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- Individuelle Migrationsentscheidungen und ihre Determinanten am Beispiel von Swerdlowsk 1945-1991. Soziale Netzwerke und ihre Wirkung vor dem Hintergrund anderer Migrationsfaktoren
Gesellschaft / Kultur
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Verlag:
disserta Verlag
Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH
Hermannstal 119 k, D-22119 Hamburg
E-Mail: info@diplomica.de
Erscheinungsdatum: 09.2016
AuflagenNr.: 1
Seiten: 260
Abb.: 51
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback
Das Ziel der vorliegenden Studie besteht darin, einen kleinen Beitrag für die weitere Entwicklung der Migrationsforschung zu leisten, indem eine Erweiterung des theoretischen Modells einer Wanderungsentscheidung sowie eine tiefergehende Analyse der individuellen Migrationsentscheidungen und ihrer Einflussfaktoren angestrebt werden. Dabei wird ein Erklärungsmodell entwickelt, welches das klassische rationale Migrationsentscheidungsmodell um eine weitere (Vor-)Stufe und eine psychologische Komponente ergänzt. Es soll herausgearbeitet werden, wie ein Entscheidungsmechanismus im Rahmen einer regionalen Wanderung aussieht und welche Faktoren diese Entscheidung beeinflussen. Bei der Faktorenanalyse richtet sich der Fokus insbesondere auf die Wirkung von sozialen Netzwerken vor dem Hintergrund anderer (individueller) Faktoren.
Textprobe: Kapitel 3.1: Soziologische und psychologische Aspekte einer Wanderungsentscheidung: 3.1.1 Migrationsentscheidung im Rahmen des Rational-Choice-Ansatzes unter Berücksichtigung von Habits und Frames: Rational-Choice-Theorie ist ein viel diskutierter und kritisierter Ansatz innerhalb von vielen Disziplinen. Auch in den Sozialwissenschaften wurden Rational-Choice-Ansätze häufig kritisiert mit dem Hinweis, sie setzten ein rational denkendes und perfekt informiertes Individuum voraus, und daher traditionales oder habituelles Denken sowie Phänomene der nicht-logischen oder affektkontrollierten Handlungen nicht erfassen könnten. In einem soziologischen Beitrag von Esser (1990) werden die Fragen der Reichweite und der Brauchbarkeit einer Rational-Choice-Theorie ausführlich diskutiert. Das Ziel seines Beitrags war die Untersuchung der Einwände gegen die RC-Erklärungen. Insbesondere wird dabei auf die Problematiken der bounded rationality und der sog. Frames und Habits als scheinbare Anomalien des RC-Modells eingegangen. In seiner Darstellung zeigt Esser wie diese Anomalien in das Grundmodell der rationalen Wahl erfolgreich eingebaut werden könnten. Bei einer Wanderungsentscheidung handelt es sich um soziales Handeln, welches sich von sonstigem menschlichen Handeln theoretisch nicht unterscheidet. Den Prozess einer Handlungswahl zerlegt Esser in Anlehnung an Lindenberg (1989) in 3 Phasen: Kognition der Situation, die Evaluation der möglichen Konsequenzen einer Handlung und die Selektion einer Handlungsoption nach einer bestimmten Regel. Während der ersten Phase, der Kognition, werden Situationsumstände analysiert, Assoziationen aktiviert und Alltagstheorien aktualisiert. Dabei können bestimmte Verhaltensschemata ausgelöst werden, bevor es überhaupt zu einer weiteren Evaluation der Situation und der möglichen Konsequenzen kommt. Die kognitive Forschung konzentriert sich in der Regel auf diese Entscheidungsphase und das zu Recht, so Esser, solange keine anderen Umstände die Entscheidungssituation beeinflussen. Wenn man davon ausgeht, dass eine Wanderungsentscheidung (in der Regel) keine Routine-Handlung ist, kann sie auch durch kein schematisches Verhalten ausgelöst werden. Zunächst muss sie in das vorhandene Handlungsrepertoire eines Individuums aufgenommen werden. Während der zweiten Phase, der Evaluation, wird Wanderung als Handlungsoption vor dem Hintergrund anderer Alternativen im Hinblick auf eigene Präferenzen und subjektive Wahrscheinlichkeiten bewertet. Es wird geprüft, welche