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Gesellschaft / Kultur
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Verlag:
disserta Verlag
Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH
Hermannstal 119 k, D-22119 Hamburg
E-Mail: info@diplomica.de
Erscheinungsdatum: 09.2014
AuflagenNr.: 1
Seiten: 196
Abb.: 52
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback
Dass Computerspiele Geschichten erzählen, scheint heute selbstverständlich. Zwischensequenzen, Charaktere, Scripted Events, Dialoge... Spiele bedienen sich in derart großem Maße bei erzählerischen Verfahren, dass sie häufig in eine Reihe mit den narrativen Medien gestellt werden. Tatsächlich jedoch ist sich die Wissenschaft noch nicht darüber einig, ob Computerspiele den Erzählungen zuzurechnen sind. Spiele integrieren zwar erzählerische Elemente in ihre Strukturen, sie sind aber prinzipiell nicht darauf angewiesen. Wie und warum tun sie es trotzdem? Handelt es sich lediglich um Zugeständnisse an die Rezeptionsgewohnheiten oder Immersionsverstärker? Oder ziehen Spiele einen konkreten funktionalen Nutzen aus ihren erzählerischen Bemühungen? Dieser Frage geht die vorliegende Untersuchung nach. Hierzu leistet sie einen umfassenden Einblick in die Erzähl- und Spieltheorie von Aristoteles über Genette, Caillois bis hin zu Bordwell und Aarseth und betrachtet anhand zahlreicher Beispiele die Beziehung, die Games und Geschichten miteinander eingehen. Auf diese Weise bildet sie einen wichtigen Beitrag zum medienwissenschaftlichen Verständnis digitaler Spiele und gibt darüber hinaus zahlreiche Anregungen für die Praxis, um das narrative Potenzial von Spielen besser auszuschöpfen.
Textprobe: Kapitel 3.3, Vorstellung einer Analysemethode: Die bisherigen Ausführungen beschäftigten sich damit, wie Spieler und Spiel im gemeinsamen Prozess zusammenwirken, welche Strukturen an diesem Prozess beteiligt sind, was das Produkt dieses Prozesses ist und wie der Spieler in diesen integriert ist. Es soll hier aber nicht nur darum gehen, den Prozess des Spielens theoretisch zu beschreiben, sondern Methoden zu finden, wie sich spezielle narrative Verfahren und Strategien in Spielen analysieren lassen. Daher bleibt nun die Frage zu klären, wie eine Analyse mit Hilfe des bis hierhin entwickelten Modells durchgeführt werden kann. Auffallend in dieser Hinsicht ist zunächst, dass sich der Diskurs insofern nicht als Analyseobjekt eignet, da er individuell erzeugt wird, nicht reproduzierbar ist und vor dem eigentlichen Spielen nur als Möglichkeit existiert. Frank Degler (2004, 59) lehnt es daher ab, von der ‘Geschichte’ eines Spieles zu sprechen, und schlägt stattdessen den Begriff ‘Narratem’ vor: ‘Das ‚Narratem’ gehört dabei weder ganz auf die Seite der ‚Form’ noch auf die des ‚Stoffs’, sondern ist als ‚Stoff plus die Potenzialität seiner Ausformung’ zu denken. Seine funktionale Stellung ist zwischen ‚Geschichte’ einerseits und ‚Erzählen’ andererseits angesiedelt als ein noch ungesättigter Kern des Handlungsverlaufs, der erst im Vollzug der Interaktion gefüllt wird. Die im Programmcode hinterlegte Geschichte wird durch das jeweilige Spiel zu einer einmaligen Erzählung, indem die Narrateme, aus denen die Geschichte besteht, gesättigt werden.’ (Herv.i.O.) Dieser Aspekt wurde hier als das ‘Problem der Diskursproliferation’ bezeichnet und muss durch das Modell im Folgenden berücksichtigt werden. Für eine Lösung dieses Problems bieten sich mehrere Möglichkeiten an: Erstens könnte der Diskurs individuell und konkret als das Produkt einer realen Partie beschrieben werden. An einem solchen Gegenstand können narrative Strategien diskutiert und Verfahren des Spiels und der Erzählung miteinander verglichen werden. Es ist jedoch zu bezweifeln, ob eine solche Methode der Komplexität und Dynamik eines Spiels gerecht würde. Eine andere Möglichkeit bestünde darin, die Analyse auf die Programmstruktur zu fokussieren und so weniger einen narrativen Diskurs als vielmehr die Algorithmen zu untersuchen, die ihn generieren. Obwohl ein solches Vorgehen mit Sicherheit interessante Ergebnisse liefern würde, möchte ich lieber einen Weg einschlagen, der