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- Intentionale Wahrnehmung und Autismus: Eine philosophische Analyse
Gesellschaft / Kultur
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disserta Verlag
Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH
Hermannstal 119 k, D-22119 Hamburg
E-Mail: info@diplomica.de
Erscheinungsdatum: 11.2014
AuflagenNr.: 1
Seiten: 88
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback
Wer nach der Bedeutung des Autismus fragt, sieht sich fast nur mit medizinisch-biologischen sowie psychologischen Erklärungsmustern konfrontiert. Die Problematik der Wahrnehmung spielt eine zentrale Rolle bei Kindern mit Autismus. Die Dinge der Welt sehen, hören, fühlen, riechen, schmecken, sie einverleiben und auf sie wirken, gehören zu den Mechanismen der Wahrnehmung wie das Sammeln von Eindrücken und Erfahrungen. Die Wahrnehmung ermöglicht uns den Zugang zur Innen- und Außenwelt und verhilft zum Erkennen von sehr komplexen Zusammenhängen. Ob dieser komplexe Prozess bei Kindern mit Autismus nicht möglich ist und woran dies liegt, wird aus der Perspektive der Philosophie näher beleuchtet. Die Bedeutung von Emotionalität, Bewusstsein und Intentionalität bei der Wahrnehmung ist Bestandteil der Analyse. Zur Untersuchung dieser Fragen werden phänomenologische Reflexionsmethoden sowie persönliche Erfahrungen in der praktischen Arbeit mit betroffenen Kindern herangezogen. Diese Abhandlung verfolgt das Ziel, ein neues Verständnis des Autismus über alle Stereotype und Vorurteile hinweg zu erreichen.
Textprobe: Kapitel 2.2, Der Autismus als Gegenstand der Psychologie: In der Psychologie wird die Autismus- Spektrum- Störung als eine Verhaltensstörung oder eine Dysfunktion bei der Weiterleitung der Informationsüberträger (Signale im Gehirn) aufgefasst. Es wird heute davon ausgegangen, dass dem Autismus eine genetisch bedingte Störung zu Grunde liegt. In intensiven neurologischen Forschungen konnte aber bis heute keine strukturelle oder funktionale Störung des zentralen Nervensystems festgestellt werden, die autismusspezifisch wäre. Die Störung wird über das Verhalten definiert. Dabei bezieht man sich auf Kinder, die nicht fähig sind, ihre Gefühle sprachlich auszudrücken oder auf andere Menschen bewusst zuzugehen. Abgesperrt gegen das soziale Milieu, versinken sie in ihrer eigenen Gedankenwelt. In der gegenwärtigen Autismusforschung geht man von einer Trias der Hauptstörungsbereichen: Soziale Interaktion, verbale und nonverbale Kommunikation und Imagination aus. In seinem Vortrag in der internationalen Konferenz für Bindung und frühe Störungen der Entwicklung vom 24. und 25. Oktober 2009, die an der Ludwig-Maximilians-Universität in München stattfand, berichtete David Oppenheim über Ergebnisse seiner Forschungsarbeiten, wonach er und sein Team in Haifa (Israel) herausfanden, dass autistische Kinder entgegen früherer Ansichten sehr wohl Bindungen zu ihren Bezugspersonen entwickeln. Eine bedeutende Anzahl, beinahe die Hälfte, entwickeln sogar eine sichere Bindung. Damit sieht er Beobachtungsstudien aus den 1980ern bestätigt. In Verbindung mit der Wahrnehmung wird autistischen Kindern eine schwache zentrale Kohärenz unterstellt. Unter schwacher Kohärenz versteht man einen Wahrnehmungsstil, der detailbezogen ist. Es wird die komplexe Information nicht kontextuell als Ganzes im Gesamtzusammenhang wahrgenommen. Die bevorzugte Aufnahme und Verarbeitung von Einzelheiten führt zu Schwierigkeiten beim Erfassen, Einordnen und Verstehen von Zusammenhängen, was eine Schwäche