Handlung welche Konsequenzen nach sich ziehen könnte. In dieser Phase findet für jede Handlungsalternative eine Bewertung statt, in dem die sog. SEU-Werte kalkuliert werden: für jedes in Frage kommende Ergebnis wird ein Produkt von subjektiver Wahrscheinlichkeit und seinem Nutzen bzw. Kosten gebildet und über alle erfassten Konsequenzen addiert. Das ergibt den SEU-Wert für jede Alternative. Für die dritte Phase der Entscheidung, die Selektion, wird in der klassischen Rational-Choice-Theorie das Kriterium der Nutzenmaximierung vorausgesetzt. Es werden die SEU-Werte aller Handlungsalternativen verglichen, wobei schließlich die Alternative mit dem höchsten Wert der subjektiven Nutzenerwartung gewählt wird. Die Vorzüge dieses Modell liegen in seiner Einfachheit, Anschlussfähigkeit und Vollständigkeit: es gibt nur wenige Grundelemente und diese erlauben einen Anschluss an die ökonomischen, soziologischen und psychologischen Handlungsansätze und wurden bereits auf viele verschiedene Phänomene angewandt (abweichendes Verhalten, soziale Bewegungen, Migration, etc.). Die Aufteilung der Handlungswahl in 3 Phasen zwingt außerdem dazu, den Entscheidungsprozess systematisch und vollständig zu erfassen. Die RC-Erklärungsperspektive stößt jedoch vor allem in zwei Punkten auf Kritik: Erstens folgen menschliche Handlungen so gut wie nie der Maximierungsregel, weil Menschen niemals vollkommen informiert sind und ihre Kapazität Informationen zu verarbeiten begrenzt ist. Die sog. bounded rationality, die teils durch situationsunabhängige Reaktionen, teils durch unreflektiertes Handeln (Habit) zum Ausdruck kommt, ist ein Argument gegen die Annahme eines kalkulierenden und rationalen homo oeconmicus. Der zweite Kritikpunkt entstammt der sog. interpretativen Soziologie. Er besagt, dass menschliches Handeln nicht auf fixen Präferenzen oder stabilen Erwartungen beruht, sondern dass diese Präferenzen und Erwartungen in jeder Situation überdacht und neu definiert werden. Die Definition der Situation geschieht vor dem Hintergrund von Erfahrungen in anderen (ähnlichen) Situationen. Die sichtbaren Situationsmerkmale und deren Bedeutung (symbolische Verweise) erzeugen einen Frame (Relevanzrahmen) darüber, was der Sinn der jeweiligen Situation für die Beteiligten sei. Die genannten Einwände über die Existenz von bounded rationality und Phänomenen wie Habits und Frames dürfen nicht ignoriert werden. Jedoch müssen sie nicht zwingend auf eine prinzipielle Unzulänglichkeit des Rational-Choice-Ansatzes hinweisen. Esser schlägt vor, Habits und Frames als Spezialfälle und Vertiefungen der Rational-Choice-Theorie zu sehen. Außerdem weist er darauf hin, dass die geschilderten Einwände selbst keine theoretische Grundlage, sondern nur eine phänomenologische Evidenz besitzen. Das Auftreten von solchen Phänomenen könnte im Rahmen einer Theorie der rationalen Wahl erklärt werden, ohne den Kern dieser Theorie zu sprengen. Das Konzept des Habits stellt die Theorie der rationalen Wahl wie kaum ein anderes in Frage. Habits stehen für die Gesamtheit von aufeinander folgenden Reaktionen, die durch bestimmte Reize ausgelöst werden. Es handelt sich dabei eher um unreflektierte Reaktionen ohne eine sichtbare Ziel-Mittel-Kalkulation. Eine spezielle Form von Habits stellen Muster kognitiver Repräsentation dar: Schemata oder Skripte. Dabei handelt es sich um integrierte, stark vereinfachte Wissensstrukturen, die dem Akteur eine leichte Situationsorientierung erlauben. Schemata und Skripte sind an Zeichen, Symbole und Benennungen gebunden. Bestimmte Symbole können unmittelbar bestimmte Skripte und diese dann die Ausführung bestimmter automatisch erscheinender Reaktionsbündel auslösen. Bereits Max Weber hat das traditionelle Handeln als einen eigenen Handlungstyp unterschieden. Er beschreibt es als ein dumpfes, in der Richtung der einmal eingelebten Einstellung ablaufendes Reagieren auf gewohnte Reize. Die Masse alles