näher an einer narratologischen Analyse ist. Ob und wie eine solche verwirklicht werden kann, ist Gegenstand dieses Kapitels. Das bis hierher erarbeitete Modell legt diesbezüglich zwei Methoden nahe: eine allgemeine und eine spezielle, wobei die spezielle in der allgemeinen zwar enthalten ist, im Einzelfall die Analyse aber erheblich erleichtert, weswegen sie an dieser Stelle im Detail ausgearbeitet werden soll. Gehen wir für den allgemeinen Fall zunächst vom Extrem aus, d.h. von Spielen, die wenig oder gar keinen Gebrauch von narrativen Verfahren machen. In diesem Fall ist zunächst einmal festzustellen, dass der Spieler zwar zu jedem Diskurs eine Fabel konstruieren kann, dies aber nicht muss: Für eher abstrakte Spiele wie Tetris (SU 1985, Elorg) oder Poker ist es vermutlich kaum angebracht, ein Erzählmodell für die Analyse zugrunde zu legen – auch wenn dies prinzipiell möglich wäre.101 Deutlicher wird das Problem bei Spielen, die über eine ausgeprägte und komplexe Simulationsstruktur verfügen und so ein Geschehen und ein Verhalten erzeugen, das zwar einer Erzählung zum Verwechseln ähnlich sieht, aber nicht deren Merkmale der Determiniertheit, Reproduzierbarkeit und Geschlossenheit aufweist. Jenkins (2004, 128) nennt jene Form von Geschichten, wie sie etwa in The Sims (USA 2000, Maxis) generiert werden, ‘emergent narratives’: ‘Emergent narratives are not prestructured or preprogrammed, taking shape through the game play […] itself.’ Dieser scheinbare gordische Knoten, in den sich narratologische Betrachtungen beim Versuch, ihre Begriffe auf das Computerspiel zu übertragen, regelmäßig verstricken, löst sich durch mein Modell vollständig auf und bildet dessen eigentliche Stärke. Denn aus gutem Grund wurde hier stets vermieden, das Produkt des Spielprozesses eine ‘Erzählung’ zu nennen oder als solche beschreibbar zu machen. Stattdessen wird angenommen, dass das Spiel Elemente verwenden kann, die für sich betrachtet die Eigenschaften eines narrativen device vollständig erfüllen. Als solche sind sie in den Prozess des Spielens eingebettet und manifestieren sich dort in einer Struktur, die eine konkrete Verbindung zu den anderen Strukturen eingeht und durch die Analyse identifiziert und narratologisch beschrieben werden kann. Im Beispiel von The Sims stellt das narrative System Animationen und Grafiken, Soundsamples und Skripts zur Verfügung, die allesamt auf sehr ausgeprägten interaktiven und simulierenden Strukturen aufsetzen. Die Analyse darf daher nie das gameplay als Ganzes narrativ beschreiben oder den Diskurs behandeln, als sei er eine Erzählung, sondern sie muss einzelne Verfahren isolieren und dann ihre Korrelationen zu den anderen Verfahren untersuchen, sowie den Prozess, in den sie eingebunden sind. Dabei ist es nicht von Belang, ob das einzelne device aus einer kompletten Storyline mit zahlreichen Zwischensequenzen besteht oder lediglich aus einer simplen Grafik oder Animation.102 Die Analyse ist ausschließlich an der Funktion interessiert, die das device für den Prozess ausübt, an den Effekten, die es bewirkt, der Motivation, aus der es hervorgeht, und der Struktur, die es in Kombination mit den anderen Verfahren aufspannt. Wie gesehen nehmen die meisten erzähltheoretischen Analysen diese Unterscheidung nicht vor: Stattdessen behandeln sie entweder den gesamten audio-visuellen Diskurs wie eine Erzählung oder sie gliedern das Spiel in einzelne Abschnitte, die dann entsprechend mit den Etiketten ‘interaktiv’ und ‘narrativ’ versehen werden. Ein gutes Beispiel für dieses Missverhältnis in der theoretischen Beschreibung bietet das Spiel Wing Commander (USA 1991, Origin): Hier werden die einzelnen Level, in denen der Spieler ein Raumschiff durch Weltraumkämpfe manövriert, durch aufwändig inszenierte Zwischensequenzen miteinander verknüpft, die zum einen als ‘Belohnung’ fürs erfolgreiche Spielen dienen, zum anderen das Spiel in einzelne Abschnitte gliedern. Aufgrund der Prägnanz dieser Filmszenen wird das Spiel jedoch immer wieder an den ‘Pol des ‚storytelling’’ eingeordnet, was Furtwängler (2001, 378) zu Recht kritisiert: ‘Niemand kann ernsthaft behaupten, Pong sei ‚interaktiver’ organisiert als eine komplexe Raumschlacht der interaktiven Sequenzen von Wing Commander.’ (Herv.i.O.) Für eine Heuristik der Analyse bedeutet dies, dass sie sich niemals auf die narrativen Verfahren versteifen darf und jederzeit den Simulations- und Interaktivitätscharakter der ‘Spielabschnitte” anerkennen muss. Gleichwohl darf sie nicht im Umkehrschluss den Fehler machen, dem ‘Spielabschnitt’ seine narrativen Qualitäten abzusprechen. Denn so etwas wie einen reinen ‘Interaktivitätsabschnitt’ gibt es nicht. Vielmehr wirken in den vermeintlichen Spielabschnitten interaktive, narrative und simulierende Strukturen parallel und müssen dementsprechend kategorisiert und analysiert werden. Beispielsweise sitzen in Wing Commander narrative Verfahren wie Animationen, Funksprüche und scripted events auf simulierenden Elementen wie der Künstlichen Intelligenz der Gegner oder dem Flugverhalten des eigenen Raumschiffs auf. Dennoch kann gerade am Beispiel von Wing Commander beobachtet werden, dass die Geschichte, die in den zahlreichen Zwischensequenzen erzählt wird, ebenso determiniert, reproduzierbar und linear ist wie die einer traditionellen Erzählung, da ihr Erzähltwerden einzig und allein davon abhängt, ob der jeweilige Level in der aktuellen Partie erfolgreich absolviert wurde oder nicht. Insofern muss der mögliche Einwand untersucht werden, ob sich hinter der ‘Erzählung’ eines Spiels nicht schlicht und einfach nur die Gesamtmenge aller Erzählsequenzen bei gleichzeitigem Ausblenden der Interaktivitätsstruktur verbirgt. Dem ist selbstverständlich nicht so: Zwar lassen sich auf diese Weise in der Tat bei manchen Spielen – vor allem jenen, die massiven Gebrauch von narrativen Einspielungen machen, z.B. Adventurespielen – basale Aussagen über die Story, ihre Figuren, deren Absichten und Ziele und gar ganze Handlungsstränge machen, allerdings wäre ein auf diese Weise entstandener Plot viel zu lückenhaft, um für eine Deskription in Betracht zu kommen. Zudem wären bei einer solchen ‘Patchwork-Analyse’ schwerlich Aussagen über kausal-chronologische Zusammenhänge möglich. Und selbstverständlich ließe sie außer Acht, dass in den ‘Spielabschnitten’ jede Menge narrativer Verfahren am Werk sind. Die Überlegung wirft jedoch den Gedanken auf, die Beziehung, welche narrative und interaktive Verfahren im Diskurs miteinander eingehen, nach bestimmten Kriterien der Determiniertheit und der Relevanz zu bewerten, um so die Komplexität des proliferierenden Geschehens zu reduzieren und die Analyse zu vereinfachen. Betrachten wir daher einmal genauer die Verbindung, die interaktive und narrative Elemente im Spiel eingehen und den Spielprozess sich zu einer Struktur verdichten lassen. Claus Pias (2002, 142ff.) greift zu diesem Zweck auf Roland Barthes’ strukturale Erzählanalyse zurück. Diese zerlegt eine Erzählung in partikuläre Segmente, die mit dem hier verwendeten Begriff der devices vergleichbar sind und nach ihrer Funktionalität und Relevanz unterschieden werden. Eine Geschichte, also ein zusammen- hängender Sinn, ergibt sich dann, weil Korrelationen zwischen den einzelnen Segmenten ausgemacht werden können. Die Funktionen unterteilt Barthes (1988, 111ff.) in die Klassen ‘distributionell’ und ‘integrativ’. Die integrativen Elemente werden wiederum in Indizien und Informationen unterschieden. Indizien beziehen sich auf ‘Charakter, Gefühl und Atmosphäre’, Informanten dienen ‘dem Erkennen des Raums und der Orientierung’ (Pias 2002, 144- 145). Jene sind für die vorliegende Untersuchung zunächst von geringerer Bedeutung.
Matthias Grimm wurde 1976 in München geboren. Er studierte Film- und Fernsehwissenschaft, Philosophie und Elektrotechnik an den Universitäten Bochum und Karlsruhe. Bereits während des Studiums wurde er Ressortleiter bei Schnitt - das Filmmagazin und danach Chefredakteur bei Gamona, einer der führenden deutschen Online-Spieleseiten. Weitere Fachbeiträge sowie Artikel von ihm zu den Themen Games, Film und TV erschienen u.a. im Schüren Verlag, The European, 3sat Neues, Tomorrow, Chip, ProSieben.de. Er lebt und arbeitet als Journalist in Berlin.
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