im kontextuellen und begrifflichen Denken impliziert. Aus der Erfahrung lässt sich sagen, dass gerade Kinder mit autistischen Problemen mehr detailorientiert sind, als dass sie holistisch wahrnehmen. Sie fühlen, riechen, hören, sehen sehr intensiv, ohne ihren Empfindungen eine Bedeutung oder Ausrichtung geben zu können. Diese Seinsweise beeinträchtigt ihre sozialen Interaktionen. Eine andere Form von Wahrnehmungsbesonderheit bei autistischen Kindern ist, nicht mit den fünf Sinnesorganen gleichzeitig operieren zu können. Einzelne Reize aus den verschiedenen Wahrnehmungskanälen werden nicht miteinander kombiniert, sodass nur ein Wahrnehmungsmodus benutzt wird. Die Synästhesie ist eine Wahrnehmungsbesonderheit, die bei Künstlern wie auch bei hochbegabten Autisten und Savants (frz.: Wissende) vorkommt: Vermischung von Informationen aus verschiedenen Sinneskanälen. Daniel Tammet, der zu den Savants zählt, schreibt dazu: ‘Zahlen sind meine Freunde und sie sind ständig um mich. Jede ist einzigartig und hat ihre ganz eigene ‘Persönlichkeit’. Elf ist freundlich und fünf ist laut, während vier still und schüchtern ist’. Interessant ist, dass Daniel Tammet zu seiner mathematischen Begabung mit Hilfe der Synästhesien innerhalb kürzester Zeit Fremdsprachen erlernen konnte. So lernte er isländisch in einer Woche. Wie bereits angedeutet, hat sich das medizinische Bild des Autismus seit Leo Kanner erheblich verbessert. Kanners Erkenntnisse brachten nicht nur grundlegende Reformen der diagnostischen Verfahren sowie der therapeutischen Maßnahmen, sondern führten auch zu einer Abkehr von pauschalen oder vagen Fallbeschreibungen. Seitdem wird der Autismus in der medizinischen Psychiatrie und Psychologie als eine schwere und chronisch verlaufende, tiefgreifende Entwicklungsstörung aufgefasst, die bei Kindern spätestens bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres auftritt. Dabei handelt es sich um ‘eine tiefgreifende Beziehungs- und Kommunikationsstörung, welche die Kinder unfähig macht, zu anderen Personen, selbst zu den eigenen Eltern, ein normales emotionales Verhältnis herzustellen’. Zusammengefasst wird den autistischen Kindern folgende Eigenschaften zugeschrieben: - soziale Zurückgezogenheit. - abnorme Beziehung zu Gegenständen, zu Menschen und zu sich selbst. - in der sozialen Interaktion mangelndes Interesse an und abweisendes Verhalten zu Erwachsenen und Kindern. - keine Freundschaften und kein affektives Eingehen auf andere. - im Spielverhalten kein Blickkontakt, Anlächeln oder Nachahmung. - kein imaginatives Spiel. - repetitives und stereotypes Verhalten und Bewegungen. - in der Kommunikation keine Zeigegeste, Nicken oder Kopfschütteln. - echolalische bzw. keine funktionale Sprache, sprachliche Rituale oder Ausbleiben von Sprache. Psychologisch gesehen beeinträchtigt der Autismus die geistige Entwicklung eines Kindes und wirkt sich sehr negativ auf die soziale Interaktion sowie auf seine Beziehungs- und Kommunikationsgestaltung aus. Hinzu kommen qualitative Einschränkungen der zwischenmenschlichen Beziehungen und sonstigen Aktivitäten sowie zahlreiche Verhaltensauffälligkeiten, die besonders für das Umfeld im alltäglichen Umgang mit dem Kind sehr belastend sind. Nicht zuletzt zu erwähnen sind Symptome wie Essstörungen, Schlaf- und Reinlichkeitsprobleme, Aggressivität, Selbstverletzungen etc., die den Familien und sozialen Betreuern oft schwer zu bewältigende Schwierigkeiten bereiten. So muss sich das gesamte Umfeld von Kindern mit Autismus darauf gefasst machen, für einen in seiner