eingelebten Alltags nähert sich diesem Typus. Das Konzept des Befehls zeigt wie im traditionellen Handlungsmodell nicht weiter reflektierte Handlungen ausgelöst werden können. Befehle stehen in diesem Fall für markante symbolische Zeichen und provozieren stark strukturierte Skripte mit fest eingeübten Habits. Das von Alfred Schütz entwickelte Konzept der Lebenswelt beruht ausdrücklich auf typisierenden Wissensstrukturen. Mit Hilfe von Rezepten zur Bewältigung der Alltagssituationen kann die ganze Komplexität des Lebens ausgeblendet werden. Damit entlastet das Individuum seinen Alltag. Erst wenn die eigenen Wissensstrukturen und das vorhandene Verhaltensrepertoire auf die neue Situation nicht angewendet werden können, wird eine Kalkulation des Handelns erforderlich. Auch wenn die Grundidee der Skripts und Habits sehr plausibel erscheint, weist Esser (1990) darauf hin, dass auch dieses Konzept einer theoretischen Grundlage bedarf. Nachdem lerntheoretische Interpretationen menschlichen Handelns auf Kritik gestoßen waren, erscheint eine intentionale Erklärung zweckmäßiger. Die Grundidee ist, dass Akteure gute Gründe haben, warum sie sich für die Anwendung von Rezepten entscheiden, und auf eine rationale Kalkulation verzichten. Es können mindestens 3 Gründe genannt werden, warum sich Rezepte für alltägliche Entscheidungen besonders eignen: sie sind (meist) unaufwendig, relativ effizient und, was ganz wichtig ist, sie finden eine zusätzliche normative Stütze. Rezepte sind kognitiv leicht verfügbar und deshalb können ihre Informations- und Entscheidungskosten niedrig gehalten werden. Da sie in der Regel in einem weiteren institutionellen Zusammenhang organisiert sind, gibt es eine hohe Verlässlichkeit bezüglich der Abstimmung eigener und fremder Handlungen in einer konkreten Situation und dadurch eine klare Senkung der Transaktionskosten. Ihre Effizienz hängt vor allem mit ihrer Institutionalisierung zusammen, welche ihrerseits normativ gestützt ist. Der Akteur kann von einer Stabilität der Situationsbedingungen ausgehen und sich darauf verlassen, dass die guten Gründe für die Routine-Handlung nicht bedacht werden müssen. Im Gegensatz zu einer lerntheoretischen Interpretation von Habits und Rezepten weist eine intentionale Erklärung sichtbare Parallelen zum Rational-Choice-Ansatz auf: Zunächst erfolgt immer eine Kognition der Situationsmerkmale, dann eine (rasche und reflexartig ablaufende) Evaluation der möglichen Konsequenzen und schließlich die Selektion nach dem Kriterium der guten Gründe . Das theoretische Problem des Verhältnisses von habituellem und rationalem Handeln wurde bereits 1973 von Riker und Ordeshook in einem RC-Modell angesprochen. Es wird dabei statt Maximizing-von der Satisficing-These ausgegangen, wo-nach ein Individuum nur begrenzte Fähigkeiten zur Informationsverarbeitung aufweist und die Selektion seiner Handlungen entsprechend dann abbricht, wenn eine hinreichend befriedigende, und nicht unbedingt die optimale, Lösung gefunden wird. Bei näherer Betrachtung erkennt man, dass Satisficing eine rationale Selektionsregel ist. Riker und Ordeshook nehmen eine Präzisierung der Entscheidungen unter der Satisficing-Regel vor: Während der ersten Phase, der Kognition, wird zunächst der Typ der Situation identifiziert, wonach entschieden wird, ob man nach Maßgabe der erkennbaren Situationsmerkmale und Symbole das traditionelle Handlungsset beibehalten kann oder nicht. Wenn die Entscheidung zu-gunsten der Beibehaltung fällt, erfolgt eine automatische Wahl einer Handlung für vergleichbare Fälle. Anderenfalls werden nach weiteren Informationen eine sorgfältige Kalkulation der Folgen und eine abwägende Selektion eine Handlung vorgenommen. Offen bleibt jedoch die Frage wann ein Akteur von der Satisficing-Regel abweicht. Die Selektionsregel der RC-Theorie besagt, dass Personen bei der Routine bleiben je geringer der Nutzen aus der (neuen) Alternative ist, je höher die