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Gesellschaft / Kultur


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Produktart: Buch
Verlag:
disserta Verlag
Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH
Hermannstal 119 k, D-22119 Hamburg
E-Mail: info@diplomica.de
Erscheinungsdatum: 11.2013
AuflagenNr.: 1
Seiten: 296
Abb.: 7
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback

Inhalt

Dieses Buch untersucht den Magischen Realismus in zeitgenössischen Romanen und Filmen, der als einer der beliebtesten Stile in der Gegenwartskultur gilt. Der Magische Realismus ist ein Stil, der unmögliche Ereignisse in der Realität präsentiert. Der Rezipient akzeptiert diese als natürlich und gewinnt mit ihrer Hilfe Einsicht in die innere Realität der Figuren und Umstände. Der Begriff Magischer Realismus wurde erstmals 1923 von dem Kunsthistoriker Franz Roh als kritisches Konzept für die post-expressionistische Malerei verwendet und fand in den 1950er- bis 1980er-Jahren in der lateinamerikanischen Literatur großen Anklang. Seit den 1980er-Jahren gilt er als universeller Erzählstil. Im Kino begegnet man ihm seit 2000 häufig in verschiedenen Filmen. Der Magische Realismus zeigt sich, indem er in verschiedenen Medien verwirklicht wird. Die (Inter-)Medialität des Stils wird in dieser Hinsicht betrachtet. Als eine Darstellungs- und Erzählungsweise weist der Magische Realismus spezifische Eigenschaften auf: Installation und Subversion des Realismus, direkte Umsetzung und Präsentation von Metaphern, Herstellung der fremden Realität und Mimesis der inneren Realität. Um die geistige Grundlage des Magischen Realismus zu betrachten, wird die philosophische Theorie von Mircea Eliade herangezogen. Der Vorgang der Hierophanie und die Art und Weise der archaischen Ontologie entsprechen dem Vorgang und der Art und Weise des Magischen Realismus in zeitgenössischen Romanen und Filmen. Die Untersuchung basiert auf fünf Romanen (Peter Handke: Kali. Eine Vorwintergeschichte, Haruki Murakami: Kafka am Strand, Urs Widmer: Im Kongo, Arundhati Roy: The God of Small Things, Mircea Cartarescu: Die Wissenden) und acht Filmen (Roberto Benigni: La tigre e la neve, Claire Denis: Vendredi Soir, Ki-duk Kim: Bin-jip, Joon-ho Bong: Gwoemul, Pen-Ek Ratanaruang: Last Life in the Universe, Christian Petzold: Die innere Sicherheit, Isshin Inudô: Joze to tora to sakana tachi, François Ozon: Le temps qui reste). Das Magisch-Realistische manifestiert sich in Form von Figuren, Räumen, Dingen und äußeren Umständen. Es zeigt die Emotionen der Figuren auf, fungiert als Methode der psychologischen Reifung der Hauptfigur und stellt die utopische Möglichkeit vor. Dies macht den Höhepunkt oder die Peripetie des Erzählens aus, enthüllt die innere Realität und ermöglicht die Wunscherfüllung und Heilung. Der Magische Realismus in zeitgenössischen Romanen und Filmen kann als Mimesis des Herzens und Momente der Epiphanie verstanden werden. Die vier Aspekte – Blick, Raum, Zeit und Ritual – erleuchten die Merkmale des zeitgenössischen Magischen Realismus. Die Erlebnisse der Magischen Realität erfüllen das Bedürfnis danach, die ewige, zeitlose Gegenwart im Sinne von Eliade zu erleben. Darüber hinaus hilft die gegenwärtige hypertextuelle und hybride Medien- und Kulturumgebung dem zeitgenössischen Rezipient bei der Rezeption des Magischen Realismus.