Selbständigkeit sehr eingeschränkten Menschen die volle Verantwortung während seines ganzen Lebens zu tragen. Zur Operationalisierung von psychischen Störungen und Krankheiten orientieren sich Wissenschaft, Forschung und Praxis an der 10. Ausgabe der International Classifikation of Desease (ICD-10) der Weltgesundheitsorganisation. Der frühkindliche Autismus wird nach dem psychiatrischen Klassifikationssystem ICD-10 den gravierenden Entwicklungsstörungen und nicht mehr, wie früher, den Psychosen zugerechnet. Es ist eine essentielle Entwicklungsstörung in den Bereichen der motorischen, sprachlichen, kognitiven und sozialen Funktionen. Internationalen Studien zufolge befinden sich von 10.000 untersuchten Kindern zwischen vier und achtzehn im Autismusspektrum, wobei Jungen drei- bis viermal häufiger betroffen sind als die Mädchen. Dabei wird zudem deutlich, dass der frühkindliche Autismus unabhängig von der ethnischen oder sozialen Zugehörigkeit vorkommt, da Kinder aller Nationalitäten und Schichten davon betroffen sind. Spricht man nun vom frühkindlichen Autismus, so wird damit die Behinderung oder die Störung in der Sprache, der Wahrnehmung und der Verarbeitung von Informationen verbunden. Nach John K. Wing liegt ein Autismus vor, wenn ein Kind nicht imstande ist, visuelle und auditive Sinneseindrücke sinngemäß so zu verarbeiten, wie dies bei den als normal sich entwickelnden Kindern der Fall ist. Aus dem Autismus scheinen sich unvermeidbare Kommunikationsprobleme zu ergeben, Verhaltensabnormitäten und emotionale Schwierigkeiten, die wiederum eine Anhäufung sekundärer Behinderungen zur Folge haben. Neben dieser psychischen Beschreibung gibt es hinsichtlich der Ätiologie eine Tendenz hirnorganische Ursachen für den Autismus verantwortlich zu machen. Nach Joachim Bauer wird vermutet, dass der autistischen Störung ‘eine Funktionseinschränkung verschiedener Spiegelneuronensysteme zu Grunde liegt. Allerdings ist unklar, ob es sich um eine primäre Dysfunktion im Bereich der biologischen Grundausstattung handelt oder ob autistische Kinder in den Monaten nach ihrer Geburt, warum auch immer, weniger Gelegenheit zu wechselseitiger, spiegelnder Kommunikation hatten. Es ist möglich, dass beides eine Rolle spielt.’ Um so wichtiger ist die Früherkennung und intensive Frühförderung von betroffenen Kindern sowie eine Entlastung der Eltern. Gleichwohl wird versucht, die Ätiologie des Autismus aus der individuellen Lebensgeschichte des Kindes zu erklären. So betrachten Nico Tinbergen und Elisabeth A. Tinbergen die Ursache des Autismus als eine zentrale Funktionsstörung vor allem im emotionalen Bereich und in der Motivation und nicht als organisches Leiden. Genetische und biochemische Untersuchungen haben bis heute noch keine eindeutigen Befunde ergeben. Trotz aller Differenzierungsversuche unterliegt der Autismus in der Forschung multikausalen Erklärungen. Dabei stehen neurobiologische, biochemische, genetische und entwicklungspsychologische Ansätze zueinander in einem Konkurrenzverhältnis. So wird in dieser Arbeit versucht, eine philosophische Lösung in diesem Meinungsstreit vorzuschlagen. 