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Gesellschaft / Kultur


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Produktart: Buch
Verlag:
disserta Verlag
Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH
Hermannstal 119 k, D-22119 Hamburg
E-Mail: info@diplomica.de
Erscheinungsdatum: 06.2013
AuflagenNr.: 1
Seiten: 172
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback

Inhalt

Haben Mädchen tatsächlich mehr Mühe mit Mathematik? Vieles scheint dafür zu sprechen: Mädchen schneiden in mathematischen Leistungstests schwächer ab als Jungen. Im Jugendalter belegen sie seltener mathematisch-naturwissenschaftliche Fächer. Als Erwachsene entscheiden sie sich noch seltener für ein entsprechendes Studium und werden besonders selten Mathematikprofessorinnen. Unter den großen Namen der Mathematikgeschichte sind sie bis heute kaum vertreten. Doch viele Studien nähren auch Zweifel. Demnach gibt es andere wichtige Faktoren als das biologische Geschlecht, die sich auf Interesse, Motivation und Leistung von Jungen und Mädchen unterschiedlich auswirken. Erscheint die Beschäftigung mit Mathematik aus weiblicher Sicht etwa weniger lohnend als aus männlicher Perspektive? Von den Antworten hängt nicht weniger ab als die Qualität von Erziehung und Lehre, die den Auftrag haben, jedem Kind und Jugendlichen gerecht zu werden – ganz gleich welchen Geschlechts. Diese Studie sichtet die Ergebnisse der Geschlechterforschung und wertet sie im Hinblick auf das Feld des Mathematischen aus. Dabei geht es nicht nur um die Überprüfung gängiger Vorurteile anhand aktueller Forschungsbefunde, sondern letzten Endes um die Frage, wie es gelingen kann, dass Mädchen und Jungen ähnlich gerne und mit ähnlichem Erfolg Mathematik lernen.