Leseprobe

Textprobe: Kapitel 3.3, Magischer Realismus im Film: In der Mediengeschichte des Magischen Realismus nimmt der Film im 21. Jahrhundert einen bedeutenden Platz ein. Etwa seit dem Jahr 2000 sind Filme, die Elemente des Magischen Realismus enthalten, häufig zu sehen. Die darin auftretenden Charakteristika des Magischen Realismus sind dabei jedoch nicht mit dem von Franz Roh geprägten Begriff zu verstehen, sondern vielmehr mit dem heute geltenden Stilbegriff, d. h. als Präsentation magischer Ereignisse. Ein in der Neuen Zürcher Zeitung veröffentlichter Kommentar über den Sammelband der Erzählungen von García Márquez erläutert einleuchtend die Eigenschaft des Magischen Realismus im narrativen Medium und ist auch auf den Film übertragbar: ‘Hier wird das Unmögliche, das Phantastische in nüchternen Sätzen, als glatte Wirklichkeit dargeboten und bleibt so mit dem Alltag unentwirrbar verflochten.’ Der Magische Realismus im Film kann als Präsentation eines magischen Ereignisses verstanden werden, das als glatte Wirklichkeit auftritt und mit dem Alltag unentwirrbar verflochten bleibt. Das filmwissenschaftliche Glossar der Universität Zürich definiert Magischen Realismus im Film wie folgt: Magischer Realismus. Stilrichtung vor allem im lateinamerikanischen Kino der 1980er und 1990er Jahre. Die Geschichten erzählen meist vom gewöhnlichen Alltag kleiner Leute, erhalten dabei aber Elemente oder ganze Handlungsstränge, die über die in der westlichen Denktradition gängigen Vorstellungen von Realismus hinausgehen und insofern etwas Surrealistisches haben. Diese Elemente werden jedoch organisch mit dem ‘realistischen’ Anteil der Geschichte verflochten und müssen nicht, wie im westlichen Kino üblich oder für westliche Sehgewohnheiten ‘notwendig’, durch starke formale Merkmale signalisiert und gerechtfertigt werden. Diese Definition belegt, dass Magischer Realismus im Film eher auf der Grundlage des literaturwissenschaftlichen Begriffs, d. h. als Erzählen von magischen Ereignissen, wahrgenommen wird als auf der Basis des von Franz Roh festgelegten kunstwissenschaftlichen Begriffs. Was die obige Definition dagegen nicht erfasst, ist, dass der Magische Realismus im Film nicht mehr auf Lateinamerika beschränkt ist. Ebenso wie sich der Magische Realismus in der Literatur zu einem weltweiten Stil entwickelt hat, ist er auch in zeitgenössischen Filmen kein Merkmal des lokalen Kinos mehr, sondern vielmehr eine international geltende Darstellungsweise. Im Folgenden wird der Magische Realismus im Film aus mehreren Perspektiven betrachtet: filmgeschichtlich, Stil vergleichend, begriffsgeschichtlich und filmtheoretisch. Verschmelzung der beiden Traditionen Realismus und Fantasy: Der Magische Realismus in zeitgenössischen Filmen weist filmgeschichtlich ein wichtiges Moment auf: In der Frühzeit des Films existierten zwei Traditionen, aus denen sich zwei komplementäre Strömungen entwickelt haben: der ‘Kinematografenfilm’ und der ‘Kinofilm’ – zum einen also Lumières realistische Kinematografenfilme, ‘die vor allem das Wirkliche einfangen und festhalten wollten’, zum anderen Méliès’ fantastische Zauberdramen, ‘die vor allem eine Geschichte erzählen’ wollten. Der Magische Realismus im Film geht auf diese beiden Traditionen zurück: 1895 entwickelte Louis Lumière den Kinematographen. Zwischen 1895 und 1897 gab es dann die stummen KinematographenFilme des Louis Lumière, die das Alltagsleben nach der Art von Fotographien darstellten. […] 1896/97 kam mit Georges Méliès’ Filmen das Phantastische ins Kino. Nun ging es nicht mehr um den Alltag gewöhnlicher Menschen, sondern um Märchen, um Dramen und Fantasy, um Phantasmagorien überhaupt. Lumières' realistische Kinematografenfilme und Méliès' fantastische Trickfilme – diese zwei Strömungen verschmolzen im Magischen Realismus miteinander, indem Fantasie als eine andere Wirklichkeit in der Realität verortet wird, wodurch die Fantasie realisiert und die Realität fantasiert wird. Dadurch erhält im Magischen Realismus nicht nur die Realität, sondern auch die Fantasie eine neue Dimension.Bei Lumière ‘boten sich den Besuchern der ersten Filmvorstellungen im Grand Café Ausschnitte aus der konkreten Wirklichkeit’. Sie bekamen eine ‘wunderbare Natürlichkeit’ zu sehen, ‘eine Form der Wirklichkeitswiedergabe, die bereits als überwunden galt: Naturalismus’: Die Brüder Auguste Lumière und Louis Lumière richteten das Objektiv ihrer Kamera, einem selbstverständlichen Entdeckerdrange folgend, auf das, was ihnen zunächst unter die Augen kam. […] Die teils erschreckten, teils faszinierten Zuschauer erlebten ‘Szenen aus dem Alltag’. Im Gegensatz dazu entwickelte Méliès schon bald seinen spezifischen Filmstil, der sich sowohl an den ‘magischen’ Darbietungen des Zaubertheaters […] und ihren Illusionsschauspielen orientierte. Méliès’ berühmteste Filme [wie Le Voyage dans la lune (Die Reise zum Mond), Le Voyage à travers l’impossible (Die Reise durch das Unmögliche) Anmerkung der Autorin] sind phantastische und skurrile Märchenspiele, die sich einer ausgeklügelten Tricktechnik bedienen. […] Die meisten Tricks, mit denen Méliès’ Filme brillieren, stammen jedoch von der Illusionsbühne: ausgiebig wird in ihnen mit Fallklappen, Attrappen und unsichtbaren Seilen operiert, an denen Figurantinnen durch die Luft ‘schweben’. In den Mittelpunkt seiner zugleich überkomplizierten und kindlich naiven Feenspiele stellte Méliès häufig das Wunder der Geschwindigkeit, der Überwindung von Raum und Zeit. Während die Filme von Lumière also realistisch angelegt sind, sind die von Méliès dem Fantasyfilm zuzuordnen. Der Magische Realismus im zeitgenössischen Film ähnelt zunächst den Fantasyfilmen von Méliès, da in beiden etwas ‘Unmögliches’ dargeboten wird. Die Verbindung zu Lumière besteht darin, dass der Magische Realismus das Unmögliche als ‘Szene des Alltagslebens’ präsentiert. Indem der Magische Realismus Merkmale beider Traditionen in sich vereinigt, ist er zwischen den beiden Formen anzusiedeln. Magisch-realistische Momente im Film sind eine Art Märchenspiel, gleichzeitig aber auch Alltagsszenen. In diesem Sinne ist Méliès der erste Vorläufer des Magischen Realismus im Film, für den gleichzeitig aber auch Lumières Haltung zur filmischen Realität eine wichtige Grundlage darstellte. Realismus und Fantasy sind entlang der Filmgeschichte nach wie vor zwei starke komplementäre Strömungen. Im Magischen Realismus verschmelzen sie miteinander. Er ist diejenige Erzähl- und Repräsentationsform, die diese Gegensätze ineinander verwebt, ohne dabei eine der beiden an sich widersprüchlichen Richtungen zu unterdrücken. Die magisch-realistischen Momente im Film zeigen, wie Realität und Fantasy in einem Werk verwirklicht werden können. Vergleich mit anderen ähnlichen Stilen: Fantasy: In diesem Zusammenhang wird der Magische Realismus im Film zunächst mit dem Fantasyfilm verglichen. Im Rahmen der Definition von Fantasy ist zu beobachten, dass der Magische Realismus Ähnlichkeiten mit dem Fantasyfilm aufweist, sich in einigen Aspekten aber auch davon unterscheidet: FANTASY FILM (Fantasy) In its broadest definition, fantasy film covers a vast spectrum – the portrayal of the supernatural, the representation of imaginary or recreated beasts, the working of fanciful or speculative science, the visualization of dreams. […] Films dealing with the wonders of magic and magicians, with the doings of gods, demigods, angels, elves, sprites, fairies, gnomes, and similar creatures are better and properly classified as fantasy films. This is equally true of films that present us with the fanciful worlds of fairy tales or imaginary lands. Other films that warrant inclusion as fantasy films are those that use trick photography to create fantastic or illusionistic effects – earlier examples are the films of Georges Méliès […]. Wie in der Literatur integriert der Magische Realismus auch im Film Fantasy- und Realismuselemente, d. h., er verwirklicht Fantasy im Realismus, worin der Unterschied zwischen filmischem Magischem Realismus und Fantasyfilm besteht. Surrealismus: In 1920er-Jahren gab es in Frankreich den Surrealismus von Buñuel und Dali. Der Surrealismus im französischen Kino