2.3, Persönliche Erfahrungen: Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf die persönliche Erfahrung bei der Betreuung von drei Kindern aus dem Autismus-Spektrum. Dabei wird der Akzent auf die Wahrnehmung gesetzt, wobei es mir darum geht, zu zeigen, dass auch die mangelnde Intentionalität ein Hindernis sowohl für die Wahrnehmung als auch für die Bewusstseinsentwicklung der betroffenen Kinder darstellt. Zu den Kindern, die Namen wurden aus datenrechtlichen Gründen verändert: Simon und Boris werden vom Fachpersonal des ambulanten, sozialpädagogischen Trägers ‘Sonne GmbH’ im Rahmen der Eingliederungshilfe als Einzelfallhilfe gemäß Sozialgesetzbuch XII im Rahmen der pädagogischen, ambulanten Hilfen betreut. Seit dem 01.01.2000 wurde in den ambulanten Hilfen zur Erziehung im Zuge der Professionalisierung dieser Arbeit die Durchführung der Hilfen vom Senat für Bildung anerkannten Trägern für Kinder- und Jugendarbeit übertragen. So entstand der Träger ‘Sonne’, der sich von Anfang an als einziger ambulanter Träger in den Erziehungshilfen in Berlin auf dem Gebiet der frühkindlichen Entwicklungs- und Regulationsstörungen spezialisierte. Der größte Teil der zu betreuenden Kinder kommt aus dem Autismusspektrum. Mit dem IX. Sozialgesetzbuch (SGB IX), das seit dem 1. Juli 2001 in Kraft getreten ist, in Verbindung mit dem XII. Sozialgesetzbuch (SGB XII) wurden an Stelle der Fürsorge die rechtlichen Vorraussetzungen für die Rehabilitation und die Förderung zur gleichberechtigten, gesellschaftlichen Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen in der Gesellschaft geschaffen. In diesem Rahmen konnten nunmehr Behinderte und schwer behinderte Kinder und Jugendliche durch die ambulante Eingliederungshilfe als Einzelfallhilfe betreut werden. In diesem Kontext hatte ‘Sonne’ die Betreuung von Simon und Boris übernommen. An dieser Stelle möchte ich mich bei den Kindern und ihren Familien bedanken, die mir erlaubten, über diese Entwicklungsprozesse im Rahmen meiner Arbeit zu berichten. Mein Dank gilt auch dem Träger ‘Sonne’ und der Kollegin, die das Informationsmaterial überließ. Neben Beratungsgesprächen mit den Eltern fanden Gespräche mit den Helfern aus den verschiedenen Institutionen, die in der Betreuung der Kinder mitwirkten, statt. Um das helfende System zu optimieren, den Informationsaustausch unter den verschiedenen Helfersystemen aufrechtzuerhalten und Kommunikationsstörungen an den verschiedenen Schnittstellen der Akteure zu minimieren, wirkte ich beratend mit. Die Betreuung erfasst ein weites Spektrum unterschiedlicher Beratungssituationen. Zu meinen Aufgaben gehörte hauptsächlich die pädagogische Einzelbetreuung und Entwicklungsförderung der Kinder und Jungendlichen sowie die Beratung der Eltern zu übernehmen. A) Simon: Simon wurde im 8. Schwangerschaftsmonat geboren. Werden, Nachdem die Kindesmutter das Fruchtwasser im 8. Monat verloren hatte, wurde der Geburtsvorgang eingeleitet. Es ergaben sich leichte Komplikationen. Die Geburt wurde durch den Einsatz der Saugglocke vollendet. Da das Baby sehr schwach war, wurde es erst nach zehn Tagen aus dem Krankenhaus entlassen. Die Anfangsphase war für Eltern und Kind sehr schwierig. Die Eltern berichteten, dass Simon Tags wie Nachts schrie. Seine Pflege war sehr zeitintensiv. Sie berichten, dass sein Verhalten von Anfang an sehr schwierig war, und er sich kaum beruhigen ließ. Der Mutter fiel auf, dass er sich nicht gerne streicheln ließ. Es war für die jungen Eltern bedrückend, und sie waren mit ihrem Erstgeborenen überfordert. Mit drei Jahren wurde der Junge deshalb in einem Berliner Krankenhaus vorgestellt. Dabei erfuhr die Familie, dass Simons Verhalten im Autismusspektrum lag. Die Eltern konnten sich nun erklären, weshalb ihr Junge keinen Körperkontakt zuließ, den Blickkontakt mied und z.B. auf seinen Namen nicht reagierte, wenn er angesprochen wurde. Sie erfuhren auch, dass Schlaf- und Essstörungen, Verhaltensauffälligkeiten sowie eine