) Abwesenheit einer sonst zuständigen, übergeordneten Instanz. Dies begründet ein bedeutendes Problem bei der Übertragung der Nothilfe in einen Rechtsbegriff der internationalen Ordnung.
Tino Gierke, M.A., wurde 1988 in Wolgast geboren. 2012 schloss er das Studium der Politikwissenschaft an der Helmut-Schmidt-Universität mit dem Master of Arts ab. Für das Studium und die Abschlussarbeit wurde er mit dem Böttcher-Preis ausgezeichnet. Als Offizier der Bundeswehr galt sein Interesse seit jeher Fragestellungen zur Legitimität militärischer Gewalt. Die Mitarbeit in einer Professur für politische Systeme und einer Professur für Öffentliches Recht sowie die Teilnahme an vielfältigen Tagungen des Instituts für Theologie und Frieden erklären seinen interdisziplinären Zugang zur Frage der Legitimität von Interventionen. Ergebnis dieses beruflichen und akademischen Hintergrundes ist das vorliegende Buch.
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