der 1920er-Jahre besaß ähnliche Ausdrucksformen wie der Magische Realismus. Gregor und Patalas schreiben über den Surrealismus: Der Surrealismus, 1922 von André Breton begründet, rebellierte wie der Dadaismus gegen die Konformität und die rationale Logik der bürgerlichen Kunst. Doch gaben die Vertreter des Surrealismus der spielerischen Zerstörungswut der Dadaisten eine neue Richtung. Sie versprachen sich aus der Freisetzung des Irrationalen, aus dem Zurückgehen auf die Magie des Traums und die unbewussten Artikulationsformen der Seele eine neue Art der Erkenntnis. Die Tradition des fantastischen Films, dessen erstes Vorbild bei Méliès zu finden ist, blüht hier wieder auf. Erst im Surrealismus wird das Irrationale freigesetzt und das Unbewusste findet seine filmische Ausdrucksform. Dies wird im Rahmen der Vorstellung des Stils im Buch Films by Genre von Daniel Lopez wie folgt erklärt: SURREALIST FILM (Surrealism) Surrealism is basically a movement that seeks to expand reality, to attain a supra-reality, so to speak, and thus free man from the constraints exerted by society and convention. It seeks to do this by exploring all possible avenues conductive to this end. In particular, it focuses its attention on the workings of the subconscious, the power of dreams, Freudian symbolism and the liberating forces of poetry, love and desire. An offshoot of Dadaism, Surrealism was given life principally by its founder, André Breton (1896-1966), who laid down its doctrine in his First Manifesto (1924) and in his subsequent writings. Initially, it was a literary movement but it spread quickly to the other arts, especially painting and being highly suited for pictorial representation, to film. To its proponents, Surrealism was a way of life. In its cinematic form, it is best illustrated by the early work of Luis Buñuel (1900-1983) in collaboration with Salvador Dalí (1904-1989): […]. For most among the many techniques used by Surrealist filmmakers are the juxtaposition of different objects that one would not associate with each other and the lack of conscious logic in the imagery portrayed. Allerdings unterscheidet sich der Surrealismus auch insofern grundlegend vom Magischen Realismus, als er im Film die Grenze zwischen Traum und Alltagsleben nicht verschwinden lässt. Es werden keine deutlichen Szenen gezeigt, in denen alles Traum, Halluzination oder Imagination ist, sondern die Traumwelt wird als sie selbst präsentiert, ohne sie zu realisieren. Um den Begriff des Magischen Realismus im Film erfassen zu können, muss noch einmal die klare Unterscheidung zwischen Surrealismus und Magischem Realismus herangezogen werden. Surrealismus und Magischer Realismus sind, wie in diesem Kapitel bereits festgestellt, zwei Stile, die sich durchaus ähnlich, in gewisser Hinsicht aber auch verschieden sind. Diese Differenzierung gilt auch für den Film. Als repräsentative Ausprägungen des surrealistischen Films gelten Man Rays, Germaine Dulacs und Luis Buñuels Werke der 1920er-Jahre. Darin werden psychologische innere Bilder gezeigt, begleitet nur von wenig Handlung. In narrativen Spielfilmen sind surrealistische Elemente häufig in Form von Träumen oder Halluzination zu sehen. Da sie den darin bestehenden Wahrnehmungsbruch (‘perceptive break’) noch deutlich benutzen, können sie nicht als magisch-realistisch bezeichnet werden. Das gilt auch für Fellini: Fellini, of course, does make use of fantasy, in which he plays with the physical laws of the universe as well as subjective and hallucinatory emotional states, but he clearly sets the imagined and remembered apart from the ongoing present reality. Wie sich der Magische Realismus in der Literatur unter dem Einfluss von Surrealismus und anderen ähnlichen Strömungen ausbildete, wurde auch so mancher magisch-realistische Filmemacher vom filmischen Surrealismus beeinflusst. Filme, die Elemente des Magischen Realismus beinhalten, weisen deshalb nicht selten auch Merkmale des Surrealismus auf. Die Unterscheidung zwischen Surrealismus und Magischem Realismus im Film ist daher manchmal recht heikel, doch