psychomotorische Schwäche im Autismusspektrum vorkommen können. Ein Jahr später wurde der Familie eine Einzelfallhilfe empfohlen. Mit der Durchführung sollte eine auf dem Gebiet erfahrene Fachperson beauftragt werden. Durch die heilpädagogische Förderung sollte Simon gefördert werden, da er deutliche Entwicklungsverzögerungen in allen Bereichen aufwies. Mit vier Jahren lag sein Entwicklungsstand weit unter zwei Jahren. Bei Beginn der Einzelfallhilfe war Simon somit vier Jahre alt. Als ich Simon zum ersten Mal traf fiel mir auf, dass er nicht sprach. Auf Versuche, mit ihm zu kommunizieren, reagierte er nicht. Es schien, als hätte er keinen Kontakt zu seiner Umwelt. Oft hielt er sich die Ohren zu, wandte sich von anderen Personen ab, hatte keinen Blickkontakt. In seinem stereotypen Verhalten beschäftigte er sich mit dem Auf- und Zuschließen von Türen, An- und Ausschalten von Lichtschaltern oder Beobachten des Drehens der Waschtrommel während des Waschvorganges. Sein Lieblingselement war das Wasser. Mit Vorliebe trug er Schüsseln randvoll mit Wasser mit sich herum, um damit zu spielen. Hätte man ihn nicht eingegrenzt, wäre er in der Lage gewesen, die ganze Wohnung unter Wasser zu setzen. Bei Tätigkeiten, die mit einer äußeren Änderung einhergingen, beispielsweise beim Versuch seine Kleider zu wechseln, zeigte er große Angst und versuchte sich der Situation zu entziehen. Er trug in der Wohnung immer dieselbe Jacke. Die Mutter berichtete, dass er die Jacke selbst beim Schlafen anbehielt. Versuche, ihm die Jacke wegzunehmen, führten dazu, dass keiner mehr nachts schlafen konnte. Simons heftige Reaktionen gingen mit Wutausbrüchen einher, sodass er lange brauchte, um sich beruhigen zu können. Weiterhin berichtete die Mutter, dass er nur ganz bestimmte Speisen zu sich nahm, die sie ihm als Häppchen verabreichte, während er in der Wohnung umherlief. Simon hatte außerdem ein herabgesetztes Schmerzempfinden. Er reagierte nicht auf kalt oder heiß. Achtete man nicht darauf, so konnte er sich beim Spielen mit heißem Wasser verbrennen, ohne entsprechend zu reagieren. Andererseits reagierte er auf leichte Berührungen übersensibel. In der Anfangsphase der Betreuung hatte er Interesse an elementaren Spielen mit Wasser und Sand. Wir gingen regelmäßig auf dem Spielplatz, wo er mit diesen Elementen spielerisch seinen Neigungen nachging. Form und Formlosigkeit bei der Gestaltung zogen seine ganze Aufmerksamkeit während des Spielens auf sich. Zu einem späteren Zeitpunkt integrierte er ein Holzhaus auf dem Spielplatz in sein Spiel. Anfänglich holte er sich den nassen Sand ins Spielhaus. Er bildete Formen, die er nach Bestaunen wieder zerstörte. Danach benutzte er das Haus zum Fangen und Verstecken. Bei diesen Spielen beobachtete Simon meine Bewegungen durch einen Spalt zwischen den Holzbrettern. So konnte er mich aus einem geschützten Raum anblicken, ohne direkten Blickkontakt zu haben. Später ging er aus dem Haus und blickte durch den Spalt in das Innere. Er untersuchte aus verschiedenen Blickrichtungen die unterschiedlichen Perspektiven. Im weiteren Verlauf traute er sich, seinen Blick auf mich zu richten. Ich unterstützte sein Spiel dahingehend, dass er in mehreren Sinneskanälen Wahrnehmungserfahrungen sammeln konnte. Das Haus spielte eine wichtige Rolle für Simon, der zu lernen begann, innere und äußere Empfindungen selbst zu gestalten und zu regulieren. Zu einem späteren Zeitpunkt im Winter hat er in seinem Zimmer ein Zelt aus Decken gebaut, mit dem er verschiedene Facetten dieses Spiels ausprobierte. Das