Leseprobe

Textprobe: Kapitel II.1.2, Lernschwierigkeiten und Rechenschwäche: Schwächere Leistungen von Mädchen werden auch vom unteren Leistungsrand berichtet. Mädchen scheinen häufiger als Jungen Schwierigkeiten mit dem Erwerb mathematischer Fertigkeiten in der Grundschule zu haben. Stern (1998) berichtet aus den Ergebnissen einer Längsschnittstudie, die unter anderem die mathematischen Lernfortschritte von Kindern vom Vorschulalter bis zur weiterführenden Schule erfassen sollte, dass durchgehend über den gesamten Zeitraum weniger Mädchen als Jungen im oberen Leistungsdrittel vertreten waren, wogegen ihr Anteil im unteren Leistungsdrittel höher war. Im mittleren Drittel war das Verhältnis in etwa ausgeglichen (Stern 1998: 108 f.). Klauer (1992) untersuchte das Vorkommen von mathematischen Teilleistungsschwächen an einer repräsentativen Studie mit über 500 Aachener Drittklässlerinnen und Drittklässlern. Er fand vor allem signifikante Unterschiede zwischen verschiedenen diagnostischen Kriterien - Mathematiknote und Test. Wurde der mathematische Test zugrunde gelegt, ergab sich nur ein geringfügig höherer, nicht signifikanter, Anteil von Mädchen mit Teilleistungsschwäche in Mathematik. Mit der Mathematiknote als Maßstab wurde das Verhältnis allerdings deutlicher zu Ungunsten der Mädchen verschoben: Von 264 Mädchen galten 5.7 % als teilleistungsschwach in Mathematik (nach Kriterium Test nur 5.3 %), von 282 Jungen wiesen die Mathematiknoten nur 2.1 % als teilleistungsschwach in Mathematik aus (Kriterium Test: 3.5 %). Wenngleich diese Zahlen gleichfalls eine Tendenz anzudeuten scheinen, dass mehr Mädchen als Jungen in Mathematik schwache Leistungen zeigen, ist bei ihrer Bewertung Vorsicht geboten. Die Erfassung von Teilleistungsschwächen bezieht sich auf Leistungen, die (in Mathematik oder anderen Bereichen, z.B. Lesen und Rechtschreiben) im Verhältnis zu sonstigen Schulleistungen zu schlecht ausfallen. Klauers Befunde lassen sich nicht in der Weise verstehen, dass Mädchen im Durchschnitt schlechter abschneiden oder im unteren Leistungsbereich stärker vertreten sind! In seiner Arbeit wurde vor allem eine Diskrepanz zwischen ‘objektiven’ (Test) und ‘subjektiven’ Leistungskriterien (Schulnote) nachgewiesen. In zweiter Hinsicht wurde eine Tendenz festgestellt, dass Mädchen häufiger als Jungen zu erwartungswidrig niedrigen Leistungen in Mathematik neigen (zur Problematik der Teilleistungsschwächen siehe Klauer 1992: 48 ff. Lorenz 1990: 75-94. Zur Theorie der Rechenschwäche siehe Lobeck 1996 Schulz 1995). Diese Neigung war in dem untersuchten Fall jedoch objektiv geringer als es die Sicht der Lehrer (ausgedrückt durch die Noten) vermuten ließ. Die Literatur gibt nur sehr wenige Anhaltspunkte für Geschlechtsunterschiede im unteren Leistungsbereich her (außer bei Klauer (1992) fand sich nur bei Neumärker (2001) ein Hinweis auf unterschiedliche Häufigkeit von Rechenstörungen bei Jungen und Mädchen. Dieser bestätigt die vermutete Tendenz). Um diese Lücke zu füllen, befragte ich für diese Arbeit 39 lerntherapeutische Privatinstitute in ganz Deutschland, in denen rechenschwache Kinder behandelt werden, zum Geschlechterverhältnis ihrer Klientel. Alle 39 Institute sind auf die lerntherapeutische Behandlung von Rechenschwäche spezialisiert und bieten andere lerntherapeutische Leistungen nicht an. Ihre Dienste sind sehr kostspielig und können von vielen Eltern nur in Anspruch genommen werden, weil der Gesetzgeber in bestimmten Fällen eine Kostenerstattung vorsieht. Das hat zur Folge, dass diese Einrichtungen typischerweise mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, bei denen sonstige Fördermaßnahmen (Nachhilfeunterricht, schulische Sonderförderung) nicht geholfen haben und die deshalb an der schulischen Mathematik zu scheitern drohen. Bei diesen Kindern handelt es sich also tatsächlich um einen Ausschnitt des unteren Leistungsrandes in Mathematik, wobei in meiner Erhebung nicht unterschieden wird, ob sie generell leistungsschwach sind, oder ihre Schwäche speziell im mathematischen Bereich liegt. Inwieweit die Klientel dieser Institute einen repräsentativen Ausschnitt der Grundschulkinder mit Rechenschwäche darstellt oder nicht, konnte nicht festgestellt werden. Die Untersuchung erfasste insgesamt 855 Kinder der Grundschulklassen 1-4 an 18 Instituten. Von diesen 18 Instituten (die anderen machten keine Angaben zum Geschlechterverhältnis) hatte kein einziges mehr Jungen als Mädchen in Behandlung. Die Angaben lagen zwischen 57 % und 87 % Mädchenanteil, mit einer Häufung um die 70 %. Von insgesamt erfassten 855 Kindern waren 594 Mädchen, was einem Anteil von 69,5 % entspricht. Von mehreren Instituten sowie von Mitarbeitern eines Arbeitskreises für Dyskalkulietherapie wurde bestätigt, dass dieses Geschlechterverhältnis (‘2 Drittel : 1 Drittel’) seit Jahren konstant ist. Zur Einschränkung muss noch einmal unterstrichen werden, dass Faktoren, die neben der Rechenschwäche zur Inanspruchnahme der Leistungen dieser Institute führen, nicht erhoben werden konnten auch ist weder die Auswahl der Institute noch die der Kinder repräsentativ. Ein empirisch starker Beleg, dass Mädchen am unteren Leistungsrand generell stärker vertreten sind, konnte also nicht erbracht werden. Es fällt jedoch auf, dass das Ergebnis dieser Umfrage klar die Tendenz widerspiegelt, die den Grundkonsens der meisten Untersuchungen zu Geschlechtsunterschieden in Mathematik ausmacht: Mädchen weisen schwächere Untersuchungsergebnisse auf. Alleine dieser offensichtliche Einklang erhöht den allgemeinen Erklärungsbedarf. Für den Untersuchungsbereich ‘Geschlechtsunterschiede im Bereich Rechenschwäche’ ergibt sich die Notwendigkeit weiterer, möglichst repräsentativer, Untersuchungen. Das Problem der Rechenschwäche wird, nach meiner Kenntnis der Literatur, bislang nicht in einem theoretischen Zusammenhang mit der Problematik genereller geschlechtsabhängiger Minderleistung in Mathematik behandelt. Die Forschung bewegt sich weitgehend innerhalb der Grenzen der Erforschung von Teilleistungsschwächen, d.h. es wird ein Schwerpunkt auf Leistungen gelegt, die erwartungswidrig gering ausfallen. Damit hat sich die Dyskalkulieforschung (d. i. die Erforschung von Teilleistungsschwächen im mathematischen Denken) im wesentlichen an die längere Tradition der Legasthenieforschung angeschlossen, die ebenfalls ihr Augenmerk auf Kinder richtet, die aus ihrem sonstigen intellektuellen Rahmen fallende Probleme mit Lesen und Rechtschreiben haben. Interessanterweise findet sich aber im Bereich von Lesen und Rechtschreiben ein Geschlechtsbezug analog zu dem, der hier für den mathematischen Bereich untersucht wird, nur unter umgekehrten Vorzeichen: Dort sind offensichtlich die Jungen stärker betroffen. Und zwar werden sie nicht nur häufiger als teilleistungsschwach im Bereich Lesen und Rechtschreiben diagnostiziert, sie zeigen auch in der Schule sowie bei allgemeinen Leistungstests in diesem Bereich die schwächeren Leistungen und gehören höchstwahrscheinlich noch im Erwachsenenalter verbal und schriftsprachlich zum ‘schwächeren’ Geschlecht (Allred 1990 Halpern 1986: 47 Klauer 1992 Richter 1996: 91-108). Es gibt also sowohl in der Lese- und Schreibfähigkeit wie auch im Rechnen eine allgemeine Tendenz zu geschlechtsabhängig ausgeprägten Stärken und Schwächen, die sich sowohl am unteren wie auch am oberen Leistungsrand widerspiegelt. Dieser Befund verleiht der Frage Nachdruck, welche allgemeinen Gründe für die Geschlechtsunterschiede verantwortlich sind - im Gegensatz zu den spezifischen Gründen, die z.B. nur für die Häufung von bestimmten Teilleistungsschwächen verantwortlich gemacht werden, aber nicht für die Häufung bestimmter Stärken, oder für ein ungleiches Geschlechterverhältnis im mittleren Leistungsbereich. Im Übrigen könnte es sowohl für die Dyskalkulie- und Legasthenieforschung wie auch für die Schulpädagogik einen Erkenntnisgewinn bedeuten, wenn die Befunde zu diesen Spezialthemen mit Erkenntnissen aus der allgemeinen Forschung zu Geschlechtsunterschieden abgeglichen würden.

Über den Autor

Ulf Grebe studierte Erziehungswissenschaften, Völkerkunde und Soziologie und hielt sich Jahre lang für einen mathematisch bestenfalls durchschnittlich begabten Menschen, bis ihm berufsbedingt die ersten Menschen mit Rechenschwäche (auch Dyskalkulie genannt) begegneten. Deren Nöte zu begreifen, um sie durch den Dschungel mathematischer Ideen, Begriffe und Symbole geleiten zu können, hat in mehr als zehn Jahren als Lerntherapeut und Fachmann für Rechenschwäche sein mathematisches Koordinatensystem von Grund auf verändert. Und nicht nur das: Unsere Vorstellungen von ‚Begabung‘, ‚Intelligenz‘ und ‚Lernen‘ können nicht einer Wirklichkeit standhalten, in der es intelligente Menschen gibt, die aus eigener Kraft nicht die Bedeutung von Zahlen und Quantitäten zu erschließen vermögen! , sagt Ulf Grebe selbst, der als der Lern- und Musiktherapeut in Köln lebt und arbeitet.

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