das Verhältnis zwischen den beiden Stilen macht die Betrachtung der filmischen Realität des Magischen Realismus selbst noch prägnanter. Poetischer Realismus: Ein weiterer dem Magischen Realismus ähnlicher Stil ist der Poetische Realismus im Frankreich der 1930er-Jahre. Im Zusammenhang mit dem Film wird er wie folgt definiert: Poetischer Realismus. Bewegung im französischen Film, die in der ersten Hälfte der 1930er Jahre entstand und mit der deutschen Besetzung Frankreichs 1940 endete. Die Gemeinsamkeit der Filme beruht vor allem in einer pessimistischen, fatalistischen Grundierung der Geschichten – womit an den Naturalismus eines Émile Zola angeknüpft wird – sowie deren Situierung im Alltag Kleiner Leute. Dabei geht die poetische, oft märchenhafte Auffassung der Handlung mit einer präzisen Beobachtung sozialer Realität einher. Zu den bevorzugten Themen gehören die Vergeblichkeit der Liebe, die Unmöglichkeit der Kommunikation, der zentrale Stellenwert von Träumen, die Verachtung sozialer Konventionen und Zwänge, das Leben von AußenseiterInnen etc. Wiederkehrende stilistische Elemente sind eine Spontaneität der Dialoge, eine (streckenweise fast dokumentarische) Anlehnung an Milieustudien sowie eine wehmütig-lyrische Grundstimmung in einer häufig poetischen Bildgestaltung. POETIC-REALIST FILM (Poetic Realism, Psychological Realism, Réalisme Poétique) The term réalisme poétique is used to define a French film school and filmic style of the middle and late 1930s which added a poetic element to its visualization of the prevalent social mood of the time. This school was greatly imbued with the leftist ideas of the Popular Front (Front Populaire), a coalition found at the inception of the Socialist and Communist political parties. Typical of the films belonging to this school is the use of simple people as popular heroes, the interplay of love and destiny and the ever-present struggle between good and evil in a realistic, atmospheric milieu. Poetischer Realismus ist als Verknüpfung der ‘Wendung zur Objektivität’ und des Einflusses des Surrealismus zu verstehen. Jean Vigos Filme sind repräsentative Beispiele: ‘In Vigos Filmen sind sowohl die Traditionen des Cinéma pur wie die des Surrealismus lebendig.’ In Vigos erstem Spielfilm, Zéro de conduite (Betragen ungenügend, 1933), zeigt sich dies folgendermaßen: [U]nter seiner technisch ungehobelten Oberfläche glüht eine rebellische und befreiende Poesie. In der Sequenz der Schlafsaalrevolte mit ihren traumhaften Bewegungen und ihrer rückwärts ablaufenden Musik fand die Sprache der Surrealisten eine neue Anwendung. Trotz der Irrealität der Fabel ist die Angriffsrichtung des Films doch sehr konkret: Vigo attackiert das bürgerliche Erziehungssystem, indem er seine Repräsentanten ins Lächerliche zieht. Poetischer Realismus gilt als ‘eine dem Magischen Realismus in vielen Punkten ähnliche Stilrichtung des französischen Films der 1930er Jahre, die aber weitgehend auf ,magische‘ Elemente verzichtet’. Während der Poetische Realismus in seiner narrativen Performance eine direkte und konkrete Sozialkritik zum Ausdruck bringt, ist die narrative Performance des magischen Realismus deutlich metaphorischer, d. h., sie formuliert die soziale Thematik weniger direkt. Dieser Aspekt bildet im Magischen Realismus den immanenten und indirekten Hintergrund für Interpretationen. Ungeachtet dessen stellt der Poetische Realismus eine dem Magischen Realismus ähnliche Stilrichtung dar, indem er Irrealität im Alltagsleben verwirklicht. Geschichte des Magischen Realismus im Kino: In 1980er-Jahren, als der Magische Realismus weltweit Verbreitung fand, etablierte er sich auch im Kino. In der Zeit entstanden in Lateinamerika viele wichtige Verfilmungen von magisch-realistischen literarischen Werken, insbesondere aus der Feder von Gabriel García Márquez. Zwar wurden seine Texte schon seit den 1960er-Jahren in Form von Filmen umgesetzt (zum Beispiel En este pueblo no hay ladrones (In diesem Dorf gibt es keine Diebe, Mexiko 1965) und La Viuda de Montiel (Die Witwe Montiel Mexiko/Kolumbien/Venezuela/Kuba 