Kosten der Informationsbeschaffung und der Entscheidungsfindung sind und je geringer die Wahrscheinlichkeit ist, eine bessere Alternative zu finden. Je höher die Sicherheit einer neuen besseren Alternative erscheint, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass die so oft festgestellte Persistenz gegenüber dem Wandel von Habits aufgegeben wird. Auch bei Heiner (1983) findet sich eine Erklärung, unter welchen Umständen der Akteur sein Handlungsrepertoire erweitert. Er geht von zwei Arten der Unsicherheit aus: Die erste Unsicherheit bezieht sich auf die Situationsmerkmale, die zweite auf den Akteur. Die Seltenheit bzw. die Häufigkeit der gegebenen Umgebungssituation bestimmt, wie wahrscheinlich es ist, dass eine bessere Alternative in das vorhandene Handlungsrepertoire aufgenommen wird: je seltener die Situation, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit für die Aufnahme dieser neuen Alternative in das bestehende Handlungsset und vice versa. Die zweite Unsicherheit betrifft den Akteur, welcher sich für oder gegen die bessere Alternative entscheiden kann. Dabei ist der Grad seiner Unsicherheit von seinen persönlichen perceptual abilities und dem Komplexitätsgrad der Umgebung abhängig. Wann die perception eines Akteurs so ansteigt, dass er neue Alternativen in Betracht zieht, erklärt Heiner so: Damit der Akteur von seinem habitualisierten Handeln abweicht und eine bessere Alternative ernsthaft erwägt (Evaluation), müssen die erwarteten Gewinne aus der alternativen besseren Handlung schneller zunehmen als die befürchteten Verluste aus einer falschen habitualisierten Handlung. In Anlehnung an die gängige SEU-Modellierung werden präzise Bedingungen formuliert, aus denen folgt, dass je kompetenter der Akteur und je durchschaubarer die Umwelt, umso eher werden neue alternative Handlungen erwogen. Dabei wird eine Alternative dann erwogen, wenn die Toleranzschwelle gegenüber der gegebenen Situation sinkt. Entscheidend ist aber der korrekte Umgang mit der neuen Alternative: bei der Aussicht auf kleine Gewinne steigt die Aufmerksamkeit (perception) kaum. Ähnlich verhält es sich bei überschaubaren Verlusten im Falle einer falschen habitualisierten Handlung. Die Wahrscheinlichkeit, dass die neue Handlung in der gegebenen Situation überhaupt die bessere Alternative (p(e)) ist, sinkt rasch mit dem zunehmenden Toleranzwert, wodurch jede weitere Kalkulation neuer Möglichkeiten verhindert wird. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Habits in die Theorie der rationalen Wahl erfolgreich integriert werden können. Es zeigt sich, dass jede Wahrnehmung von seltenen bzw. die eigenen Fähigkeiten überschreitenden Handlungsoptionen irrational wäre. Anders formuliert bedeutet es, dass die Maximierungshypothese von vorn herein gegen die Regeln der Rationalität verstoßen würde und deshalb nicht haltbar ist. Außerdem wird deutlich, von welchen seltenen Bedingungen es abhängt, dass eine neue, bisher im eigenen Handlungsrepertoire nicht vorhandene Handlungsalternativen in Betracht gezogen werden.
Angela Haas, geboren 1977 in Kasachstan, machte ihren Universitätsabschluss in Soziologie (HF), Politikwissenschaft und Rechtswissenschaft (NF) an der Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg. Nach dem Abschluss war sie von 2004 bis 2007 als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Ruprecht-Karls-Universität und in der Evaluationsagentur Baden-Württemberg tätig. Nach ihrer Beschäftigung bei der Mannheim Business School arbeitete sie als assoziierte Promotionsdoktorandin an dem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierten Projekt Migration im Land-Stadt-Kontinuum Russlands im 20. Jahrhundert – Steuerbarkeit, Adaptivität und Bewältigungsstrategien mit. Im Januar 2016 schloss sie ihre Promotion im Fach Soziologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg erfolgreich ab.
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