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- Hauptdarsteller Hilfsausdruck: Wolf Haas‘ Brenner-Romane - Wenn der Erzähler seinen Figuren die Show stiehlt
Gesellschaft / Kultur
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Verlag:
disserta Verlag
Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH
Hermannstal 119 k, D-22119 Hamburg
E-Mail: info@diplomica.de
Erscheinungsdatum: 02.2015
AuflagenNr.: 1
Seiten: 124
Abb.: 16
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback
Dieser Beitrag beschäftigt sich umfassend mit der Erzähltechnik der Brenner -Romane von Wolf Haas. Diese werden mit dem Instrumentarium einer auf Gérard Genette basierenden Systematik erzähltheoretisch analysiert. Auffallend ist dabei der omni- und überpräsente Erzähler im Zentrum der Erzählung, der sich und sein Erzählen oft der Handlung überordnet. Erst nur beobachtend, greift er später ins Geschehen ein, stirbt und steht wieder auf, womit die klare Unterscheidbarkeit zwischen homo-, hetero- und autodiegetischem Erzählen verneint und die für einen Erzähltext zwingende Trennung zwischen histoire und discours überwunden wird. Die Ubiquität des Erzählers und seine Allwissenheit sind unüblich für die Kriminalliteratur, ein maßvoller Umgang mit diesem Wissen untergräbt die Spannungserwartung jedoch nicht. Die Studie macht deutlich, dass die Verbindung zwischen Erzählung und Erzähltem stark fluktuiert: Sowohl die Kategorien Zeit, Modus als auch Stimme sind von großer Dynamik gekennzeichnet. Der Erzähler stellt sich nicht nur als äußerst präsent dar, sondern nimmt in seiner Wandelbarkeit auch außergewöhnlich starken Einfluss auf die Wirkung des Geschehens beim Publikum. Er ist ein geschickter Manipulator.
Textprobe: Kapitel 4.2.1.2, Distanzvariation durch Tempowechsel: Die Distanz lässt sich prinzipiell variieren durch die Wahl zwischen dramatischer oder narrativer Darstellung bei Worten bzw. illustrativer oder verkürzender bei Ereignissen. Ein Instrument hierbei ist auch das Erzähltempo. Klar zu taxieren, da relativ eng gebunden an die Echtzeit eines Geschehnisses, ist dieses bei der wörtlichen Rede: Hier stimmen die Dauer der Erzählung und die des Geschehens annähernd überein. Bei diesem zeitdeckenden [oder auch szenischen] Erzählen ist der Abstand zwischen Zuhörer bzw. Leser und Erzähltem ein geringer, die durative Gleichschaltung sorgt für ein paralleles Erleben. Mit einer Raffung, also beim summarischen Erzählen, geht die Möglichkeit des echtzeitigen Erlebens für den Rezipienten verloren. Ein innerhalb der Brenner -Reihe extremes Beispiel gibt der Erzähler, als er Brenners unentschlossenes Agieren nach dem Schlaganfall des ehemaligen Kollegen Aschenbrenner beschreibt, wie dieser nach Zeugen unter den Bettlern sucht: Die ersten Tage hat er sich nicht recht getraut, und er hat sie zuerst einmal nur beobachtet, da ist der Brenner gewandert von Zigeuner zu Zigeuner, Wanderlust nichts dagegen. (DeL 81) Mehrere Tage der Handlung werden also in wenigen Lesesekunden erzählt. Eine detailliertere, wenn auch nicht zeitdeckende Darstellungsweise erschiene nur dann sinnvoll, wenn in diesen Tagen, in denen auf der Ebene der äußeren Handlung nichts Relevantes passiert, ein psychischer Prozess von großer Wichtigkeit abliefe, den man abbilden muss . Gerafft wird also immer dort, wo nichts Wichtiges passiert. Eine andere Erzählerdoktrin wäre – trotz der vielen Exkurse, die in jedem Fall einen Unterhaltungswert haben, wenngleich sie die Handlung nicht vorantreiben – ineffizient. Dies reflektiert indirekt ein Erzählerkommentar nach der Darstellung von Brenners Überlegungen beim solitären Tischfußballspiel im Keller des Marianums: Uh, da hat der Brenner viele Bälle ins Tor schießen