1979)), doch handelte es sich bei ihnen noch nicht um magisch-realistische Geschichten. Die 1980er-Jahre waren mit elf Filmen die produktivste Zeit der García-Márquez-Verfilmungen. Zu den wichtigsten Verfilmungen aus dieser Dekade gehören Fernando Birris Un Señor muy viejo con unas alas enormes (Ein sehr alter Herr mit riesengroßen Flügeln Kuba 1988), Lisandro Duque Naranjos Milagro en Roma (Das Wunder von Rom Kolumbien 1988) und Ruy Guerras Eréndira (Die unglaubliche und traurige Geschichte von der unschuldigen Eréndira und ihrer herzlosen Großmutter Frankreich/Mexiko/BRD 1983). In diesen Filmen zeigt sich deutlich, wie der Magische Realismus, der zunächst in der Literatur entwickelt wurde, filmisch umgesetzt wird. Ein sehr alter Herr mit riesengroßen Flügeln erzählt entsprechend der gleichnamigen Erzählung von einem alten Mann, der wegen seiner Flügel als Engel angesehen wird und schließlich mithilfe seiner Flügel wegfliegt. Der Film nimmt im Vergleich zur Erzählung einen relativ rationalen Standpunkt ein, da die Flügel des alten Herrn im Film als künstlicher Teil seines Körpers präsentiert werden, während der Mann in der Erzählung echte Flügel besitzt. Im Gegensatz dazu nimmt der Film jedoch ein dramatischeres Ende als die Erzählung: Der alte Mann fliegt am Ende des Films mit den künstlichen Flügeln davon, gerade so, als ob er zu einem echten Engel geworden wäre der kleine Sohn der Familie, bei der der Mann untergekommen ist, erhebt sich währenddessen ebenfalls ein wenig in die Luft. Das Wunder von Rom ist eine Verfilmung von García Márquez' Erzählung La Santa (Die Heilige). Zwölf Jahre nach ihrem plötzlichen Tod wird ein kolumbianisches Mädchen ohne Anzeichen von Verwesung in ihrem Sarg gefunden. Ihr Vater fliegt daraufhin nach Rom, um sie als Heilige anerkennen zu lassen, wobei jedoch Schwierigkeiten auftreten. Am Ende des Films ersteht das Mädchen auf und beginnt erneut zu leben. Im Rahmen der Erzählung wird dies nur von der Figur diskutiert, für den Film dagegen wurde diesbezüglich eine eigene Episode gedreht. Der Film hat diese Idee der Erzählung also regelrecht verwirklicht. In diesem Punkt ist die filmische Version magisch-realistischer als der zugrunde liegende Text. Die Schlussszene des Films, die zeigt, wie das wieder auferstandene Mädchen mit ihrem Vater in alltäglicher Atmosphäre eine Straße entlang zum Eishändler läuft, beinhaltet exakt die zentralen Eigenschaften des Magischen Realismus. In den 1980er-Jahren wurden jedoch auch magisch-realistische Filme gedreht, die nicht auf den literarischen Werken beruhten. Eliseo Subielas Últimas Imágenes del Naufragio (Letzte Bilder eines Schiffbruchs Argentinien 1989) gilt in diesem Zusammenhang als relevantes Beispiel. In dem Sinn, dass er magische Realität unabhängig von einer literarischen Vorlage darstellt, ist dieser Film für die Geschichte des Magischen Realismus im Medium Film von Bedeutung. Anders als in den Literaturverfilmungen tritt die magische Realität hier eher verborgen und relativ unauffällig zutage. Damit weist der Film eine deutliche Nähe zum Magischen Realismus in zeitgenössischen Filmen auf. Etwa zur gleichen Zeit kamen auch in Osteuropa Filme heraus, die dem Magischen Realismus zuzuordnen waren, zum Beispiel vom jugoslawischen Filmautor Emir Kusturica. Diese Entwicklung war kein Zufall, denn Osteuropa mit seinen Zigeunerkulturen ist ähnlich wie Lateinamerika eine Region, die der magischen Realität nahesteht. Emir Kusturica gilt als repräsentativer Regisseur des osteuropäischen Magischen Realismus. Sein Film Dom za Vesanje (Time of the Gypsies Jugoslawien 1988) war ebenso wie Hundert Jahre Einsamkeit im Kino zu sehen. Die Prägung einer lokalen Kultur ist ein Merkmal der frühen magisch-realistischen Filme der 1980er-Jahre. Doch je mehr sich der Stil des Magischen Realismus weltweit im Kino etablierte, desto mehr verlor er diesen Charakter. In zeitgenössischen Filmen trägt die magische Realität manchmal eine kulturelle Nuance, doch dies ist kein grundsätzliches und universales Kennzeichen des gegenwärtigen Magischen Realismus. Im Medium