Versteckspiel nahm er wieder auf. Ihn zu suchen, zu entdecken und zu fangen konnte für ihn nicht oft und lange genug gespielt werden. Allmählich entwickelte sich zwischen ihm und mir eine gemeinsame Aufmerksamkeit und gegenseitige Interaktion. Das Aushalten längerer Interaktionsspiele verhalf ihm dazu, seinem Erkundungsverhalten und Kreativität Raum zu geben. In dieser Zeit war Simon noch nicht in der Lage, sich verbal zum Ausdruck zu bringen. Er äußerte unverständliche Laute und ahmte Sprachmelodien nach. Einen Teddybären, den er mochte, benutzte ich, um die Ausrichtung seiner Wahrnehmung zu stärken, damit er das Körperschema erlernen konnte. So wurden immer wieder Augen, Ohren, Mund etc. benannt. Zu einem späteren Zeitpunkt ca. 1 ½ Jahren seit Betreuungsbeginn kam er überraschenderweise auf das Erlebte zurück und signalisierte dies in wiederkehrenden einzelnen Wörtern. Er sprach zunächst in Hauptwörtern, die er oft wiederholte. Seinen Wortschatz konnte er schrittweise weiter ausbauen. Nach und nach konnte er aus einem Ein-Wort-Satz Mehr-Wort-Sätze bilden. Seinen Wortschatz und seine Ausdrucksfähigkeit konnte er im zweiten Betreuungsjahr immer weiter entwickeln. Buchstaben und Zahlen lernte er erkennen. Im Alter von sieben Jahren lernte er zu zählen. Mit acht konnte er lautierend lesen und schreiben. Er lernte alltagspraktische Tätigkeiten selbständig zu verrichteten und Fahrrad ohne Stützräder zu fahren. Simons sensorische Interessen lassen eine Besonderheit erkennen, so erzählte er mit Begeisterung, dass sein Plastikspielzeughandy nach Schokolode schmeckt. Sich in Gruppen zurecht zu finden, ist für Simon bis heute ein Problem. Das zeigte sich auch in der Sonderschule, in die er aufgrund seines geistigen Entwicklungszustands gekommen war. Sein Sozialverhalten und seine ‘merkwürdigen’ stereotypen Aktivitäten machten ihn hier zu einem Außenseiter, der vom Unterricht oft ausgeschlossen wurde. Die Klassenlehrerin, die stets an Simons Integration im Klassenverband interessiert war, wusste nicht, wie ihr dieses gelingen könnte. Auch durch die schulischen Rahmenbedingungen war sie überfordert, ihm den für ihn angemessenen Raum und die Zeit zu geben, damit dieses Vorhaben hätte umgesetzt werden können. Die Verweigerung der Schule, Simon einen Schulhelfer zu gewähren, der die Integration in der Klasse hätte regulieren können, führte schließlich dazu, dass die Schule in einer Konferenz den Ausschluss aus der Schule beschloss. Heute besucht Simon ein Projekt der Einzelbeschulung. Diese erneute ‘Eins zu Eins Situation’ sei nach Berichten der Lehrerin unproblematisch und ermögliche Simon, die ihm gestellten Aufgaben gut zu lösen. Die Lehrerin und die Kindeseltern sind nunmehr auf der Suche nach einer Schule, die bereit ist ihn aufzunehmen. Abschließend ist zu sagen, dass Simon trotz aller Schwierigkeiten stets neue Entwicklungsschritte macht.
Dimitrios Kalaitzidis, M. A. in Philosophie und Public Health, ist Sozialarbeiter/Sozialpädagoge und psychoanalytischer Paar-, Familien- und Sozialtherapeut. Er war als Leiter des sozialpädagogischen Trägers ‚Sonne' GmbH in Berlin tätig sein Schwerpunkt lag auf Entwicklungsstörungen in der frühen Kindheit. Heute ist er Lehrbeauftragter an der Universität Aalborg in Dänemark und hat bereits eine Publikation zum Thema Sprache und Gewalt veröffentlicht. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Phänomenologie, Ontologie, Kulturwissenschaft und Psychoanalyse, sowie psychoanalytische Sozialpsychologie.
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