müssen, bis er sich das so schön auseinandergeklaubt hat, wie ich es dir da erzähle. (Sil 183) Der Leser hat durch diese Darstellungsform eine Position inne, die eine temporale Übersicht mit sich bringt: Zeitabstände werden unschärfer, quasi kleiner. Die Distanz zwischen Leser und Geschehen vergrößert sich auf ein Maximum. Ein höheres Erzähltempo muss aber nicht immer mit einer wenig berührenden Übersicht einhergehen. Es kann statt einer Raffung, die ein Streichen impliziert, auch eine Straffung und damit eine Verdichtung bewirken: Weil siebenundsiebzig Stunden nach dem Verschwinden der Helena hat er den Milan beauftragt, und achtundsiebzig Stunden nach dem Verschwinden der Helena hat er schon zwei Liter durchsichtigen Schrebergartenkaffe im Magen […] gehabt, aber eben auch die Erklärung warum der Knoll diese Hütte gekauft hat. […]. Achtzig Stunden nach dem Verschwinden der Helena hat sich der Brenner in einer Apotheke Kopfwehtabletten gekauft, und sobald es wieder ein bisschen gegangen ist, hat er keine einundachtzig Stunden nach dem Verschwinden der Helena mit verstellter Stimme beim Kressdorf angerufen […]. (BlG 147/148). Durch die konsequente zeitliche Orientierung am Nullpunkt der Detektivgeschichte, dem Verschwinden der kleinen Helena, die zwar im ganzen Roman, aber in auffallender Häufung innerhalb dieses Kapitels zu finden ist, unterstreicht der Erzähler die Entschlossenheit des Detektivs, der – ähnlich der Startprozedur bei einer Weltalloperation – seriell seine Aufgaben abarbeitet. Er setzt somit in Textgestalt fort, was er zu Kapiteleingang auf Inhaltsebene mitteilt: Brenner erledigt in kurzer Zeit viel Ermittlungsarbeit. Hinzu kommt, dass der Erzähler sich mit Kommentaren zurückhält, den Eindruck des flotten Arbeitens seiner Figur beim Leser also auch nicht stören möchte. Für den Rezipienten wird durch die Beschleunigung des Erzähltempos die Handlungsgeschwindigkeit greifbarer, die Distanz verkürzt sich. Den gleichen Effekt mit ähnlichen Mitteln erzielt der Text bei der Transformation der gewaltsamen Reise Brenners zur Kressdorfschen Almhütte: Und jetzt geht es schon steil bergauf, und das sind jetzt schon die Serpentinen, und das muss jetzt schon die Schotterstraße sein, und das, wo sie mich jetzt so brutal aus dem Kofferraum reißen […], und wo ich mit meinem Angstschweiß die herrliche Luft verpeste und wo meine Zähne ins würzige Gras beißen […], und das müsste jetzt, wenn mich nicht alles täuscht, die Hüttentür sein, die der schnaufende Grobian mit seinen fürchterlichen Nikotinfingern aufsperrt, mit denen er mir gerade noch den Schmerzensschrei in die Kehle zurückgestopft hat. (BlG 175). Wenn auch nicht durch Zeichen markiert, so handelt es sich doch klar um direkte Figurenrede. Die bedient sich vornehmlich der Parataxe, wodurch ein Gefühl der schnellen Reihung verstärkt wird und damit die Empfindung der Figur, die zum einen das Tempo des Autos spürt und sich in einer Stresssituation befindet. Hinzu kommt die Länge des ununterbrochenen Satz von einer halben Buchseite, die die Rastlosigkeit erlebbar macht. Wenn auch die Figur hier selbst spricht bzw. denkt (vermutlich liegt auch hier eine Übersetzung einer abstrakten Gedankensprache in die konkrete mittels Zeichen vor), so verkürzt sie doch wie der Erzähler beim Beispiel zuvor. Vom steilen Anstieg zu den Serpentinen und von dort auf die Schotterstraße etc. vergeht sicher mehr Zeit als das Lesen der Zeilen bedarf. Der Erzähler greift hier aber nicht als Bindeglied zwischen verschiedenen zeitdeckenden Wiedergaben von Gedanken ein, sondern überlässt das Erzählen der Figur. Möglicherweise wird auch dadurch die Distanz kleingehalten.
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