Film galt der Magische Realismus in den 1980er-Jahren noch als besonderer Stil, der auf gewisse Regionen bzw. Kulturen oder gewisse Filmautoren beschränkt war. Erst seit der Jahrtausendwende finden sich seine Elemente häufig in allen Schattierungen in den verschiedensten Filmen aus unterschiedlichen Ländern wieder. Im Medium Film ist er heute weder ein persönlicher noch ein lokaler Stil. Dieser Punkt gilt als ein wichtiges Kennzeichen des heutigen Kinos. Diverse Beispiele des zeitgenössischen magisch-realistischen Kinos werden im dritten Kapitel vorgestellt. Das Kino war von Anfang an ein Produkt der sogenannten Traumfabrik, gleichzeitig galt die Leinwand als Spiegel der Wirklichkeit. In verschiedenen Formen hat sich das Medium Film des Lebens der Menschen angenommen und es in transformierter Gestalt gezeigt. Der Magische Realismus steht einerseits in der Tradition des filmischen Realismus, andererseits in der Tradition des Fantasyfilms und des Surrealismus. In zeitgenössischen Filmen, die Elemente des Magischen Realismus beinhalten, kann der Rezipient die Ergebnisse filmischer Experimente erleben, die sich zum einen auf die Entwicklungsgeschichte des Stils und zum anderen auf die Geschichte des Mediums Film beziehen können. Verschmelzung des bildlichen und des erzählerischen Magischen Realismus: Der Magische Realismus in zeitgenössischen Filmen bietet ein wichtiges Moment in Bezug auf die Begriffsgeschichte des Kunststils: Im Magischen Realismus des Filmmediums werden seine zwei verschiedenen Konzepte – das die mysteriösen Elemente des Alltags präsentierende Bild und die Geschichte der ‘magical happenings’ – miteinander verschmolzen, indem ein Film von ‘magical happenings’ erzählt, während zeitgleich das Magische in Form von Filmbildern sichtbar gemacht wird. Die gleichzeitige Umsetzung beider Konzepte, sprich: des bildlichen und des erzählerischen Aspekts des Magischen Realismus, realisiert das Medium Film mit großem Erfolg. In dieser Hinsicht ist der Film als das relevanteste Medium für den Magischen Realismus aufzufassen. Filmische Realität: Die für den Magischen Realismus typische filmische Realität kann auch filmtheoretisch betrachtet werden. Moderne Filmtheoretiker haben sie auf vielseitige Art und Weise untersucht: Kracauer mit Die physische Realität, André Bazin mit Die kinematographische Sprache und Jean Mitry mit Das filmische Bild. Die magische Realität im Film ist physische Realität in subjektiven filmischen Bildern. Die filmischen Darstellungen des Magischen Realismus sind subjektiv wahrgenommene, jedoch als physische Realität präsentierte Bilder. Unter diesem Aspekt nimmt die Realität im filmischen Magischen Realismus eine neue Realität ein, die inmitten eines Oxymorons – in der Realität der Irrealität und der Irrealität der Realität – entsteht. Der Magische Realismus in zeitgenössischen Filmen stellt eine vertraute, gleichzeitig aber auch neue Art und Weise dar, die eine hinter der realistischen Alltagsbeschreibung liegende besondere Erzähl- und Bildwelt enthüllt.

Über den Autor

Soo Im Choi wurde 1974 in Seoul geboren und studierte Germanistik und Ästhetik an der Seoul National Universität. Weiterhin war sie als Journalistin bei der Filmzeitschrift 'Cine21' in Südkorea tätig. Das Masterstudium der 'Literatur und Medien' absolvierte sie an der Universität Bayreuth in Deutschland. Daraufhin promovierte sie im Fach 'Vergleichende Literaturwissenschaft' an der Universität Wien in Österreich. Den Abschluss als Doktorin der Philosophie (Dr. Phil.) erwarb sie im Oktober 2011. Als Literatur- und Medienwissenschaftlerin lehrte sie 'Humanities and Cultural Contents' an dem Humanitas College Kyung Hee University. Derzeit ist sie als Gastprofessorin (Visiting Professor) an der Sol Liberal Arts School Woosong University in Südkorea lehrend und forschend tätig und arbeitet an ihren Aufsätzen mit komparatistischen Themen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die zeitgenössische Literatur, Kultur und Kunst sowie Kino und Medien der Gegenwart.

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